Heft 4/2022 - Netzteil


„Playbour“

Das Medienguerilla-Kollektiv Total Refusal reflektiert in seinen neuesten Videospiel-Appropriationen über Existenz und Arbeit infamer Computerspielfiguren

Elisa Linseisen


Total Refusals 31-minütiger Kurzfilm Hardly Working (2022), der auf dem 76. Locarno Film Festival mit dem Best Direction Award ausgezeichnet wurde, endet mit einem Momentum. In der Dämmerung eines anbrechenden Arbeitstags im Open-World-Shooter Red Dead Redemption 2 flackert die Möglichkeit zum Klassenkampf auf. Während sich die schneebedeckten Berggipfel im Hintergrund aus dem Dunkel der Nacht fräsen, verharrt ein Stallbursche die ganze Zeit untätig in Latenz – einer Latenz, die in Revolution umschlagen könnte. Emanzipiert sich der Knecht aus seinem ausbeuterischen Dasein, das aus zermürbender Arbeit besteht? Verbündet er sich mit anderen arbeitenden Videospielfiguren, um gemeinsam gegen ihr mühseliges Dasein zu protestieren? Gegen eine Existenz in der Programmierschleife?
Fragen wie diese bilden den Fokus, den Total Refusal bei ihren Computerspielrevolten in Bezug auf Arbeit, Klasse und Aneignung wählen. Das 2018 von Robin Klengel, Leonhard Müllner und Michael Stumpf gegründete Kollektiv, das später um Susanna Flock, Jona Kleinlein und Adrian Haim erweitert wurde, interessiert sich an der Schnittstelle von Computerspiel, Performance und Film dafür, kritisch in hyperkapitalistische Medienerzeugnisse der Spielindustrie einzugreifen: Total Refusal appropriieren die Spielhandlung, die Spielarchitektur und ihre Statist*innen, um sich gegen das vorgesehene Gameplay zu wenden.
Das Computerspiel ist gleichsam Ziel und Quelle der künstlerischen Intervention. Pseudomarxistisch wäre ihre Praxis deshalb, so das Kollektiv,1 weil sie dem Kapitalismus, den sie kritisieren, nur scheinbar entkommen bzw. nur von innen heraus hinterfragen. Dabei schließen Total Refusal an eine Traditionslinie an, die Künstler*innen seit den 1950er-Jahren praktizieren: Über sogenannte Détournements werden Kunst und Politik aktivistisch verschaltet,2 Güter kapitalistischer Wertschöpfung appropriiert und in ihrer Bedeutung radikal umcodiert. Wo der Ungehorsam gegenüber dem System in Total Refusals frühen Arbeiten, zum Beispiel Operation Jane Walk (2018) oder How to Disappear (2020) auf die humorvolle (wie bitterernste) Offenlegung der gewaltverherrlichenden Dimensionen der Shooter abzielte, handelt es sich bei Hardly Working, Red Redemption (2021), Felt Real, Might Delete Later (2021) und Disaster Tourism (2021) augenscheinlich um marxistische Lektüren.
Welche Arbeiten leistet das Lumpenproletariat in den kapitalistischen Großprojekten? Die Arbeiter*innen finden sich an den Rändern des Gameplays, denn ganz offensichtlich handelt der Westernshooter Red Dead Redemption 2 nicht vom in der Stille verharrenden Stallburschen, genauso wenig wie von einem Tischler, der tagein tagaus vier Nägel ins Holz schlägt, der Wäscherin, die unermüdlich ein Stück Stoff schrubbt, oder von einer Straßenkehrerin, die nur bei Regen ihre sonst gewissenhaft ausgeführte Kehrarbeit niederlegt. Sie alle existieren jedoch im Spiel, erlangen aber erst durch die behutsame Beobachtung von Total Refusal an Bedeutung.
In der Performance Red Redemption führt das Kollektiv ihr Publikum live durch Red Dead Redemption 2, genauer: durch St. Denis, einen Hauptschauplatz in der Gamearchitektur. Der soziografische Aufbau der Stadt soll an New Orleans um 1900 erinnern und reproduziert hyperrealistisch nicht nur Häuserfassaden, sondern auch Klassengefälle. Total Refusal zeigen auf die faule Bourgeoisie und geben auf ihrem Weg durch die Stadt eine Einführung in Klassenanalyse. In Hardly Working handelt es sich um eine Arbeitsethnografie der NPCs3 – der Non-Playable Characters, die Computerspiele bevölkern und dem Spiel mit ihrem rudimentär animierten Dasein Leben einhauchen.
Im Sinne einer „Anthologie der Existenzen“, wie sie Michel Foucault in Das Leben der infamen Menschen anfertigt, sammeln auch Total Refusal den Ausdruck der „niedrigen Leben“ jenseits der großen Figuren der (Computerspiel-)Geschichte.4 Bei Foucault sind es brutale Zusammenstöße mit der Macht, die sich in den Dokumenten des französischen Internierungswesens des 17. und 18. Jahrhunderts niederschlagen und dort die Leben der infamen Menschen bezeugen.5 Der Ausdruck der infamen Computerspielfiguren ist dagegen kein wütender, in Worte gefasster, sondern eine unvermeidbare aleatorische Störung in Informationskanälen: das Glitch. Glitches boykottieren mit ihrer defektiven Kontingenz den Mythos von lupenreiner Signalübertragung: „Flow cannot be understood without interruption, nor function without glitching“6, schreibt Rosa Menkman in ihrem Glitch Studies Manifesto. In Computerspielen treten Glitches vermehrt auf, wenn die Infamen Aufmerksamkeit erlangen. Dann zeigen sich Idiosynkrasien der Programmierung, die das Gameplay unterlaufen, weil die NPCs innerhalb der lückenlosen Arbeitsabläufe ins Stocken geraten. Die NPCs gewinnen, ähnlich wie in Foucaults Ausführungen, durch das Glitching eine affektgeladene Intensität, die ihnen jenseits der Programmierloops eine Existenz verleiht.
Das Glitching bricht mit der hyperrealen Ästhetik der Computerspiele, die von der Arbeit der NPCs stabilisiert werden soll, und entlarvt dabei zugleich die Arbeitsbedingungen der Personen, die diese zuallererst erzeugen: An der Entstehung eines AAA-Computerspiels, an dem Auftrag, einen möglichst störfreien, immersiven Raum zu bauen, sind Tausende von Programmier*innen beteiligt. Ihre hyperkapitalistischen Arbeitsbedingungen beschreibt McKenzie Wark in Capital is Dead als „Hirnfritteuse“7. Wo Arbeiter*innen der Industriegesellschaft noch ihre Körper malträtierten, werden die Arbeiter*innen der Informationsgesellschaft kognitiv ausgebeutet. Die Arbeit passiert im Kopf, während unzählige Stunden vor dem Bildschirm den neuronal-sensorischen Apparat „frittieren“. Dass gerade die Spielindustrie einen großen Verschleiß an fried brains vorweisen kann und das noch dazu an der Grenze von un/bezahlter Arbeit, beschreibt Julian Kücklich als „Playbour“:8 Viele Gamer*innen tragen zum immensen kapitalistischen Erfolg der Spiele bei, ohne je einen Cent zu sehen. Sie modifizieren durch sogenanntes Modding die Spiele (im weniger radikalen und unterlaufenden Sinne als Total Refusal) und gehen Risikos ein, die die Unternehmen selbst nicht in ihren Businessplänen verbuchen wollen. Sie arbeiten an der Popularität der Spiele, ohne für ihre Arbeit entlohnt zu werden.
Damit wird der politische Einsatz, den Total Refusal mit ihren Computerspiel-Appropriationen demonstrieren, evident: Spielen ist niemals unschuldig, niemals unpolitisch und niemals frei von Arbeit. Unter dem Vorzeichen des „Playbour“ ist der Aufruf am Ende von Hardly Working daher nicht nur an die Arbeiter*innen im Spiel, sondern gleichermaßen auch an die Personen vor den Bildschirmen gerichtet: „Can we start glichting?“

 

 

[1] https://vimeo.com/603150964 und https://www.derstandard.de/story/2000138182610/heimisches-kollektiv-total-refusal-marxismus-ist-auch-nur-ein-spiel.
[2] http://www.bopsecrets.org/SI/detourn.htm
[3] https://vimeo.com/603150964
[4] Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen. Berlin 2001, S. 10.
[5] Ebd., S. 16.
[6] Rosa Menkman, The Glitch Moment(Um). Institute of Network Cultures, 2011, S. 11; https://networkcultures.org/_uploads/NN%234_RosaMenkman.pdf.
[7] McKenzie Wark, Capital Is Dead. Is There Something Worse? London 2019.
[8] https://five.fibreculturejournal.org/fcj-025-precarious-playbour-modders-and-the-digital-games-industry/