Bregenz. Die Luftzüge des Ventilators, die die bedruckten und bemalten Segeltücher The Uprising (2022) im Erdgeschoss des Kunsthaus Bregenz (KUB) bewegen, sind zaghaft und punktuell. Sie geben eingangs neben zwei von der Decke hängenden Ringen, an denen bunte Fäden mit Konterfeis von so unterschiedlichen Protagonist*innen wie Che Guevara, Elfriede Jelinek oder des amerikanischen Erfinders der Basisstation für drahtlose Kommunikation und des mobilen Datentelefons, Jesse Russell, hängen, eine erste Ahnung des Geschichtssinn schärfenden Ausstellungsprojekts Anna Boghiguians. Im ersten Stock des Hauses wartet eine Schachbrettinstallation der 1946 in Kairo geborenen ägyptisch-kanadischen Künstlerin armenischer Herkunft. Im Vergleich zu einer ersten, bereits anlässlich des diesjährigen 25-jährigen Jubiläums des KUBs in der Scuola di San Pasquale zur Biennale in Venedig gezeigten Variante von The Chess Game (2022) ist die Arbeit hier um weitere Figuren ergänzt: Insgesamt sind es dennoch nicht wie im Schach üblich 32 Figuren, sondern nur 21 expressiv karikierte Porträts einflussreicher Persönlichkeiten mit größtenteils Österreich-Bezug.
Ein im Raum aufliegender Block mit Blättern nummerierter Abbildungen der in Wachsfarbe Festgehaltenen zu abgleichender Entnahme enthält auch kurze biografische Erläuterungen der Künstlerin zu den Figuren, die von der geborenen Erzherzogin von Österreich und späteren Königin von Frankreich, Marie-Antoinette (1755–93), ihrem Leibfriseur Léonard Autié (ca. 1746/51–1820), dem Thronfolger Franz Ferdinand (1863–1914) und seinem Attentäter Gavrilo Princip (1894–1918) reichen. Neben echten Schachfiguren, wie einem Pferd (Springer), einem Turm, über weitere Protagonist*innen wie Ludwig Wittgenstein, Sigmund Freud, Theodor Herzl, Bertha von Suttner oder Josephine Baker, ist da auch der österreichische, als Dr. Tod bzw. als Schlächter von Mauthausen berüchtigte Aribert Heim (1914–92), der sich noch in einer weiteren Arbeit der Ausstellung findet. Durch die Verspiegelung der weißen Spielfelder sind die Silhouetten der Figuren, die teils über den Bodenfeldern hängen und rote oder schwarze Rückseiten aufweisen, wie auch ihre Positionen, Bewegungsrichtungen, Spiegelungen und Schatten, kaum auf ein Spielfeld zu reduzieren. So definiert ihr Radius aufgrund der Schachspielregeln sein müsste, so unbeeindruckt wirken sie in ihrem erkennbaren Selbstbezug als historische Figuren.
Die Frage, ob hier jemand spielen, Figuren verstecken, auf Macht und nachwirkende historische Einflüsse aufmerksam machen will oder ob die Figuren überhaupt nur in spielerischer Konkurrenz stehen, wird hier multiperspektivisch geöffnet und die Gegner*in scheint dabei jedenfalls kein Computer zu sein. Ein sich im Raum befindlicher Vitrinentisch mit darin aufgelegten Reistagebüchern gibt Auskunft über die protokollierende Zeichenweise der weitgereisten Künstlerin, die stets und auch für die Ausstellung Period of Change vor Ort in Bregenz recherchierte. Dies erschließt sich im Detail in einer ebenfalls neuen Serie von 96 Zeichnungen, die einen sehr weiten historischen Bogen schlagen. Die Künstlerin geht darin stilistisch sehr vielfältig vor: von zeichenhaften Darstellungen prägender historischer Ereignisse und Entwicklungen, die sie gestalterisch sehr unterschiedlich und sujetbezogen ausführt, bis zu partiell ausgeführten Details innerhalb der Zeichnungen, Text-Bild-Überlappungen, Überschreibungen, genähten Titeln, bunten Akzentuierungen, Folien, Aussparungen und Überzeichnungen, Verhandlungsprotokollen gleich, die unabhängig vom zeitlichen Abstand eine große und lebendige Nähe zum visualisierten Geschehen herstellen.
So gelangen unter anderem so sozial und historisch spannungsreiche Vorkommnisse wie die französische, amerikanische oder auch haitianische Revolution des 18. Jahrhunderts, die Geburt der Haute Couture, die Ermordung Franz Ferdinands, Ausbruch und Ende des Ersten Weltkriegs, Lenins Zürich-Aufenthalt und die Frage des Einflusses des im Cabaret Voltaire zeitgleich wütenden Dada auf die russischen Revolution bis zu den israelisch-ägyptischen Friedensverhandlungen in Camp David 1978 oder die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar el-Sadat 1981 sehr frisch ins Bewusstsein und können dort produktive Reflexionen herbeiführen. Einen Schwerpunkt innerhalb dieser faszinierenden Bündelungen und Überblicke historischer Stränge und Linien bildet die leider typische Lebensgeschichte des bereits erwähnten SS-Arzts Aribert Heim: von seiner Ausbildung in Graz, dem Beitritt zur SS über seine Stationen als barbarischer „Arzt“ in den KZs Sachsenhausen, Buchenwald sowie Mauthausen, wo er nicht nur jüdischen Insass*innen intrakardiale Giftinjektionen setzte, sondern weiters in anderen Fällen besonders sadistisch bei lebendigem Leibe Organe entnahm. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft und ständigen Unschuldsbeteuerungen ließ er sich in Deutschland nieder, tauchte nach einem internationalen Haftbefehl 1962 in Kairo unter, wo er von den Einnahmen eines Berliner Mietshauses lebte, zum Islam konvertierte, ehe er bis dahin unentdeckt 1992 als Tarek Hussein Farid an Darmkrebs starb.
Der deutsche Soziologe und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer hegte öffentlich einst Zweifel an der zeitgenössischen Kunst als ästhetisches Mittel zur Konstruktion einer konsistenten Geschichte, da sie „fragmentarisiert, zerstört und […] gerade jene Einheit auf[löst], die der allgemeinen Geschichte als Ziel der Erkenntnis immer noch vorschwebt“1. Doch auch die, diese bedeutsame Ausstellung im dritten Stock abschließende multimediale Installation Dive into the Dark Dive Box und das darin auf eine rotierende Spiegelbühne geschmierte „It is the tale not the actors, the story can change according to times“ der nunmehr 76-jährigen Anna Boghiguian verweist auf das bedachte Potenzial und die eindeutige Umsicht der Kunst darin, die Geschichte komplett, umfassend und immer wieder zu erzählen.
[1] Hans Robert Jauß (Hg.) Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (Poetik und Hermeneutik, 3). München 1968, S. 559–581.