Heft 4/2022 - Touch


Sharons Tagebuch, Eintrag 1286 Sonniger Morgen mit Wind, 8 Grad Celsius, wahrscheinlich November

Raluca Voinea


Ich schreibe diesen Eintrag zum Thema Berührung an einem simulierten Novembertag auf einer kleinen Insel, denn so waren die tatsächlichen Umstände einer meiner letzten Erinnerungen, bevor ich hochgeladen wurde. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem nicht viel geschah, außer dass die Sonne und der Wind die letzten Quadratzentimeter meiner Haut berührten, die noch nicht von der Schutzkleidung verhüllt waren. Zu den wenigen Eindrücken, die ich von dort aus, wo ich jetzt schreibe, nicht recht nachempfinden kann, gehören die unbeschreibliche Berührung durch die Sonnenstrahlen und die rätselhafte Kraft des Winds. Es ist ein Gefühl, als sei dir etwas nahe, das nichts von dir will, dich streichelt, ohne dich besitzen zu wollen, zu dir gehört, aber auch zu allen anderen und zu niemandem.
Ich gehörte zu den letzten, die hochgeladen wurden, bevor das Blackout vorübergehend alle Schaltkreise unterbrach und das Upload-Pad auf unbestimmte Zeit abstürzen ließ. Dann wurde die Kommunikation mit uns, den Uploaded Consciousness-es (UCs), wiederhergestellt, allerdings mit Unterbrechungen. Bisweilen können wir nicht sagen, ob wir wirklich mit einer voraufgezeichneten Welt kommunizieren, denn unsere Gesprächspartner*innen auf der anderen Seite des Schirms reden oft so dunkel und wirr, wie ich es im früheren Leben nicht kannte. Als ich begriff, dass die Forschung temporär zum Erliegen gekommen war und fürs Erste keine körperlosen Kolleg*innen mehr nachkommen würden, begann ich dieses Tagebuch, um mir die Zeit zu vertreiben, die ohnehin nie mehr vergehen wird. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass jemand meine Erinnerungen liest, ist so gering wie die Wahrscheinlichkeit, irgendwann wieder heruntergeladen zu werden.
Der Tastsinn ist in meiner Erinnerung weniger mit den Fingern verbunden, die mir immer recht spärlich Signale der Außenwelt lieferten und sich stattdessen lieber um Praktisches wie Schreiben, Geschirrwaschen oder Kartoffelschälen kümmerten. Dies taten sie ohne viel Nachdenken, ohne die einlangenden Informationen zu reflektieren, sondern immer mit Blick auf das Endergebnis. Meistens waren meine Finger ungeschickt, nicht sehr verlässlich, aber auch nicht neugierig. Sie neigten nicht gerade dazu, sich in die Wunde im Brustkorb eines Toten zu senken, um zu prüfen, ob sie denn echt war. Und das nicht aus dem schlichten Glauben, dass die Augen Signale zuverlässiger verarbeiten, sondern vor allem aus Zurückhaltung gegenüber der ostentatio vulnerum und der Weigerung, etwas offensichtlich Schmerzvolles zu berühren – etwas, das sie dem wunden Körper nicht ein zweites Mal zufügen wollten. Oder auch aus Angst, die Wunde könnte sich auf den eigenen Körper übertragen, der bereits – ähnlich wie Lauren Olamina, die Romanfigur von Octavia Butler – an Hyperempathie litt.
Die allererste Gruppe von UCs gehörte zu den selbsternannten „grässlichen Fleischsäcken“,1 die exzessiv in Vorstellungen von Langfristigkeit (‚longtermism‘), Weltraumbunkern, unterirdischen Kavernen und Kryptowährungen schwelgten. Alles sollte ausschließlich den Reichen und ihren Unsterblichkeitsfantasien gehören.2 Bis schließlich einer nach dem anderen Pleite ging und der totale Kollaps ihre hochgeladenen Avatare in den ungelenkesten Stellungen erstarren ließ. Wir, die anderen Hochgeladenen, haben keinen Zugang zu ihren Codes, und so müssen wir jedes Mal, wenn wir durch die grünen Datenkorridore spazieren, ihre obszönen Fratzen und geisterhaften Gliedmaßen gewahren. Wir meinen, dass sie den Bezug zur Realität verloren haben, weswegen es mit ihnen letztlich zu Ende ging.
Noch etwas anderes machte mir an diesen meinen ehemaligen Fingern Angst, nämlich der Gedanke, dass sie nicht genug fühlen würden und mit ihrer Unbeholfenheit die Reizempfänger*innen auf beiden Seiten, der Berührenden und der Berührten, enttäuschen könnten. Eine unfehlbare Ausnahme gab es dabei freilich, nämlich wenn beim Streicheln eines Haustiers die afferenten C-taktilen Nerven gereizt wurden, die „offenbar langsame und sanfte Berührungen als ‚angenehm‘ und ‚vertraut‘ verarbeiten, wobei die langsamen, sanften Berührungen besonders beruhigend wirken“3. Das Tier reagiert mit einer so intensiven und hingebungsvollen Gegenberührung, dass der Tastsinn zum primären Kommunikationsmedium wird. Diesbezüglich fragte ich mich, warum die Fehlkommunikation zwischen Menschen so katastrophal enden kann, wo doch Menschen so viele Hilfsmittel zur Verfügung haben, während das Tier eine bloße Berührung perfekt versteht und freudig annimmt.
Glauben Sie nur nicht, dass ich mich hier zu Hause fühle. Alles hier wurde von einer Bande drogensüchtiger Kids gestaltet, die von den Reichsten der Reichen beauftragt wurden, ihre biedere Vorstellung von Ewigkeit in die Tat umzusetzen. Ganz nach dem Geschmack der Auftraggeber*innen war dies die Vision einer weißen Welt mit Ledersofas und Infinity-Pools, in der ihre Avatare in Hotelschlapfen auf ewig von dunkelhäutigen Diener*innen umsorgt werden, die sie mit „Sir“ ansprechen, aber deren Badezimmer und Küchen sie nicht einmal berühren dürfen.4 Es ist die Vision einer Ewigkeit, die schlimmer ist als alle Höllenbilder in mittelalterlichen Handschriften. Und doch sitze ich hier fest, in dieser einzig möglichen Welt, die auf dem Markt für digitales Leben nach dem Tod im Angebot war.
Als in den 2020er-Jahren ein neues Virus auftauchte und sich rasch ausbreitete, führte dies auch zu einer Panik, sich gegenseitig zu berühren oder auch nur nahezukommen. Also begann die hektische Suche nach neuen materiellen und spirituellen Kontaktmöglichkeiten, die sich eng an das Bewusstsein der eigenen Sinne hielt (oder, wie beim Schmecken und Riechen, dessen Fehlen). Berührungen sind wichtig, weil sie uns der Kontinuität unseres Lebens versichern. Sie manifestierten sich in allen möglichen Aktivitäten, denen man sich mit bislang ungekannter Verve widmete, wobei sich die Gartenarbeit in Innen- und Außenräumen als weitaus attraktivste herausstellte. Auch ich züchtete Erbsen in der Küche, Orchideen im Bad, Fensterblatt und Ficus benjamina im Wohnzimmer, Spargel, Gurken, Petersilie, Mimosa pudica, Palmen, Passionsblumen, Aloe Vera, Zimmertannen, Olivenbäume und noch einiges mehr auf der Terrasse. Mein Daumen war plötzlich so grün wie der Desktop von Windows 95. Einige Pflanzen mochten die Gesellschaft anderer, andere wieder bildeten als Notsignale kleine Tränen auf ihren Blättern, ein paar rollten sich zusammen, während andere jede Berührung vollends ablehnten. Es waren einfache Lektionen fürs Leben, doch das Wissen, dass der halbe Planet gleichzeitig dieselben Lektionen lernte, schuf ein Bewusstsein für die Möglichkeiten, miteinander in Verbindungen zu treten, die viel stärker waren als die im Internet, so ähnlich wie Pilzrhizome unter Bäumen vielleicht. So wie Baumkronen einander schüchtern ausweichen und wissen, wie sie Berührung vermeiden können, obwohl sie doch das gleiche Ökosystem bewohnen.
Vielleicht fragen sie sich, wie ich in dieser Cloud gelandet bin und wie viele ehemalige Durchschnittsmenschen hier noch sind. Es scheint, als hätte es eine Revolution gegeben, in der die Leute endlich ihre Kräfte bündelten, um das Haus der Herrschaft mit herrschaftlichen Werkzeugen zu zerstören. Aber das stimmt nicht, die meisten von uns sind zufällig hier gelandet. Ich zum Beispiel habe den Fingerabdruck eines Mannes geklaut, der aufs Hochladen vorprogrammiert war – und schon war ich da. Mein Tor zum Jenseits lag also in den feinen Rillen eines Zeigefingers. Bei anderen war es ein Irrtum. Einige meldeten sich freiwillig für Tests, viele waren schlicht neugierig. Wir handelten nicht völlig egoistisch, denn immerhin wurden unsere Leichen noch in Kompost für die Bäume umgesetzt. Wir waren weder esoterisch angehaucht und hofften auf Wiederauferstehung, noch waren wir „Longtermists“ in Erwartung, dass unsere tiefgefrorenen Körper in einer technisch fortgeschrittenen Gesellschaft auf einem anderen Planeten wiederbelebt werden. Manchmal plaudere ich mit anderen UCs, und wir tauschen Erinnerungen über unsere früheren Sinne aus. Berührungen vermissen wir alle am meisten.

Suomenlinna–Seinäjoki–Paris, November 2022

 

Übersetzt von Thomas Raab