Chimurenga nahm aus der Ferne an der documenta fifteen teil: „Wir waren selbst nicht in Kassel, obwohl ich mir all der Kontroversen bewusst bin, die von dort ausgingen“, versichert Ntone Edjabe, der Gründer dieser südafrikanischen Redaktionsplattform.1 Tatsächlich wurde die Geschichte dieser documenta unter anderem von Beschimpfungen, offenen Briefen, Rücktrittsschreiben, Plattformen und Foren (zum Beispiel (un)Commun grounds, Framer Framed, Amsterdam) geprägt. Genug Material für einen in der Akteur-Netzwerk-Theorie bewanderten Forscher, um eine Fallstudie durchzuführen: Durch die Beobachtung und Kartografierung von Kontroversen, so würde dieser Forscher sagen, werden die Mechanismen zur Entstehung eines Phänomens sichtbar und damit nachvollziehbar.2
Aber Ntone fügt sofort einen Einwand hinzu: „Ich bin generell kritisch gegenüber der übertrieben starken Sichtbarkeit von Schwarzen in Blockbuster-Events wie der documenta eingestellt, während sie in der alltäglichen Kulturproduktion und -aktivität unsichtbar sind“.
Chimurenga entschied sich für eine „Spektralpräsenz“ per Ton – in Form von Radio Chimurenga, das einige Tage lang sendete. Es ging um die Fortsetzung einer historischen Recherche, die zu Städten durchgeführt wurde, in denen panafrikanische und nationale Befreiungsbewegungen stattgefunden hatten (Kairo, Accra, Alger, Dar es Salam etc.) und in denen antikoloniale Radioprogramme ausgestrahlt wurden. Andere Beiträge zur documenta fifteen arbeiteten mit antikolonialen und dekolonialen Vorstellungswelten, und einige Kontroversen, die Ntone nicht entgangen waren, hatten hier ihren Ursprung.
ruangrupa, das indonesische Kollektiv, das für diese documenta verantwortlich zeichnete, band Chimurenga zu einem relativ frühen Zeitpunkt in die Vorbereitung der Ausstellung ein. Es lud – wohl aus Wahlverwandtschaft – 14 andere Kollektive ein, die ihrerseits 53 andere Gruppen, Verbände und Einzelpersonen einluden.3 Anstatt sich auf eine geschlossene Liste von Künstler*innen zu beschränken, stieg die Zahl der Teilnehmer*innen während der 100 Tage ständig an. In einigen Pressemitteilungen wurde eine Zahl von über 1.500 Teilnehmer*innen kolportiert. In dieser Hinsicht ist die Teilnahme von Chimurenga repräsentativ für die Funktionsweise dieser documenta: Es gab keine speziellen Produktionen für die Schau, sondern eine Verlagerung von Projekten, die anderswo stattfanden, nach Kassel. Und an erster Stelle stand dabei der Export von lumbung nach Europa. Dieser indonesische Begriff bezeichnet, so erklärt uns ruangrupa, einen Reisspeicher, dessen Überschüsse gemeinschaftlich verwaltet werden. Dieser letzte Punkt ist entscheidend. Was wäre, wenn die documenta auf das lumbung-Modell umstellte? Ein solches Programm müsste den Übergang von der Metapher des Agrarmodells zu seiner Wirksamkeit in der Kunst bewerkstelligen. ruangrupa holte dieses Projekt aus dem Konjunktiv heraus. Es wurde eine Entscheidung für das Kollektiv, für eine offene Gemeinschaft und für das Teilen von Ressourcen getroffen: Alle damit in Verbindung stehenden Bedeutungsebenen wurden auf die politische und wirtschaftliche Abwicklung der documenta umgelegt. Das Prinzip lumbung führt zu einer horizontalen, dezentralisierten und an andere delegierten Verwaltung – ein Organisationsmodell, das ruangrupa teilen und verbreiten möchte.4 Die Tatsache, dass man sich keiner übergeordneten Autorität unterwirft oder Rechenschaft gegenüber einer solchen ablegt, löst jedoch nicht die Frage nach der Übertragung des lumbung – ebenso wenig, würde ein Akteur-Netzwerk-Forscher sagen, wie die Frage nach seiner praktischen Anwendung. lumbung ist in Indonesien ein bewährtes Mittel, um eine mangelhafte künstlerische Infrastruktur zu kompensieren. Was geschieht aber mit ihm, wenn es an einen anderen Kontext angepasst werden muss, wo die Institutionalisierung der Kunst stark und fest verankert ist?
Ntone erklärt dazu: „Ob man es nun lumbung oder anders nennt, man erkennt es sofort wieder, denn es ist eine Vorgangsweise, die wir ebenso wie viele andere der eingeladenen Gruppen verfolgen. Ich schätzte es also, dass ruangrupa eine Plattform schufen, auf der wir in eigenem Namen agieren konnten – nicht nur, um uns selbst darzustellen oder zu vertreten, was das übliche Anliegen ist, sondern es gab eine echte Möglichkeit, Gegenseitigkeit zu erfahren. In diesem Kontext hatten die Teilnehmer*innen die Ökonomie (also die Politik) der Produktion selbst in der Hand. Dies birgt natürlich enorme Risiken für die Institution. Und die Grenzen der Rhetorik der Dekolonisierung treten hier für alle klar zutage.“
Damit meint er wohl die gerechte Aufteilung der 42 Millionen Euro des Budgets zwischen Künstlerkollektiven und jedem der Gäste (25.000 Euro als Basis, 180.000 Euro für die Umsetzung). Das Projekt von ruangrupa versuchte also, die Institution documenta auf der Basis von lumbung neu zu definieren. Um Ntones Worte umzuformulieren: Dieses Projekt setzte eine institutionelle und dekoloniale Kritik in die Tat um. Selbst in Bezug auf das Medium Ausstellung blieb in Kassel kein Stein auf dem anderen. Die Berichte zeugen von einer überbordenden Fülle verschiedener Formate: Treffen, Workshops, Mahlzeiten, Diskussionen, Spaziergänge, Veröffentlichungen, pädagogische Sitzungen über die Rolle der Kunst weit über die Ausstellung hinaus.
In vielerlei Hinsicht stellt das Projekt von ruangrupa einen Höhepunkt in der Kritik dar, die die eigenen eurozentrischen Grundlagen des Ökosystems der zeitgenössischen Kunst erkennt und analysiert. Diese Bewegung hat eine lange Geschichte mit vielen Wendungen hinter sich. Die Ausstellung Magiciens de la terre (Centre Pompidou und Grande Halle de la Villette, Paris, 1989) ist ein emblematischer Meilenstein. Ihr Weg wurde auch durch die documenta X (1997) von Catherine David und die documenta11 (2002) von Okwui Enwezor gekennzeichnet. Auch Magiciens de la terre war eine polemische Ausstellung. Es wäre gewagt, aber verlockend, sie der documenta fifteen gegenüberzustellen. Die Pariser Organisator*innen wollten damals mit einem Eurozentrismus brechen, den sie in Wirklichkeit nur bekräftigten, und wählten die Kategorie „Zauberer“ (magiciens), um jene der „Künstler*innen“ zu vermeiden, von der sie dachten, dass sie zu sehr mit der europäischen Kunst verbunden sei. Sie hofften, auf diese Weise Neuland in der zeitgenössischen Kunst betreten zu können. 1989 sprach man noch von den „Ländern der Dritten Welt“. Es herrschte der Typus des Entdeckerkurators auf der Suche nach Neuem in der Ferne vor. Heute ist eher die Rede von einem revanchistischen globalen Süden, der angeblich einen Teil des hegemonialen globalen Nordens verunsichert.
Der Einsatz von lumbung beleuchtet die blinden Flecken normativer Betrachtungsweisen durch die Brille eines institutionellen Ansatzes. Diese Initiative könnte Früchte tragen. Auf dem afrikanischen Kontinent tauchen bereits verschiedene Gegenstücke zu lumbung, die angeblich aus vorkolonialen politischen Registern stammen, in der Kunstszene auf: Bulungi Bwa’nsi in Uganda, Letsema in Lesotho, Maaya in Mali, Makhzen in Algerien und Ubuntu in Südafrika. Der letztgenannte Begriff wurde zur Zeit der Versöhnungskommission nach dem Ende der Apartheid populär. Die Idee hinter Ubuntu lässt sich in der Maxime zusammenfassen: „Ich bin, was ich bin, dank dem, was wir sind.“
Ntone fährt fort: „Jenseits der philosophischen und erkenntnistheoretischen Bedeutungsebenen oder sogar der Idealisierung, die man im Kontext von Kunst antrifft, wenn man Menschen von Kollektivität sprechen hört, gibt es ein praktisches Wissen, das über Jahre voller Freud und Leid in vielen verschiedenen Situationen gesammelt wurde.“
In Südafrika wird lumbung weiterverfolgt. Die Gruppe MADEYOULOOK schuf, nachdem sie an der documenta teilgenommen hatte, im November 2022 ein Programm von Begegnungen namens lumbung.jozi, das an verschiedenen Orten in Johannesburg stattfand.5 Das Prinzip wirkt also weiter.
Übersetzt von Isolde Schmitt
[1] Interview mit Ntone Edjade, November 2022.
[2] Siehe Bruno Latour, Changer de société, refaire de la sociologie, Paris 2006. (Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt am Main 2007.)
[3] Die Ankündigung der Hauptteilnehmer*innen erschien im Oktober 2021 in Asphalt, einer Straßenzeitung, deren Gewinn Obdachlosen zugutekommt.
[4] Für ein Verständnis der verschiedenen Bedeutungsebenen von lumbung in Indonesien siehe Christina F. Kreps, Liberating Culture. Cross-Cultural Perspectives on Museums, Curation and Heritage Preservation. London/New York 2003.
[5] http://www.made-you-look.net/lumbungjozi