Die liberalen Demokratien des Westens befinden sich, obgleich sie erst vor gerade einmal 30 Jahren von so manchem siegestrunkenen politischen Kommentator zum eigentlichen Telos des geschichtlichen Prozesses ausgerufen wurden, in einer überaus ernstlichen, ja vielleicht sogar existenziellen Krise. Denn sie geraten nicht nur von außen in Bedrängnis, werden also von autokratisch bis totalitär verfassten Staatswesen (erneut) in die Schranken gefordert, sondern auch von innen angefochten, das heißt im Rahmen von immer unerbittlicher geführten identitätspolitischen Debatten in ihrem Selbstverständnis hinterfragt. Anfänglich dienten diese Kulturkämpfe vorrangig der Absicht, gesellschaftlichen Minderheiten Sichtbarkeit und damit Anerkenntnis zu verschaffen, mittlerweile erschöpfen sich die Auseinandersetzungen aber nicht selten darin, dass Erniedrigte und Beleidigte sich in digitalen Affektgemeinschaften zusammenfinden, um sich über irgendetwas oder irgendwen moralisch zu empören – oder genauer: zu erhöhen – und dieses Anstößige sodann zu canceln (ohne damit allerdings an den wahren sozialen oder politischen Missständen auch nur zu rühren). Über all dem droht jedoch das Unverfügbare, das demokratisch eben nicht einfach so Aushandelbare, verloren zu gehen.
Mit der Idee eines alle Partikularinteressen – die die identitäre Linke mit Kategorien wie race und gender begründet, während die identitäre Rechte dafür die Idee des Nationalen notdürftig entstaubt – übersteigenden und mithin alle Unterschiede einebnenden radikalen Universalismus wartet nun der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm auf. Als radikal erweist sich dieser Universalismus dabei insofern, als er sich auf einen abstrakten Begriff der Menschheit stützt: Der Mensch tritt hier nämlich bar aller wissenschaftlichen Zuschreibungen auf, wird also nicht als ein irgend biologisches, historisches, politisches oder soziales Wesen betrachtet, sondern ausschließlich moralisch verstanden. Und diese Sittlichkeit, die, ganz kantianisch gedacht, zwar maßgeblich auf der Freiheit beruht, sich erklären und damit die Kausalkette der Natur zerbrechen zu können, verpflichtet den Menschen darauf, einem „absoluten Gesetz“ zu folgen, das uns der Autorität der Gerechtigkeit unterwirft und in den berühmten ersten Sätzen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 seinen mustergültigen Ausdruck findet: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind …“ Diese Selbstverständlichkeit wird von Boehm insofern ernst genommen, als er darauf beharrt, dass die Menschenrechte sich keiner Setzung verdanken, da sie von den Gründervätern nicht erdacht, sondern vielmehr als wahr erkannt wurden. Ihre metaphysische Fundierung garantiert den Menschenrechten damit eine überzeitliche Geltung, welche wiederum allfälligen identitätspolitischen Einwänden gegen die Verfasser als weiße Männer, die überdies noch Sklavenwirtschaft betrieben (Thomas Jefferson!), die Spitze nimmt.
Dass diese Selbstverständlichkeit sich aber trotzdem nicht allen auf Anhieb erschließt, stellt Boehm mit einem Verweis auf Kants Aufsatz Was ist Aufklärung? heraus, in dem die Unmündigkeit bekanntlich als „das Unvermögen, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, erwiesen wird. Die abträglichste Form von Unmündigkeit macht der Autor, entgegen einer allgemeinen Lesart, jedoch keineswegs in der schieren Gedankenlosigkeit aus, sondern vielmehr in einer spezifischen Art des Denkens selbst, bei der wir unseren Verstand – und hier kehrt gleichsam das Mechanische des Naturhaften wieder – auf solch tote Weise gebrauchen, dass „Satzungen und Formeln“, so Kant, zu unseren geistigen „Fußschellen“ geraten: Es droht mithin die Gefahr des Konformismus. Boehm stimmt mit dem Königsberger Aufklärer aber auch noch in dem unerfreulichen Befund überein, dass in der Tat nur wenige dazu berufen sind, dieses Joch der Unmündigkeit abzuschütteln und so dem kopfscheuen Rest als Muster zu dienen – solche, die wir dann mit einigem Recht Propheten heißen dürfen, deren Gewerk ja in der Vermittlung der Wahrheit besteht. Wo können wir aber auf derlei Propheten stoßen? Nun, naheliegenderweise in der Heiligen Schrift, weshalb Boehm schließlich auch darangeht, im Rahmen einer philologisch überaus spitzfindigen Exegese der „Bindung Isaaks“ Abraham zum Urvater des radikalen Universalismus zu erklären, weil der, im Gegensatz zu Moses, der den Menschen das Gesetz und damit den Gehorsam bringt, eine exemplarische Widersetzlichkeit vorlebt und sogar Gott einer höheren Gerechtigkeit unterwerfen will. Wobei Boehm genau darin, also in der Forderung, dass tatsächlich auch der einzig wahre Gott dem Moralgesetz unterstellt sein muss, die eigentliche Neuerung des mit Moses in die Welt kommenden Monotheismus erkennt.
Das ist natürlich, nicht nur für Gläubige, ein starkes Stück (Textkritik). Ebenso stark wie übrigens auch das Lob, das der Autor John Brown singt, einem Abolitionisten, der 1859 mit einer Schar Gleichgesinnter ein Waffenarsenal in Virginia überfiel, um, allerdings höchst erfolglos, einen Sklavenaufstand anzuzetteln – und der wahlweise als Held verehrt oder als Terrorist verteufelt wird. Boehm scheint damit entschlossen, neben der Prophetie durchaus auch das Märtyrertum einkalkulieren und den Fanatismus in Kauf nehmen zu wollen: als Preis für eine alte, schwärmerische Idee von Gerechtigkeit, die vielleicht nicht ganz zu Unrecht in der Moderne der metaphysischen Letztbegründung entzogen und stattdessen der demokratischen Pragmatik anvertraut wurde.