Essen. Bereits William Henry Fox Talbot hat mit seinem berühmten Fotobuch The Pencil of Nature von 1844 die unterschiedlichsten Nutzungsmöglichkeiten der Fotografie ausdifferenziert. Für den Fotopionier, der mit dem Kalotypieverfahren die Negativmethode zur Reproduktion von Papierabzügen in hoher Auflage erfand, bestand der Nutzen der neuen Technik in dem hohen Informationsgehalt. Dennoch bestand der Vorteil vor allem darin, Bilder zu schaffen; Bilder in höchster Präzision und Detailhaftigkeit. „If you don’t have a photographic memory, get one“; und zwar mit einer Kamera und Negativfilm, warb über ein Jahrhundert später die Firma Kodak.
Durchstreift man das aktuelle Ausstellungprojekt Image Capital der Medienwissenschaftlerin Estelle Blaschke und des Künstler Armin Linke, so fällt vor allem eines auf: Die Entwicklung fotografischer Reproduktionsmöglichkeiten fällt paradoxerweise immer bilderloser aus. Blaschke und Linke versuchen, mit ihrem Forschungsprojekt eine Geschichte der Fotografie als Informationstechnologie aufzuzeigen, und subsumieren erstaunliches und historisch facettenreiches Material. Die künstlerische Fotografie ist dabei (zunächst) gänzlich ausgelassen, ebenso das Arsenal journalistischer Bilder. Im Zentrum der Ausstellung stehen weniger die visuellen Erzeugnisse denn die Materialien und Apparaturen, mit denen sie erzeugt werden. Zudem geht es in der Ausstellung auf vorbildliche Weise geordnet zu. Denn mit der schnellen und systematischen Produktion von Bildern war ihr Sammeln, Ordnen und Archivieren verbunden. Für Blaschke und Linke ist Fotogeschichte immer auch eine Geschichte der Herstellung von Ordnung mithilfe ihrer dafür erfundenen Instrumente, vom Fotoalbum zum Kontaktbogen, vom Zettelkatalog zur Bildsuchmaschine.
Während Talbot seinerzeit das Fotobuch mit 24 Beispielbildern kommentierte, entwickeln Blaschke und Linke umfassende Ordnungskriterien wie „Memory“, „Protection“, „Access“, „Imaging“, „Mining“, „Currency“. Auch das Ausstellungsdisplay ist konzeptuell höchst präzise, konsequent, fast ein wenig zu pädagogisch durchdacht. Die Kapitelthemen sind als Wandzettel angebracht, ausführlichere Texte in Vitrinen ausgelegt. Objekte und Apparate im Raum werden von exemplarischen fotografischen Bildern flankiert, die ihre Wesenhaftigkeit (als Abzug, Scan, Aufzeichnung, Dokument oder Screenshot) selbst thematisieren. Auf Bögen geprintete Beispielbilder sind in „sargähnlichen“, an der Wand lehnenden Rahmen angebracht. Ein ebenso nachhaltiges wie praktisches Display. Sie sind leicht zu transportieren; eine Metapher dafür, dass Bilder heute omnipräsent sind
Fotografie ist vor allem über Jahrhunderte ein archivalisches Instrument gewesen. Die Ausstellung zeigt daher als Erstes einen berühmten Zettelkasten aus dem kunsthistorischen Institut in Bologna. So wichtig der reproduktive Charakter der ersten 150 Jahre war, so wichtig ist heute die Bewahrung der Informationen, die Sicherung der Daten. Das Kapitel „Protection“ beschäftigt sich damit, wie nicht nur Kulturgut, sondern vor allem die immensen Datenmengen aus dem Banken- und Wirtschaftswesen verwahrt werden. Vereinfacht resümiert: je mehr Daten, desto größer ihre Komprimierung. Der Mikrofilm wurde vor allem für das Bankwesen erfunden. Wie wertvoll Daten heute sind, wie Datenklau und Virenattacken ganze Infrastrukturen aushebeln können und daher ungewöhnliche Schutzmaßnahmen ergriffen werden, zeigt anschaulich ein Foto aus einer ehemaligen Kalksteinmine in einer abgelegenen Gegend im Westen Pennsylvanias. Das unterirdische Lager beherbergt riesige Sammlungen von Fotografien, Zelluloidfilmen und Originaldokumenten, darunter jene des US-Patentamts und des Nationalarchivs. Ein weiteres Filmdokument führt durch niemals enden zu scheinende unterirdische Gänge mit Servern. Quantität ist längst keine fassbare Kategorie mehr für Fotografie. Mit der Digitalisierung ist ihr zudem ein neuer Zustand als Binärcode zugekommen. Eine Fotografie ist nun weniger das Bild denn eine visuelle Oberfläche eines Codes, eines Datenkörpers, unter dem sie abgespeichert ist. Die mit ihrer Ordnung verknüpften Metadaten (wie Keywords, Geodaten, Bildunterschriften, Hashtags, Likes) sind an materielle Infrastrukturen (Kabel, Bildschirme, Server, Stromnetze) gebunden, um überhaupt sichtbar zu werden.
Faszinierend ist, wie die beiden Initiator*innen des Image Capital-Projekts unterschiedlichste Felder abstecken, um zu zeigen, welche Möglichkeiten sich mit der neuen Welt der Big Data ergeben, von Luftbild und Satellitenfotografie. Dem großen Ganzen steht zudem das kleine Besondere gegenüber, das mittels fotorealistischen Renderings einen ebenbürtigen Doppelgänger erhält und allerorts eingesetzt wird. Von den Visualisierungssystemen hin zu den Bausteinsystemen virtueller Räume profitieren Architektur, Produktdesign, Gaming-Industrie bis hin zum Online-Handel. Wie Bilder von sich selbst lernen, zeigt ein dokumentarischer Film aus einem riesigen Gewächshaus. Kameras erkennen den Reifegrad von Rispentomaten und animieren Roboterarme, diese zu pflücken. Wie weit die Kapitalisierung von fotografischen Aufnahmeverfahren reicht, lässt sich an diesem Beispiel nur erahnen.
Fotografische Bilder sind Kapital und dokumentierten von Beginn an das rasante Wachstum der Industriegesellschaften. Auch hier hilft ein Beispiel aus den Anfängen der Fotografie. Bereits Oliver Wendell Holmes zog Parallelen zwischen dem Doppelcharakter von Banknoten und Fotografien als virtuelle und materielle Werte. Reproduzierbare Bilder sind wie Rohstoffe, die in „Bilderbanken“ verwahrt werden. Zugleich wurden und werden für ihre Produktion wertvolle Rohstoffe verbraucht.
Das umfangreiche Forschungsprojekt von Blaschke und Linke ist auf Langfristigkeit angesetzt und setzt auf rhizomartige Vernetzungen von Protagonist*innen zahlreicher Wissenschaftsdisziplinen. Es wurde hier in einem ersten Schritt eine Vielfalt an Materialien zusammengetragen, mit losen Enden, die sich weiterknüpfen lassen. Geplant ist zudem die umfangreiche Open-Access-Publikation image-captial.com.
Weitere Stationen der Ausstellung: Centre Pompidou/Paris (Herbst 2023), Deutsche Börse Photography (Herbst 2023).