Heft 4/2022 - Lektüre



Jeremy Gilbert/Alex Williams:

Hegemony Now How Big Tech and Wall Street Won the World (And How We Win it Back)

London (Verso) 2022 , S. 75 , EUR 23

Text: Pascal Jurt


England hat in kurzer Zeit drei neue Premierminster*innen gesehen. Auf Boris Johnson folgte Liz Truss, die innerhalb von nur sechs Wochen zurücktreten musste, nachdem sie angesichts der drohenden Rezession Steuersenkungen für Reiche angeboten hatte. Mit Rishi Sunak wurde im Oktober 2022 ein ehemaliger Hedgefonds-Manager zum neuen Staatsoberhaupt erklärt. Die heutige Situation der „hegemonialen“ oder der „organischen“ Krise lässt das Buch der beiden britischen Politikwissenschaftler Jeremy Gilbert und Alex Williams extrem aktuell erscheinen. Ihr dichter Essay mit dem uneindeutigen Titel Hegemony Now: How Big Tech and Wall Street Won the World (And How We Win it Back) stellt die Machtfrage. Wo ist das gegenwärtige Machtzentrum? Wer oder was hat die Macht inne? Wer hat die Welt bekommen, die er sich gewünscht hat?
Ein wichtiger Aspekt liegt für die Autoren in den infrastrukturellen, technologischen und organisatorischen Aspekten des Aufstiegs des Neoliberalismus. Sie werfen ihren Blick auf die Art und Weise, wie neoliberale Annahmen durch Regierungspraktiken über den spezifischen Einsatz neuer Technologien institutionalisiert werden konnten. Zudem weisen sie darauf hin, wie der Neoliberalismus in der Praxis stets durch autoritäre, rassistische und geradezu antidemokratische Regierungspraktiken ermöglicht und unterstützt wurde, die trotz der libertären Rhetorik in keiner Weise im Widerspruch zu seiner anhaltenden immanenten Logik stehen. Dabei untersuchen sie unter anderem die didaktischen und symbolischen Elemente der neoliberalen Ideologie in der zeitgenössischen Kultur mit ihren unternehmerischen, wettbewerbsorientierten und individualistischen Normen (Gangster-Rap, Reality-TV-Shows und Influencer-Kultur).
Dass sich die Autoren nicht auf die Analyse des kulturellen Felds oder auf die Nachhutgefechte der „Culture Wars“ beschränken, in denen die kopfarbeitende „Klasse“ in Wissenschaftsinstitutionen, Thinktanks, Medien und privaten wie öffentlichen Kultureinrichtungen um Geltungsmacht und Hegemonieansprüche ringt, sondern sich auch konkreten Fragen des generativen Zusammenhangs zwischen verschiedenen Fraktionen des Kapitals und ihrer Beteiligung an der Herstellung von konsensfähigen Praktiken stellen, ist ein großes Verdienst des Buchs.
Die Dynamik des aktuellen Neoliberalismus zu verstehen, besteht für die Autoren darin, empirische Besonderheiten zu betonen. Es geht um eine Konfiguration von ideologischen Narrativen, Regierungstechniken, technologischen Anpassungen und Organisationsverfahren. Ihre Analyse, die sich vor allem auf die „langen 1990er-Jahre“ konzentriert, zeigt, dass zum Beispiel Tony Blairs Version des Neoliberalismus ganz anders als der von Margaret Thatcher funktionierte. In ihrer Beschreibung einer Rede Blairs von 2005 zeigen sie anschaulich, dass für den früheren Premierminister der Neoliberalismus keine explizite Ideologie war, die es gegen genau definierte Gegner*innen zu verteidigen galt; es war für ihn lediglich neutrales Wissen, ein reines Realitätsprinzip – ein Verständnis davon, wie die Welt ist, was funktioniert und was nicht. Die Gegner*innen seines Dritter-Weg-Projekts stigmatisierte er als Vertreter*innen der „Kräfte des Konservatismus“. Er betrachtete sie nicht als politische Gegner*innen, sondern als Verfechter*innen von fehlgeleiteten Eigeninteressen, die den Weg zu Fortschritt und Modernisierung blockierten.
Blairs Beziehung zum Neoliberalismus ist viel typischer für die zeitgenössische Ideologie als die Art der expliziten Parteinahme, wie sie von Thatcher vorgelebt wurde. Dabei spielt die globale Flucht des Kapitals in die Finanzspekulation eine entscheidende Rolle. Im gegenwärtigen Plattformkapitalismus wurde nicht nur die allgemeine Individualisierung und Privatisierung der Kultur durchgesetzt, die zum Aufstieg des Silicon-Valley-Libertarismus führte. Das völlige Fehlen einer Regulierung dieser neuen Plattformökonomien führte auch dazu, dass die politische Klasse der Techbranche die dominante Fraktion des Kapitals wurde, was jedoch nur durch die Koalition mit dem Finanzkapital möglich wurde.
Den Autoren geht es in ihrem Buch aber auch um die Erkundung bestehender und neuer Möglichkeiten der Theoriebildung im Bereich der Gramscianischen Hegemonietheorie. Neben der Rekonstruktion der spezifischen Form, die die Finanzwirtschaft seit den 1970er-Jahren angenommen hat, und der Koalitionen zwischen der Tech- und der Finanzbranche versuchen die Autoren, über die im deutschsprachigen Raum bekannten „Hegemonie“-Studien hinauszugehen und den Verengungen der neueren Cultural Studies mit Arbeiten zu Mikrophänomen aus dem Bereich der populären Kultur zu entgehen.
Gleichzeitig ist das Buch auch ein Strategiebuch für die Linke. Neue Möglichkeiten für gegenhegemoniale Strategien zur Rückgewinnung der Macht im Zeitalter von Pandemie, Klimakatastrophe und steigenden Lebenshaltungskosten sehen sie in der Betonung geteilter Interessen und Forderungen – im Gegensatz zum )liberal identitarianism) mit seinen Forderungen nach gemeinsamen Werten, den sie aber nicht mit den legitimen Artikulationen von Vertreter*innen der sogenannten identity politics verwechselt sehen möchten.