Die Anleitung für das Collective of Collectives Chess (Kollektiv-von-Kollektiven- Schachspiel) für vier Spieler*innen lautet, gemeinsam in der Mitte des Schachbretts in einem Quadrat aus vier mal vier Feldern binnen acht Minuten ein komplettes Schachfigurenset zusammenzustellen. Reihum tragen alle Spielenden zu gleichen Teilen bei, ohne die Notwendigkeit, die Figuren der anderen zu schlagen oder matt zu setzen. Es geht um das Teilen von Raum und um gemeinschaftliches Ausverhandeln, auf welche Weise das Ziel gemeinsam erreicht werden kann. Einem vergleichbaren Prinzip folgt das von rund 40 Personen entwickelte Speculative Collective Board Game, ein komplexes Rollenspiel für vier bis sieben Personen, die als Mitglieder eines Kunstkollektivs agieren. Durch das Bewältigen von Aufgaben können Geldmarken, Wissensmarken, Kollektivmarken oder Bindungspunkte einzeln und kollektiv erworben werden. Am Ende jeder Runde wird das Kollektiv mit einer Herausforderung konfrontiert, die die Kollektivdynamik auf die Probe stellt. Auch hier geht es um Prozesse der Zusammenarbeit, der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen, der Problemlösung und der Entscheidungsfindung in kollektiven Kunstpraxen.
Beide Brettspiele wurden von Gudskul, einer in Jakarta 2018 von drei Kollektiven (ruangrupa1, Serrum und Grafis Huru Hara) gegründeten experimentellen Bildungsplattform, entwickelt und im Rahmen der documenta fifteen (bzw. lumbung1 2) im Fridericianum (für die Dauer der 100 Tage umgewidmet zum gemeinschaftlichen und inklusiven Bildungs-, Arbeits- und Wohnraum) gezeigt. Mit ihren auf kollaborative Problemlösung ausgerichteten Spielregeln verdeutlichen sie zugleich beispielhaft die Prinzipien der d15_lumbung1 (d15_l1): Kollektivität, das Erproben kapitalismuskritischer Wirtschaftsmodelle, Solidarität, gemeinsame Fürsorge, das Teilen von Wissen und Ressourcen sowie Nachhaltigkeit. Gudskul selbst verkörpert als Kollektiv von Kollektiven eine Art komprimierte Version der d15_l1 in der Umsetzung dieser zentralen Prinzipien.
Wenn nicht mit hartnäckiger Ignoranz an einem als „unpolitisch“ missverstandenem Kunstbegriff und an der Fantasie von Kunstautonomie im Sinn einer Unabhängigkeit „der Kunst“ von Leben und Gesellschaft festgehalten werden soll, sollte unstrittig sein, dass es genau diese Prinzipien sind, die dringend auf allen Ebenen, lokal und global, zu verwirklichen wären. Und das nicht erst angesichts aktuell eskalierender Krisen, sondern auch in Hinblick auf den dringend notwendigen Abbau bestehender (auch im Kunstbetrieb reproduzierter) gesellschaftlicher und globaler Macht-, Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse. Dass dennoch bis dato eine bemerkenswerte, vor allem in deutschen Medien (bis auf wenige Ausnahmen) nahezu durchgängige Verweigerung in der d15_l1-Rezeption zu beobachten ist, diese Agenda wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen, hat sicherlich mit der Ablehnung der erklärten Ziele der d15_l1 (etwa der „Auflösung von Eigentümerschaft und Autorschaft“3) zu tun sowie mit der Ablehnung von deren „anderem Verständnis von Wirtschaft und Ästhetik“4. Die d15_l1 gab dem eurozentrisch-kolonial geprägten Blick eines kapitalisierten Kunstbetriebs weder die gewohnte Erfahrung der Bestätigung von „Kennerschaft“ noch die gewohnten, an Rankings und „Werke“ geknüpften Marktroutinen. Das etablierte Credit-Point-System funktionierte im Kontext dieser radikal prozessorientierten d15_l1 also nicht.
Darüber hinaus entspricht die genannte Verweigerung – quasi lehrstückhaft – privilegierten Abwehrreaktionen gegen die Konfrontation mit der eigenen bevorzugten Positioniertheit in gesellschaftlichen/globalen Macht- und Diskriminierungsstrukturen. Diese Abwehr ist keineswegs ungewöhnlich. Denn die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen gesellschaftlichen Positioniertheit und daraus resultierenden Privilegien bedeutet Arbeit und kontinuierliche Lernprozesse in Hinblick auf das Entwickeln von Critical Diversity Literacy5 bzw. einer „diskriminierungskritischen Lesefähigkeit“6. Es geht also um Lern- bzw. Bildungsprozesse, die unter anderem darauf ausgerichtet sind, über eine Sprache und Begriffe zu verfügen, um Ungleichheit und Herrschaftsverhältnisse als solche wahrnehmen, benennen und verändern zu können. Dies impliziert zugleich auch VerUnsicherung und Ver_Lernen als dekonstruktive Praxis7 – ein Verlernen etwa von (kolonial-)rassistischem Wissen, das seit Jahrhunderten gesellschaftliche Wahrnehmungs-/Denkmuster und Strukturen prägt.8
Keineswegs zufällig nahm der Aspekt der Bildung im Konzept der d15_l1 explizit einen zentralen Raum ein – sowohl buchstäblich im Fridericianum als auch gesamtkonzeptuell.9 Das in diesem Rahmen prozesshaft praktizierte Denken und Erproben von Kollektivität, alternativen Wirtschaftsmodellen, nachhaltigen Ekosistemen, kollektiven Praktiken des Teilens von Ressourcen – inklusive Zeit, Raum und Wissen – erfordert unweigerlich eine machtkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Positioniertheit in gesellschaftlichen/globalen Machtstrukturen und der Geprägtheit der eigenen Perspektive durch diese. Dem entspricht auch ein bewusster, machtkritischer Umgang mit Sprache und deren Realitätseffekten. Für zentrale Aspekte des Konzepts der d15_l1 etwa wurde konsequent eine Reihe indonesischer Begriffe – lumbung, ekosistem, majelis, nongkrong etc. – in allen Bereichen sowie Informations- und Begleitmaterialien (in Glossaren, zum Beispiel im Handbuch und im Begleitheft) verwendet und erläutert.10 Darauf, dass dieser (Ver_Lern- und Arbeits-)Prozess ein langfristiger, über den Zeitraum der d15_l1 hinausgehender ist, verweist – anstelle eines Katalogs – auch das begleitende „Handbuch“. In diesem Sinn lässt sich lumbung 1 – ohne notwendigerweise aus dieser Bezeichnung bloß wieder nummerierte Folgen abzuleiten – im Hinblick auf Critical Diversity Literacy durchaus als Impuls für weitergehende Ver_Lernprozesse nützen.
[1] Zugleich das Kurator*innenkollektiv der d15_l1 und wie die beiden anderen Kollektive in Jakarta/Indonesien gegründet.
[2] Handbuch documenta fifteen, Hatje Cantz 2022, S. 24.
[3] Ebd., S. 17.
[4] Ebd.
[5] Melissa Steyn, Critical Diversity Literacy: Essentials for the twenty-first century, in: Steven Vertovec (Hg.), Routledge International Handbook of Diversity Studies. London/New York 2007, S. 379–389. Steyn rekurriert damit auf France Winddance Twines Konzept der Racial Literacy (2010) und Critical Literacy im Sinn Paolo Freires (1973).
[6] Carmen Mörsch, Diskriminierungskritische Perspektiven an der Schnittstelle von Bildung und Kunst, Einführung. Kunsthochschule Mainz (Hg.), Diskriminierungskritische Perspektiven an der Schnittstelle Bildung/Kunst; https/diskrit-kubi.net, 2021.
[7 Sara Danius/Stefan Jonsson, An Interview with Gayatri Chakravorty Spivak, in: boundary 2, Vol. 20, No. 2 (1993), S. 24.
[8] Analoges gilt für sexistisches, klassistisches, ableistisches und anderes Diskriminierungsstrukturen stützendes Wissen.
[9] In dieser Dimension und Konsequenz ist dieser Ansatz sicherlich bahnbrechend. Als einen auf das begleitende Vermittlungsprogramm beschränkten, aber in den Grundüberlegungen im Sinn von Critical Diversity Literacy durchaus verwandten Ansatz will ich an dieser Stelle das von Carmen Mörsch entwickelte Vermittlungskonzept zur documenta12 (2007) hervorheben.
[10] Barrierefreiheit (inkl. einfacher Sprache, Ruhezonen und -möbel an allen Orten der d15_l1), Solidarität auch im Ticketing (Soli-Tickets) sowie die Kooperation mit lokalen Kollektiven in Kassel und Jakarta u.v.m. unterstützten die Inklusivität und Nachhaltigkeit dieser Ve