Heft 4/2022 - Netzteil


Technologien des „Zusammenwerdens“

Über die Ausstellung Earthbound. In Memoriam Karin Ohlenschläger

Yvonne Volkart


Karin Ohlenschläger hätte diese Ausstellung gemocht. Sie mochte innovative Medienkunst, die technophil, aber nicht technokratisch ist; sie mochte hybride TechnoNaturen; und sie mochte Ausstellungen, in denen „Natur“ mit den Mitteln der Technik verhandelt oder gar zu retten gesucht wird. Alles das ist Earthbound. Im Dialog mit der Natur, eine Ausstellung im Baseler HEK, die Sabine Himmelsbach zusammen mit Boris Magrini ursprünglich für die Möllerei in Esch, europäische Kulturhauptstadt 2022, konzipiert und realisiert hat. Doch Karin Ohlenschläger, Kuratorin in Spanien (unter anderem von LABoral in Gijón), die so viele Medienkunstprojekte ermöglicht hat und mit der Sabine Himmelsbach und ich Ökomedien (2007) und Eco-Visionaries (2018) kuratierten, hat sie nicht gesehen. Wird sie nicht sehen. Sie ist im August verstorben, zurückkehrt zur Erde, an die wir mit unseren (bzw. trotz unserer) Technologien, so der Ansatz der Ausstellung, gebunden sind. Es ist dieser partiell geteilte Weg, dieser rote Faden gemeinsamer Leidenschaft, der mich dazu bewegt, mit Earthbound an Karin Ohlenschläger, unsere Freundin, Mitstreiterin, Weggefährtin zu erinnern.
Betritt man die Schau, begegnet man einer Natur, die wie Kunst wirkt: hinunterhängende Zimmerpflanzen von Scenocosme (Grégory Lasserre und Anaïs met den Anxct), die bei Berührung Sounds erzeugen; dahinter eine Blumenwand von Sabrina Ratté mit Screens voller Blumen, die auseinanderbrechen. Ist das „earthbound“, ein „Dialog mit der Natur“? Wird hier nicht eher die Übersetzung von Natur in Kunst, deren Simulation vorgeführt? Tatsächlich legt die Ausstellung einen solchen Faden aus, auch wenn bald deutlich wird, dass dieser eher die desolate Seite des Wegs verhandelt, den wir Erdbewohner*innen eingeschlagen haben. Auf den Punkt gebracht wird diese Sackgasse in Alexandra Daisy Ginsbergs Videoinstallation The Substitute, wo sich aus lauter Pixeln ein (ausgestorbenes) Nashorn zusammensetzt. Schwer schnaufend trampelt es auf uns zu, bis es verschwindet und alles wieder von vorne beginnt: Alles lässt sich mit AI rekonstruieren, visualisieren, musealisieren – aber das Tier bleibt tot.
Der Hauptstrang der Ausstellung versucht, mit den Mitteln der Technik in einen „Dialog mit der Natur“ zu treten. Dies tut etwa die hybride Garten- und Videoinstallation Beyond Human Perception von María Castellanos und Alberto Valverde. Das Künstlerpaar – maßgeblich von Karin Ohlenschläger unterstützt – erforscht schon länger Pflanzen mit Sensortechnologien. Für dieses Projekt organisierten sie ein Konzert, maßen die darauf reagierenden Gehirnaktivitäten der Menschen sowie die elektrischen Schwingungen der Pflanzen und visualisierten die beiden Resultate in Form miteinander vergleichbarer Kreise. In der Ausstellung kann man die Pflanzen, die Musik sowie die beiden Muster synchron verfolgen und dabei erkennen, dass diese erstaunlich ähnlich sind. Damit wird suggeriert, dass Pflanzen und Menschen nicht so unterschiedlich sind wie kulturell festgelegt.
Faszinierend lebendig sind die drei Minisumpflandschaften Deep Swamp von Tega Brain. Brain hat in Glastanks Sümpfe angesetzt, die nun im Ausstellungsraum, unterstützt durch diverse farbige Wärme- und Lichtquellen, weitergedeihen. Die Licht-, Nebel- und Nährstoffgaben jedes Tanks werden von einer spezifischen Künstlichen Intelligenz gesteuert gemäß der Parameter „reale Landschaft“, „Kunstwerk“ und „Aufmerksamkeit generierende Komposition“. Obwohl man ein paar Unterschiede feststellen kann, gleichen sich die hier generierten Sümpfe stark. Was ist Natur, was ein Ökosystem, wenn es, obwohl technisch manipuliert, so lebendig aussieht? Deep Swamp macht deutlich, dass die Zusammenarbeit von Mensch und Natur, deren „Zusammenwerden“, nicht erst mit den hier eingesetzten Technologien begonnen hat.
Eine der eindringlichsten Arbeiten ist Sissel Marie Tonns und Jonathan Reus’ interaktive Installation The Interactive Earthquake Archive, weil sie die ökonomische und physikalische Gewalt der fossilen Gasindustrie direkt am eigenen Körper erfahrbar macht. Erdgasbohrungen im niederländischen Groningen hatten so starke Erdbeben zur Folge, dass Häuser beschädigt und viele Menschen aus dem Schlaf gerissen wurden, wenn sie neue Beben herannahen fühlten. In der Installation sind funkübertragende Bohrkerne abgehängt; diese enthalten Datensätze der zwölf stärksten, in diesem Gebiet gemessenen Beben. Mit einer sensorbasierten, taktilen Weste ausgestattet, die die Datensätze in Vibrationen umsetzt, können die Besucher*innen diese am ganzen Körper spüren: Es ist ein Grollen, Zittern, Beben, das den ganzen Körper erfasst und eine fundamentale Unsicherheit auslöst. Trotz der evidenten Zerstörung wurden die Klagen dieser Menschen nivelliert, aktuell wird die Wiederaufnahme der Bohrungen angesichts der Energiekrise erwogen.
Die besten Arbeiten sind die, die forschend und experimentell vorgehen, mit der Wissenschaft zusammenarbeiten und sich auf reale Situationen beziehen. Dies tun beispielsweise Gilberto Esparzas kinetische Keramikskulpturen KORALLYSIS – ein communitybasiertes Projekt, das, wenn ins Meer gelassen, der Regeneration zerstörter Korallenriffe dient. Oder Rasa Smites und Raitis Smits’ VR-Installation Atmospheric Forest, die den Stress eines klimageschädigten Walds spürbar macht. Ähnliches leistet Robertina Šebjaničs audiovisuelle Installation Co_Sonic 1884km2, in der man den langen Ljubljanica-Fluss wie ein Wasserwesen durchschwimmt: strömendes Wasser in Gegenrichtung oben und unten, mal ist die Kamera mitten drinnen, mal – und das ist einmalig – halb drinnen, halb draußen, immer nah an der Wasseroberfläche. Es gurgelt, plätschert, strömt. Eine KI hat die Soundidylle kreiert, die in dieser Natürlichkeit nicht mehr existiert: Tatsächlich ist das Leben im Wasser der reinste Lärm geworden. Dass etwas nicht ganz stimmt, machen die verglitchten Bildframes und die Würfel im Wasser deutlich, mit denen die Forellen gefangen werden.
Erst gegen Schluss wird deutlich, warum man die Ausstellung als Ökosystem wahrnimmt: Es ist der Klang, der dieses formt. Leise klingendes Zirpen, Zischen, Knurren und Rascheln, vermischt mit dem Gurgeln und Plätschern von Co_Sonic 1884km2 und ab und an ein Horn, das durch den Raum tutet. Dieses Tuten kommt aus den Kopfhörern aus Persijn Broersens und Margit Lukacs’ Videoinstallation Bark with a Trace und ist ein Schofar, ein prähistorisches Musikinstrument aus dem Horn eines Widders. Es ist der kuratorischen Soundchoreografie zu verdanken, die die Töne aus ausgewählten Arbeiten gekonnt in Beziehung setzt. Aber es ist auch Marcus Maeders Edaphon Braggio, das den Raum in einen Kosmos differenzierter Klänge verwandelt, deren Fremdheit kaum zu beschreiben ist. Das Zirpen, Zischen, Knurren, Rascheln ist nicht laut, jedoch außergewöhnlich dicht, vielfältig und deutlich. Was wir hören, sind kommunizierende Bodenlebewesen, die der Künstler mittels Field Recordings in der Schweiz erkundet hat. Die minimalistische Holzplatte zeichnet nicht nur die Umrisse der Gemeinde Braggio nach, sondern fungiert auch als Resonanzkörper für die besonders lebendige Bodenbeschaffenheit dieser abgelegenen Berggemeinde (im Internet kann man sich auch andere, zum Beispiel weniger klangvolle, übernutzte und überdüngte Böden anhören).
Solche Arbeiten lassen uns nicht nur die Erde, sondern auch die agrokulturellen, sozialen und ökonomischen Ungleichheiten „fühlen“. Damit helfen sie uns, uns in dieser zunehmend artifiziellen Landschaft zu positionieren, und machen deutlich: Alles – auch das Künstliche – kommt von der Erde, geht zur Erde, wird Erde. Auch da ist uns Karin Ohlenschläger vorausgegangen.

Earthbound. Im Dialog mit der Natur, HEK (Haus der Elektronischen Künste) Basel, 3. September bis 13. November 2022.