Wien. Die in Bani Abidis neuem Film The Song vom Protagonisten mit offensichtlichem Migrationshintergrund in Besitz genommene Wohnung wirkt verschlossen, wenn nicht abgeschieden wie ein Hortus Conclusus, und wie im legendären von Mauern umgebenden Garten sprießt und gedeiht es auch in der Wohnung. Ebenso topografisch-räumlich angelegt ist das Modell der Erinnerung mit Bildern aus seiner Heimat im Nahen oder Mittleren Osten, bevor es der Ton, der Gesang ist, der den Part der Erinnerung übernimmt. Die Soundinstallation, die im Laufe des Films entsteht, trennt einmal mehr das Innen vom aktuellen Außen, ruft aber das andere, nun ferne Außen wach: „This film is about homesickness“, wie Abidi selbst sagt.1
Dem älteren Mann, der gerade in Europa angekommen zu sein scheint, ist die Wohnung vermutlich zugeteilt, wenn nicht zugewiesen worden. Sie ist sehr funktionell mit wenigen Möbeln und den notwendigsten Utensilien ausgestattet. Im Zimmer bröckelt der Putz. Er ist fremd und allein, und in der Wohnung ist es zunächst still. Ruhig, fast gelassen geht er den alltäglichen Tätigkeiten wie Beten, Lesen, Essen oder Schlafen nach. Er ist Muslim und spricht arabische Gebetstexte, bleibt aber ansonsten anonym und stumm. Gerne würde man den Titel des Buchs erkennen können, das er bisweilen liest. Verbindung zur Außenwelt sind seine Einkäufe, die er mühsam die Treppen emporträgt und die ihm teilweise zum Basteln von Objekten dienen. Geräusche in der Wohnung wie Radioapparat oder kochender Wasserkessel scheinen ihn dazu angeregt zu haben, jene anderen Geräusche nachzubilden und herzustellen, die ihm die Erinnerung aus seiner Heimat zuspielt. Zunächst richtet er sich in der Wohnung ein, viel Gepäck hat er sowieso nicht, und sein Blick geht vermehrt nach draußen. Wenn er auf dem Balkon steht, sieht man, dass er sich in Zentrum Europas (Deutschland?) in einer großen Stadt befindet. Dieser Blick wird bald durch Bilder von ihm vertrauter Orte überblendet, die wie ein Echo in sein neues Domizil eindringen, und auch die wenigen Worte, die er im Laufe des Films spricht, wirken bisweilen wie ein Nachhall von anderswo.
In der Küche also entstehen aus Alltagsmaterialien gefertigte Klangobjekte. Diese sind keine herkömmlichen Musikinstrumente und wollen auch keine sein. Sie erinnern bisweilen an die bizarren Soundobjekte der Neoavantgarden, wenn etwa John Cage dem Klavier mit Schrauben, Gummis oder anderen Gegenstände schräge und neue Töne zu entlocken wusste. Freilich auch, weil ihm die Technik fehlte, die allerdings auch unserem Protagonisten fehlt, der sich mit seinen anachronistischen Klanggebilden durchaus in die Nähe der Neuen Musik stellt, die sich im Umkreis von Cage durch Absichtslosigkeit und Zufälligkeit auszeichnete. Ventilator, Milchaufschäumer, Metallteile, Plastiktüten oder elektrische Zahnbürste, die teilweise in der Wohnung vorhanden, teilweise erworben werden, ergeben ein Ton- und Lautgemenge, das repetitiv und ohne Unterbrechung einen kontinuierlichen Soundtrack erzeugt. Dieser wird Teil des Ambientes wie er selbst und füllt die Wohnung mit Geräuschen seiner Heimat, indem die räumliche Trennung von einem orchestralen Unisono überblendet wird, das den im Sessel sitzenden Protagonisten umgibt.
Abidi baut die Handlung ebenso lakonisch und bisweilen humorvoll positiv auf, wie sie als tragisch und leidvoll verstanden werden kann. Sie ist gleichermaßen subjektiv, wie sie allgemein auf die Traumata von Flucht und Migration rekurriert. Zwischen Individuellem und Allgemeinem setzt Abidi immer wieder Erinnerung und Gedächtnis gegeneinander. Welche Rolle kommt dabei dem Protagonisten zu? Er ist ebenso Individuum und Hauptdarsteller wie Erfinder und Dirigent. Er ist aber auch Zeuge von historischen Ereignissen, die, auch wenn sie nicht näher benannt werden, uns allen durch die aktuellen Migrationsbewegungen bekannt und geläufig sind. Über die Medien werden sie uns dramatisch und einseitig vermittelt. Übersetzt auf die Ebene des Tons ist es dennoch nicht die westliche „Tragödie des Hörens“, wie sie etwa Luigi Nono für sein Spätwerk in Anspruch nahm, die Abidi sucht. Was entsteht, ist vielmehr eine fast komödiantisch inszenierte „private Gegenöffentlichkeit“, die ebenso persönlich anmutet, wie sie Zeugenschaft von Migration und Vertreibung, Fremde und Nähe, Ein- und Ausschluss ablegt.
Für den Film wurde der große Raum im Salzburger Kunstverein in ein Kino verwandelt, in dem der 22-minütige Film in optimaler Kinoausstattung mit Beginnzeiten gezeigt wird. Ein kleinerer Teil des Raums wurde für eine zweite Arbeit der Künstlerin abgetrennt, die ebenfalls von einer Klanginstallation bestimmt ist. Als Referenz zur Ausstellung liegt die neue Publikation von Bani Abidi auf, die mit dem Titel The Artist Who 2022 bei Hatje Cantz erschienen ist. Für Salzburg entstand ein knappes Textheft, das man sich ausführlicher und sachlicher gewünscht hätte.
Die zweite Arbeit, die man von der Rückseite des großen Raums begeht, ist 2016 für das Edinburgh Art Festival entstanden: Memorial to Lost Words fragt nach Vergessen und Amnesie, wenn Abidi an die indischen Soldaten erinnert, die während des Ersten Weltkriegs in der britisch-indischen Armee dienten. In den großen Erzählungen des Ersten Weltkriegs kommen diese jungen Männer kaum vor, obwohl sie in großer Zahl ihr Leben für das Empire lassen mussten. Abidi, die selbst aus Pakistan stammt und seit 2011 in Berlin lebt, hat Briefe recherchiert, die die Soldaten nach Hause geschrieben haben, von denen nun 24 gezeigt werden. Neben den Briefen sind es ebenso vergessene Volkslieder aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, die von Frauen stammen und gegen den Krieg gerichtet sind. Abidi führt diese beiden Erzählstränge zusammen und stellt sie in einem Gesang männlicher und weiblicher Stimmen (arrangiert von Ali Aftab Saeed) einander gegenüber.