Heft 4/2022 - Lektüre



Gerald Raunig:

Ungefüge

Wien (transversal text) 2021 , S. 77 , EUR 18

Text: Ellen Wagner


Gerald Raunigs Protagonist*innen sind auf Durchreise porträtiert. Sie bilden die „mindere Vorhut“ der Kant’schen Aufklärung in der Geschichte jener Rhythmen, denen der Autor schon 2015 in Dividuum folgte. Nun „ent-fugen“ sie sich zu einer musikalisch „trüben“, „queeren“ Aufklärung: Dem Aufgehen im Selbst oder geschlossenen Kollektiv, im eineAusgangspunkt der Reihe Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, deren zweiter Band Ungefüge nun auf Englisch als Dissemblage bei der Non-Profit-Organisation autonomedia erschienen ist, ist die Anerkennung, dass wir mit der Digitalisierung eine Ganzheit verloren haben, die wir nie besessen hatten. Über Empfehlungen werden wir entlang quantifizierbarer, sich kreuzender Interessen- und Bedürfnisströme geleitet, vielseitig anschlussfähig für Kontroll- und Konsumangebote. Ebenso aber liegt in unserer (Mit-)Teilbarkeit eine Chance, uns nicht als gleich, doch darum ähnlich zueinander zu erfahren. Die Überschneidungen singulärer Lebensweisen laden ein, eine „Unmunt“ zu entwickeln: „den patriarchalen Schutz zu verweigern, die Regierung, die Kontrolle“, „dieser Gewalt […] ein Ungefüge hinzuzufügen, eine unscharfe Menge, einen non/konformen Schwarm“.
Um diese sprachlichen, stimmlichen, sozialen Ungefüge aufzuspüren, geht Raunig auf Zeitreise. In einem Brief (als „Ritornell“ im Buch zu lesen) beschreibt Suely Rolnik die Methode eines Workshops, „in dem wir unser Alter verzehnfachten und danach unser fiktives Geburtsjahr errechneten. Für eine Stunde sollten wir uns in dieser Zeit aufhalten, um von da aus andere Zeiten zu wählen, bis in die Gegenwart“. Ähnlich geht Raunig vor: Beginnend bei Ibn Daud als zentraler Figur der inquisitorisch bedrohten mozarabischen Übersetzungspraxis im 12. Jahrhundert zur mystischen Imitatio Christi der Wilbirg von St. Florian; mit Marguerite Poretes beginisch beflügelten Seelen an der Kirche vorbei zur Deterritorialisierung der Gesangsstimmen bei Curtis Mayfield, Nina Simone – und Ringo Starr, der nicht singen konnte und es trotzdem tat.
Für Raunig ist dieses Vorgehen, das „rücklings in das Vergangene sticht“ (wie er in Dividuum schreibt) und verschiedene Weisen der Selbstübersteig(er)ung im ausufernden Kommentar und in unvermittelter Hingabe streift, Gegenmodell zur algorithmisch kalkulierten Zukunft. Die „Fernnähe“ der Erfahrungen befähigt, Vergangenheit als Potenzial kollektiven „Körperwissens“ zu begreifen. Ein solches Sich-die-Gegenwart zugänglich-Machen, ohne sie vorauszuplanen, beschreibt Raunig anhand urbaner Ungefüge im Viertel Lagunillas in Málaga. Hier trifft man sich nicht zu fester Uhrzeit, sondern „por la tarde“, ohne Anfang, ohne Ende, offen dem gegenüber, wer sich anschließt (und wenn es der streunende Kater ist).
In seinen Schilderungen sozialer Melodien und Rhythmen problematisiert Raunig, wie manche Bewegung ihre Dynamik durch Hast oder Behäbigkeit zu verlieren droht. Das Geschwindigkeitsgefälle eines Gangs oder Vorgehens gegenüber dem dominanten Fluss macht den Unterschied, und auch das Ungefüge braucht in sich den Tempowechsel. So steht der Papayabaum, der „langsam das überflüssigste Mural von Lagunillas überwucher[t]“, ergänzend den spontanen Praktiken und Performances der Bewohner*innen im Viertel bei bzw. gegenüber. Was können Verschönerungsmaßnahmen der Stadtplanung überhaupt beitragen zum Gegebenen, das sich beständig selbst unterbricht? Wie lässt sich quer zu medialen Rhythmen vorgehen, statt ein Bild von Stärke bloß als Kulisse zu bespielen? Wie verhält sich der Überfluss zum Überschuss? Die gemalten Wände des für seine Street Art bekannten Viertels Lagunillas hätten wohl noch mehr Stoff für solche Überlegungen geboten – und vielleicht auch Anlass, die Kontaktzonen des Urbanen mit dem Digitalen zu erörtern, die in Ungefüge ein wenig im metaphorischen „Wortschleim“ der „singende[n] Siris“ unterzugehen drohen.
Raunigs collagierte Protestszenen werfen leise, als potenzielles Echo, zwischen den Zeilen die Frage auf, mit wem wir uns „vielstimmig“ zusammentun, um in den dividuellen Anschlüssen einen Mehrwert und nicht Reduktion im glättenden Kollektiv zu erfahren. Das gilt für künstlerische wie aktivistische Zusammenschlüsse: Wer spricht für wen? Mit wem sprechen wir? Wem spreche ich vor oder nach? Wie solidarisiert man sich über die geografische Entfernung? Wie weit lässt sich über ideologische Distanz hinweg demonstrieren?
Ungefüge ist zum Mit- und Weitersingen gedacht, bricht ab, wo noch weiter zu fragen wäre. Doch das Buch ist vor allem Plädoyer, zur geteilten Stimme zu stehen und Anschlüsse beweglich zu halten. Raunigs Bände beinhalten ähnliche und verschiedene Beobachtungen bzw. Handreichungen zur „molekularen Revolution“. Ein Überschuss angedeuteter Themen scheint jeden Einzelband zu kennzeichnen und sich im jeweils vorherigen oder folgenden auszuprägen – nicht ohne neue Lücken zu reißen. Die „anti-peer-review platform“ transversal texts ebenso wie Minor Compositions – als Teil von autonomedia, das sich als „Serie von Interventionen und Provokationen“ bzw. „assemblage“ versteht – bieten Zwischenräume, in denen der Kanon eine erste Anwendung im Feld des Schreibens und Verlegens findet. Und im Denken auf Durchreise zur Frage nach weiteren konkret geteilten, teilbaren Räumen anschwillt.