Am 23. Oktober 2022 machte sich der Schriftsteller Serhiy Zhadan bei seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Gedanken zu Erinnerung und Sprache nach dem Krieg. Dabei nahm er Bezug auf eine Frage von Adorno: „Natürlich ist Dichtung nach Butscha und Isjum weiterhin möglich, ja, sie ist sogar notwendig. Aber der Schatten von Butscha und Isjum, die Präsenz dieser Orte wird in der Nachkriegsdichtung tiefe Spuren hinterlassen und ihren Gehalt und Klang prägen. Das ist die schmerzliche und zugleich unabdingbare Vergegenwärtigung, dass Massengräber und zerbombte Wohnviertel von nun an den Resonanzraum für die in deinem Land verfassten Gedichte bilden – das vermittelt natürlich nicht gerade Optimismus, aber ein Verständnis dafür, dass die Sprache unseres täglichen Wirkens, unserer täglichen Berührung, unserer täglichen Zuwendung bedarf.“1
Das ukrainische Wort für „Berührung“, „dotyk“, existiert auch in der Form „dotychnist“ („Tangentialität“ bzw. „Berührtheit“) und bedeutet Verwicklung, Zugehörigkeit, Komplizenschaft. Aus der Tangentialität2 ergibt sich also gewissermaßen eine Beteiligung. Und zum Schluss kommt Zhadan mit diesem klaren Bild wieder auf Erinnerung und Sprache zurück: „Wir alle sind Teil von diesem Strom, der uns trägt, uns nicht loslässt, uns verbindet.“
Ich musste sofort an die Malerin Vlada Ralko denken – in Zeiten der Bomben eine Art weibliche Francis Bacon der Ukraine –, die, wie es scheint, ähnlich über Tangentialität zu denken scheint: „Kunst ist eine sensible Sache. Auch wenn Morandi im Krieg noch Stillleben gemalt hat, zeugen diese doch bis heute von einer erstickenden Atmosphäre der Verzweiflung. Als ich kürzlich eine Ausstellung in Lwiw konzipierte, kam mir der Gedanke, dass es darin auch um den Krieg geht. Für die Ausstellung habe ich Arbeiten aus verschiedenen Epochen gewählt, die, ungeachtet ihres jeweiligen Entstehungsjahres, in irgendeiner Weise deutlich machen, was uns heute passiert. Denn Kunst wird zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedliche Weise aktualisiert.“ Ihr Gesprächspartner und Kollege, der berühmte Künstler Volodymyr Budnikov, mit 73 Jahren aus einer anderen Generation stammend, entgegnete darauf mit folgender Beobachtung: „Kürzlich hat mich ein Bericht aus Syrien beeindruckt. Darin ging es um eine zerstörte Stadt, doch dann erzählte der Journalist plötzlich, dass dort trotz allem gerade eine Galerie für zeitgenössische Kunst eröffnet hat. Unglaublich! Das ist wie eine Blume, die mitten im Grauen erblüht. Eine Ausstellung, wie es sie in Berlin oder New York geben könnte. Und, wer weiß, vielleicht ist der Krieg dort in fünf Jahren zu Ende, und das Zentrum der Weltkultur befindet sich in Syrien?“
Es gibt noch eine andere Art der Berührtheit. In Irpin, einer wunderschönen Stadt in der Nähe von Butscha, organisierte Kateryna Yakovlenko, Forscherin und Kuratorin für zeitgenössische Kunst, eine Ausstellung in ihrer Wohnung, die bei einem Bombenangriff zerstört worden war. Der Titel lautete übersetzt: „Alle haben Angst vor dem Bäcker, aber ich danke ihm“. Der örtliche Bäcker fuhr jeden Tag unter Beschuss aus seinem Dorf in die Bäckerei, um für die Menschen Brot zu backen. Sie standen in langen Schlangen an, verärgert über die Wartezeit. Aber Kateryna war dankbar – für seine tägliche Arbeit, für den gegenseitigen Austausch und für den Einsatz der Kämpfer*innen. Sie bat Künstler*innen, die sie kannte, Werke mitzubringen, die die traumatische Erfahrung der Zerstörung vermitteln. Und durch die Ausstellung zog sich der Kommentar „Danke“ („dyakuyu“). Das Wort war auf mehreren Arbeiten in verschiedenen Zimmern zu lesen, zum Zeichen des Dankes an alle, die ihre Gesellschaft und ihre Leben verteidigen würden, so Yakovlenko. Eines dieser Worte der Dankbarkeit widmete sie den Freiwilligen, die die Trümmer weggeräumt und die persönlichen Dinge eingesammelt hatten, die ihr noch geblieben waren.3
Das Bild von den Blumen inmitten des Grauens ist aufschlussreich. In Zeiten wie diesen beginnt man, prekäre Dinge zu schätzen, das Zusammensein im engen Kreis, mit Gleichgesinnten, Kamerad*innen und Angehörigen, den offenen Umgang mit Gefühlen. Zu beobachten war ein Trend zu kleinen Ausstellungen hier und da. In Städten der Provinz wurden kürzlich einige neue Galerien eröffnet. Menschen nehmen an Vorträgen über Kunst teil und spenden gleichzeitig an die Freiwilligeninitiativen zur Unterstützung der Armee. In strategischer Hinsicht scheinen Residenzprogramme die größte Rolle zu spielen, so wie beim Künstlerhaus The Assortment Room in Ivano-Frankivsk mit Residenzen für Künstler*innen, die vorübergehend flüchten mussten (es gab eine Art Kommune mit 17 Künstler*innen), aber in der Ukraine geblieben sind; daran angeschlossen waren die Ausstellung Working Room sowie Videoperformances im örtlichen Theater.4 Nach der groß angelegten Invasion gab es zahlreiche Programme für Künstler*innen, die ins Ausland gegangen sind, viele von ihnen waren jedoch auf der Suche nach einer sicheren Unterkunft innerhalb des Landes. Das Projekt wurde von privaten Geldgeber*innen und einer Reihe ukrainischer und ausländischer Partner*innen unterstützt. Dank ihnen konnte ein Fonds zur Deckung der dringendsten Ausgaben von in Not geratenen Künstler*innen eingerichtet werden. Ein weiteres Residenzprogramm für Notfälle wurde von Khashchi (Kyjiw Bienniale) geschaffen. Letztere leistet als Emergency Support Initiative Hilfe für den Kulturbereich.5
Diese und andere Initiativen versuchen auch, einen Raum zum Nachdenken über wichtige Themen und für Diskussionen zu schaffen.6 Was in diesem Zusammenhang besonders auffällt, ist die unterschiedliche Wahrnehmung des herrschenden Kriegs bei ukrainischen und russischen Intellektuellen, Künstler*innen und Kulturschaffenden. Der größte Unterschied, der ins Auge springt, sind die extrem abstrakten und geschliffenen Floskeln bei den Russ*innen im Vergleich zur scharfen und oft verwirrenden Erzählung konkreter Erlebnisse aufseiten der Ukrainer*innen. Selbst die fortschrittlichsten Russ*innen „bemerken“ die Ukrainer*innen nicht, wenn sie über deren Köpfe hinwegfliegend immer wieder auf sich selbst zu sprechen kommen, auf die besondere russische Kultur, Schicksal, Schuld etc., und sich direkt vor einem westlichen Hintergrund positionieren.
Ist das ein Mangel an unmittelbarer Solidarität oder etwas anderes? Ich erinnere mich an die erste öffentliche Reaktion von Boris Groys auf den Krieg in der Ukraine: Warten wir ab, wer gewinnt, und ziehen dann unsere Schlüsse – „die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“.7 Im Gegensatz dazu sind die Ukrainer*innen jedoch eher der Erde zugeneigt und beziehen sich auf konkrete Orte, Praktiken und Ereignisse.8 Gleichzeitig ist es äußerst wichtig, immer wieder zu den theoretischen Grundlagen zurückzukehren. Ich denke, dass wir zunächst über einige entscheidende Veränderungen in der Art des Kriegs selbst und dann über die zeitgenössischen Formen extremer Gewalt nachdenken sollten. Schließlich ist die Kunst in ihrer direkten Sensibilität und ihrem Widerstand mit diesen verbunden.
Vom hybriden zum totalen Krieg
Die russische Invasion der Ukraine erfolgt zunächst einmal mit einem absolut ungezügelten, exzessiven Einsatz von Gewalt. Neben dem Ausbruch archaischer Formen des Konflikts erleben wir aktuell eine Menge äußerst moderner Varianten. Es gibt ein seltsames Nebeneinander aus „klassischen“ und „neuen“ Formen des totalen Kriegs, eine Mischung aus „glatten“ (vor allem wirtschaftlichen) und „gekerbten“ (territorialen) Kriegsmaschinen.9 Der Krieg in der Ukraine demonstriert den beispiellosen Einsatz und die Verflechtung aller Arten und Formen militärischer Aktionen, die der Menschheit bis heute bekannt sind. Wir können also mit vollem Recht von einem „totalen Krieg“ neuen Typs sprechen. Der Erste, der, in einem Gespräch über Wirtschaft und Finanzen, den Begriff des „totalen Kriegs“ im gegenwärtigen Kontext verwendet hat, war wohl der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire,10 übrigens ein sehr kluger und renommierter Autor. Wir haben es hier aber nicht nur mit einem Wirtschaftskrieg um Kapital, Märkte, Ressourcen und Sanktionen zu tun, sondern auch in den Bereichen Politik, Geografie, Technologie, Kultur, Massenmedien, Kybernetik, Ökologie, Identität, Psychologie, Zivilisation, Humanismus, Menschenrechte, Geschichte, Erinnerung, Theologie, Weltanschauung, Subjektivität und natürlich Kunst steht viel auf dem Spiel.
Die Feststellung der Totalität ist jedoch stets unvollständig und verspätet; ihre „Unreinheit“ und effektive Unvollkommenheit (vor allem, wenn es um den Krieg geht) ist das eigentliche Wesen dieser Totalität. Sie kennt keine klaren Grenzen, viele Teile sind unverbunden und weder räumlich noch zeitlich synchron. Eine Partei führt Krieg „nach alter Schule“, die andere wiederum erfindet gleichzeitig neue Kriegsmaschinen und verhält sich nach einem neuen militärischen Paradigma. Dieses ängstliche Verwischen der Grenzen zwischen dem Krieg und seinem Gegenteil, das ihn „totalׅ“ werden lässt, beruht auf einer Reihe von „Negativitäten“ und blinden Flecken. So weigern sich beispielsweise viele Menschen in Russland, die Realität des Kriegs anzuerkennen. Hier einige Freud’sche Einwände in Bezug auf die Ukraine, in ihren verschiedenen Abstufungen: „Wir befinden uns nicht im Krieg“ (man erinnere sich an Putins Antwort auf die Forderung nach einem Abzug der russischen Truppen im November 2014: „Das ist unmöglich, weil wir gar nicht da sind“); später dann: „Wir befinden uns nicht im Krieg mit den Ukrainer*innen“ (sondern angeblich mit den Bösen, Banderist*innen, Nazis, Söldner*innen, ausländischen Ausbilder*innen usw.); und kürzlich erst (nach schweren Niederlagen): „Wir befinden uns nicht im Krieg mit der Ukraine (sie ist zu schwach und zweitrangig), sondern mit der westlichen Welt und der NATO.“
Putin hat also eine groß angelegte Invasion der Ukraine auf der Basis verschiedener Negationen gestartet. Und das vor allem unter dem Deckmantel einer „militärischen Sonderoperation“. Schon die Verwendung des Worts „Krieg“ ist in Russland streng verboten, man riskiert dafür ein Straf- oder Verwaltungsstrafverfahren – von öffentlichen Antikriegsdemonstrationen ganz zu schweigen. Die Menschen verwenden Abkürzungen, Euphemismen, Embleme (wie das abscheuliche, wie ein halbes Hakenkreuz aussehende Z) oder den ironischen Begriff „Nichtkrieg“ (der genau das Gegenteil bedeutet!). Und viele Russ*innen glauben, dass es tatsächlich nichts dergleichen gibt. Es gibt eine Spezialoperation und den dazugehörigen höchst geheimen Plan. Den enttäuschten Ultramilitarist*innen gibt dieser Mangel an Beweisen zumindest die Möglichkeit zu verkünden, dass man „noch nicht mal richtig angefangen“ habe.
So oder so beschreibt Kriegsführung als „Spezialoperation“ perfekt den polizeihaften Charakter all dessen, was in der russischen Politik vor sich geht. Als ehemaliger, aber ewiger KGB-Offizier ist Putin besessen von einer Rhetorik der sogenannten Sicherheit und des Schutzes. Im „putinokratischen“ System – einer organischen Symbiose aus Unternehmen, Politik und Medien – sind alle Machtorgane, Angestellten, Minister*innen, Richter*innen, Beamt*innen und Ideolog*innen gemeinsam in den Polizeiapparat eingebunden. Unter dem Deckmantel der Wiederherstellung der „Ordnung“ ist jedoch die Verbreitung von Chaos und Zerstörung zu beobachten. Es scheint, dass Russland bewusst eine humanitäre Katastrophe heraufbeschwört, um diese später selbst wieder beheben zu können.
Den Zusammenhang zwischen moderner Polizeiordnung und der Ausbreitung von Gewalt haben Analytiker*innen schon vor langer Zeit erkannt: Viele von ihnen sind überzeugt,11 dass weltweit derzeit herkömmliche Vorstellungen von Krieg und Frieden durch Vorstellungen von Intervention und Sicherheit ersetzt werden. Dies bedeutet jedoch nicht das Ende der Gewalt. Im Gegenteil, diese Neukonfigurierung führt zu neuen Formen der Gewalt (Terroranschläge, bewaffnete Gruppen, die um Gebiete kämpfen, der Einsatz von Präzisionsraketen sowie der gefährliche Glaube, Konflikte könnten ohne Verluste ausgetragen werden, usw.). Wir kommen in Bezug auf Russland noch darauf zurück. Im Grunde stützt sich diese Argumentation auf die historisch-konzeptionellen Erkenntnisse von Michel Foucault, der die klassische Formel von Clausewitz, wonach „Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist, umkehrt; in unserem heutigen neoliberalen Zeitalter ist es im Gegenteil die Politik, die zu einer Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln wird. Früher gründete der moderne Staat die Sicherheit auf die Mittel der Armee und der Justiz (auf den Krieg und das Recht), um seine Bürger*innen und seine territoriale Integrität zu verteidigen; heute, im neuen Zeitalter, wird die Rolle der Polizei über die Sicherung von Personen und die Kontrolle des Verkehrs hinaus erweitert. Polizeipolitik ist zu einer Fortsetzung der Kriegsführung geworden: Auf der einen Seite der „Versicherheitlichung“ steht die Überwachung der menschlichen Körper, auf der anderen die Regulierung und Organisation der Bevölkerung.
Foucault unterscheidet vier wesentliche Vorstellungen von Sicherheit, die jeweils in der einen oder anderen Epoche vorherrschend waren und heute, wie wir feststellen, in einer neuen Symbiose nebeneinander bestehen. Zum einen verstand man Sicherheit in der Antike als sine curae – ohne Sorge, ohne Not; die Griech*innen betrachteten sie auf der spirituellen Ebene als a-taraxia (ohne Sorge, unerschütterlich) –, heutzutage ist dies weitgehend vom Bereich der Massenmedien absorbiert. Zweitens wird Sicherheit durch einen souveränen Staat im Verhältnis zu anderen souveränen Staaten im Rahmen des sogenannten diplomatisch-militärischen Apparats gewährleistet, der uns ein klassisches Verständnis von Politik als Unterscheidung zwischen Freund und Feind vermittelt. Das dritte, zeitgenössische (Un-)Sicherheitsverständnis im neoliberalen Zeitalter ist grundlegend biopolitischer Natur: Es konzentriert sich auf Gefahren für das Leben und den freien Verkehr. Und zuletzt wird Sicherheit, und das trifft insbesondere auf die Politik Russlands zu, in theologischen Begriffen formuliert: Sie basiert auf der Idee des Imperiums – insbesondere der mittelalterlichen Vorstellung eines endzeitlichen Reichs, einem Mythos, der vom christlichen Millenarismus herrührt –, dem berühmten Motto „pax et securitas“, das aus der Auslegung der Apokalypse des Heiligen Johannes und den Paulusbriefen, insbesondere dem Brief an die Thessalonicher, stammt. Diese Vorstellung stellt eine Synthese aus den Begriffen Imperium, Frieden und Sicherheit dar. In Russland hatte dieser politische Mythos großen Einfluss unter der Doktrin des Katechon (von griechisch „τὸ κατέχον“, „das, was aufhält“ bzw. „der, der aufhält“), nach der das Reich und der Zar die Funktion von Bollwerken haben, die das endzeitliche Chaos zurückhalten und das Kommen des Antichristen verhindern sollen. In dieser Vorstellung steckt jedoch immer auch ein Paradoxon: Das Kommen des Antichristen ist eine Bedingung für die vom Messias versprochene Erlösung, der Katechon verhindert also auch die Erlösung.
Kein Wunder, dass die militärische Niederlage in der russischen Vorstellungswelt als etwas Absolutes und Apokalyptisches inszeniert wird. Wenn das große Russland die kleine Ukraine verliert, bedeutet das nichts weniger als das Ende Russlands. Darüber hinaus ist diese Mythologie eng mit einer als heilig betrachteten Geografie verbunden. So verkündete Putin bei der Annektierung 2014: „Die Krim, das alte Korsun, Cherson, Sewastopol – sie alle haben eine enorme zivilisatorische und sakrale Bedeutung für Russland, so wie der Tempelberg in Jerusalem für alle, die sich zum Islam und zum Judentum bekennen.“ Allerdings ist die Stadt Kyjiw nach fester politischer Überzeugung das Herz der Heiligen Rus („die Mutter der russischen Städte“), womit eine Offensivkampagne die Legitimität eines Heiligen Kreuzzugs hat.
Die elementare Rolle des Antichristen in der russischen Vorstellungswelt hat noch eine weitere Konsequenz für das Feindbild: In Russland wird der Feind mit Satanismus und Perversion gleichgesetzt (unter ständiger Anprangerung der Irrtümer des westlichen Liberalismus, der demokratischen Unordnung, der Bedrohung durch LGBT oder unnatürlicher transhumanistischer Veränderungen usw.). Dieses Bild ist durchaus nachvollziehbar. In Wirklichkeit jedoch gibt es einen zweifachen Feindstatus. Es gibt einen normalen Feind, der strukturell in das System der Repräsentationen selbst eingeschrieben und für die Aufrechterhaltung des Status quo notwendig ist, und es gibt einen anderen, außerhalb der Struktur befindlichen Feind, der die Kohärenz und Existenz des Systems zu zerstören droht. Was ist aus dieser Sicht der normale Gegner Russlands? Sicherlich der Westen, und Russland gibt bereitwillig zu, dass es den Krieg gegen ebendiesen führt. Die neue, noch nie dagewesene Ukraine hingegen stellt offensichtlich eine absolute Bedrohung für Russland dar, das schon die Möglichkeit ihrer Existenz verneint. Die Ukraine ist als Modell für andere kleine Länder zu skandalös.
Von der eingeschränkten zur generellen Ökonomie der Gewalt
In einem zeitgenössischen biopolitischen Regime wandelt sich Foucault zufolge jedoch auch das klassische Feindbild: Der Feind wird zum Verdächtigen. Jetzt sind es nicht mehr nur Soldat*innen oder Aktivist*innen, sondern jedes ukrainische Individuum wird zu einem ewigen Verdächtigen und stellt allein durch die Tatsache, dass er bzw. sie am Leben ist, eine potenzielle Gefahr dar.
Deshalb stellt die ukrainische Revolution (die „lange“ der letzten Jahrhunderte, die sich mit der neuen verschränkt hat, die, in den 2010er-Jahren, zur letzten mächtigen Welle in der Flut der Aufstände im Gefolge des Arabischen Frühlings wurde12) eine existenzielle Bedrohung für Russland und ein schlechtes Vorbild für andere postsowjetische Satellitenstaaten dar. Sie muss unterdrückt und bestraft werden. Übrigens wurden damit schon im Mittelalter die Kreuzzüge gerechtfertigt: mit der Geißelung der Sünder*innen. Berücksichtigt man all diese unterschiedlichen Aspekte, ist der Angriff auf die Ukraine eine Strafmaßnahme zur Unterdrückung eines Volksaufstands. Etienne Baliar hat diese Art des Vorgehens treffend als „präventive Aufstandsbekämpfung“ bezeichnet (die früher oder später zum Exterminismus führt).13 Die Besonderheit besteht nun darin, dass die Unterdrückenden nicht mehr versuchen, die „Köpfe und Herzen“ der lokalen Bevölkerung zu erobern, um sie auf ihre Seite zu ziehen. Klassischerweise ist die „Aufstandsbekämpfung im Wesentlichen politisch-militärisch“; der Terror gegen die Bevölkerung (unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung) hat jedoch „im Wesentlichen mit Polizeiarbeit und Sicherheit zu tun“14. Jeder symbolische Austausch mit der lokalen Zivilbevölkerung wird unterdrückt, gehandelt wird nach dem Prinzip des regelmäßigen Niederschlagens: „Töte genug von ihnen, und die Gefahr verschwindet ... der Ertrag einer Politik, die darauf abzielt, zu terrorisieren und auszurotten, hat jetzt Vorrang vor jeder Überlegung über ihre politischen Auswirkungen auf die Bevölkerung. Und wenn die Drohnen die Bevölkerung dazu bringen, sich von uns abzuwenden – wen kümmert das?“15
Dieser Terror besitzt ganz eindeutig biopolitische Züge: Massenvertreibung, Räumung, Deportation der Bevölkerung in den besetzten Gebieten nach Russland; Verschlechterung der Lebensbedingungen; Zerstörung von Häusern und lebenswichtiger Infrastruktur; Zerstörung von historischen Denkmälern und kulturellen, religiösen und Bildungseinrichtungen (Urbizid); Enteignung, Raub und Plünderung; Verschwindenlassen von Einzelpersonen und insbesondere von zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen; Entführung und Verschleppung von Kindern; systematische Vergewaltigung von Frauen, Zwangsmobilisierung von Männern, Filtrationslager u. v. m.
Diese Massenverbrechen führen zu ökologischen Schäden, insbesondere zur Verschmutzung des Wassers, zur Vergiftung der Böden durch eine große Zahl von Leichen, die nicht beerdigt werden. Die Besatzungsgebiete verwandeln sich in Todeszonen. Die Biopolitik wird zur Nekropolitik.16 Der Tod ist nicht mehr schnell wie im Krieg, sondern verlangsamt sich oder wird für eine gewisse Zeit aufgeschoben. Die Verwandlung des Lebens in etwas Unerträgliches, Unerwünschtes und Abstoßendes schafft die Voraussetzungen für einen langsamen Tod („langsamer Tod bezieht sich auf den physischen Verschleiß einer Bevölkerung und den Verfall der Menschen in dieser Bevölkerung, der ihre Erfahrung und historische Existenz nahezu vollständig durchdringt“17). Der ukrainische Journalist Stanislav Aseyev hat diese Erfahrung der Inhaftierung und Folter in seinem berühmten Report beschrieben.18
Da er auf dem Schlachtfeld keinen Erfolg hat, erteilt der „Bunkermann“ des Kremls den Befehl, Raketen und Drohnen auf friedliche Städte in Tausenden von Kilometern Entfernung zu richten. Dies wird keinen Einfluss auf den Verlauf der militärischen Kriegsführung haben, ist aber von fundamentaler Bedeutung für die Ausweitung der Nekropolitik. „Eine Kriegsführung, die sich völlig vom Modell des Nahkampfs entfernt, wird zu etwas ganz anderem, zu einem ,Gewaltzustand‘ anderer Art. Sie verkommt zum Abschlachten oder Jagen. Man bekämpft den Feind nicht mehr, man eliminiert ihn, so, als schieße man Kaninchen.“19 Warum werden heute, kurz vor Beginn des Winters, Kraftwerke bombardiert? Es scheint erforderlich, den Bewohner*innen Licht, Wärme, Wasser, Kommunikation, Schlaf und Zuversicht zu entziehen – sie sollen frieren und hungern.
Das ist das Paradigma genereller FOLTER. Warum Beschießen um des Beschießens willen? Um Menschen zu zwingen, sich in den Wohngräbern, Kellern, Löchern, Untergründen und U-Bahn-Tunneln zu verkriechen. Um Folter zur alltäglichen Lebenserfahrung zu machen. Von Zeit zu Zeit ziehen die Kamikaze-Drohnen einfach nur Kreise über die nächtlichen Städte, nicht, um Bomben abzuwerfen, sondern um unendliche Angst und Schrecken zu verbreiten, indem sie das unheilvolle Geräusch des Todes ausstoßen, das der „Mopeds“, wie sie von den Menschen genannt werden, und dann dorthin zurückkehren, wo sie herkamen. Sparsam und ökonomisch.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/serhij-zhadan
[2] Vom lateinischen „tangere“ – berühren, streifen oder schlagen. Vgl. das spanische Wort „tango“ für den Tanz, abgeleitet von Shango, dem afrikanischen Gott des Donners in der traditionellen Yoruba-Religion, von den Europäer*innen assimiliert über den Sklavenhandel.
[3] Dokumentation unter: https://suspilne.media/275390-slova-vdacnosti-kuratorka-zrobila-vistavku-u-vlasnij-zrujnovanij-kvartiri/.
[4] https://zbruc.eu/node/112091
[5] https://esi.kyivbiennial.org/en
[6] So gab es insbesondere in der Galerie The Naked Room in Kyjiw eine Gruppenausstellung mit dem Titel Other parts for the next quarter, in der die Teilnehmenden gefragt waren, Möglichkeiten einer Sprache und neuer Formen künstlerischer Handlungsmacht zu finden; https://antikvar.ua/chuty-movu-z-nulya-vystavka-inshi-chastyny-v-nastupnomu-kvartali-u-galereyi-the-naked-room/.
[7] Vgl. Boris Groys, Gesamtkunstwerk Putin (auf Russisch); https://www.youtube.com/watch?v=LzwYeNhQFWU.
[8] Dies kann in unterschiedlicher Hinsicht und Form geschehen. Vor Kurzem hat die junge Künstlerin Katya Buchatska Erde und Lehm aus Butscha mit Wachs und Öl vermischt und die gesamte Leinwand mit dieser neuen Erde eingefärbt. Das erinnert an die Prosa von Olexandr Mykhed über die Region Donbas: „Ich werde dein Blut mit Erde vermischen: damit du den Osten der Ukraine verstehst.“ (2020)
[9] Siehe Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus. Berlin 1992, S. 657 ff.
[10] https://www.publicsenat.fr/article/politique/guerre-economique-totale-les-senateurs-appellent-bruno-le-maire-a-changer-de-ton
[11] Um nur einige zu nennen (in chronologischer Reihenfolge): Frédéric Gros, États de violence: essai sur la fin de la guerre. Paris 2006; Antonio Negri/Michael Hardt, Multitude: War and Democracy in the Age of Empire. New York 2009; Éric Alliez/Maurizio Lazzarato, Wars and Capital. Los Angeles 2018.
[12] Es gilt zu bedenken, dass sich jetzt parallel zu dem ukrainischen Widerstand ein großer feministischer Aufstand in Iran entwickelt, auch vor dem Hintergrund, dass Tausende von Drohnen, die jetzt auf ukrainische Städte losgelassen werden, von Russland heimlich vom iranischen Regime gekauft wurden (die Drohne Shahed-136 wurde von den russischen Streitkräften in Geranium-2 umbenannt).
[13] Vgl. Etienne Balibar, We, the People of Europe? Reflections on Transnational Citizenship. Princeton 2004, S. 124 und 126; Edward P. Thompson et al., Exterminism and Cold War. London 1982.
[14] Vgl. Grégoire Chamayou, A Theory of the Drone. New York 2015, S. 68.
[15] Vgl. ebd., S. 70.
[16] Dieser Gedanke stammt aus Achille Mbembes sehr aufschlussreicher Studie Necropolitics. Durham 2019.
[17] Vgl. Lauren Berlant, Slow Death, in: Critical Inquiry, Sommer 2007, 33(4), S. 754.
[18] Stanislaw Assjejew, In Isolation. Texte aus dem Donbass, fotoTAPETA, Berlin 2020.
[19] Vgl. Chamayou, A Theory of the Drone, S. 91.