Heft 4/2022 - Touch
„Vor Lautréamont und C. G. Jung, vor Antonin Artaud und Burroughs, vor Genet, vor Janov, vor Foreman, vor Lil Picard hat der haitianische Vaudou eine surreale Schicht der Sprache, eine Popschicht, mit seinen Litaneien, Götterkatalogen und Tranceperformances eröffnet“1, schreibt Hubert Fichte im Haiti-Kapitel seiner Reportagensammlung Xango (1976). Es ist bezeichnend, dass Fichte in dieser ethnopoetischen Abhandlung über „die afroamerikanischen Religionen“, wie der Untertitel des Buchs lautet, Surrealismus und Pop synonym verwendet, sind irreale Aspekte des Magischen und Unbewussten für den Surrealismus doch ebenso zentral wie antibürgerliche und antifaschistische Formen der Offenlegung von gesellschaftlich Verdrängtem. Beide Dimensionen finden sich auch in der Verwendung des Pop-Worts: einerseits als Aufplatzen im Sinne einer ästhetischen wie politischen Überdeterminierung, andererseits als das Volk bzw. die soziale Klasse der Nichtherrschenden betreffend. Mit Pop einher geht zudem eine gewisse ästhetische Empfindsamkeit, eine an der gelebten Erfahrung geschulte Geisteshaltung, die mit dem surrealistischen Impuls, den Abstand zwischen der Kunst im bürgerlichen Sinne und dem Leben zu verringern, vergleichbar ist. Wenn der haitianische Vaudou laut Fichte eine Grundlegung der historischen Avantgarden und im Besonderen von mit dem Surrealismus identifizierten Praktiken der Psychoanalyse, des Films, der Literatur und des Theaters darstellt, ist damit implizit auf zweierlei verwiesen: auf eine Entgrenzung der Kunst in den afrokaribischen Religionen und auf ästhetisch-politische Entwürfe der Selbstermächtigung vonseiten der ehemaligen Sklav*innen.
Es ist diese Geschichte der kolonialen Enteignung und emanzipativen Neuaneignung, die sich in synkretistischen Religionen wie Vaudou als eine Adaption von Riten und Motiven aus den Religionen der Kolonisierer ausdrückt. Das Künstler*innenkollektiv Atis Rezistans („Künstler*innen des Widerstands“), das 2009 Gastgeber*in der 1. Ghetto Biennale in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince war, widmete sich in einer für die documenta fifteen angefertigten Installation dieser Geschichte. Ausstellungsort war die römisch-katholische Kirche St. Kunigundis, gelegen im industriell geprägten Bettenhausen, einem Stadtteil im Osten Kassels. Denkmalgeschützt und wegen Renovierungsbedarf von der Diözese aufgegeben, ist die Kirche durch ihre Seitenschiffe, die im Innenraum als rundbogige Nischen angedeutet sind, eine Mischung aus Saalkirche und Basilika. So sehr das Bespielen von Off-Veranstaltungsorten eines der programmatischen Aushängeschilder dieser documenta war (ein ehemaliges Kaufhaus diente als Festivalzentrum, aufgelassene Fabrikhallen, Hotellobbys sowie ein Hallenbad als Ausstellungsräume), so sehr suchte das, was Atis Rezistans | Ghetto Biennale hier zur Aufführung brachte, gegenüber weiten Teilen der Großausstellung seinesgleichen.
Überschirmt war der Hauptraum der Kirche von einem an der Decke befestigten Metallgitter, an dessen Unterseite braune Kartonboxen so befestigt waren, dass sie in der Art eines übergroßen Stadtmodells ein abstraktes Muster ergaben. Das einem Viertel in Port-au-Prince nachempfundene Modell, das von der Architektin Vivian Chan in Kooperation mit André Eugène und Leah Gordon, zwei Mitgliedern von Atis Rezistans | Ghetto Biennale, gestaltet wurde, verstand sich als strukturalistische Hommage an die städtischen Sujets des haitianischen Malers Préfète Duffaut (1923–2012). Duffaut war nicht nur einer der einflussreichsten naiven Maler seiner Generation, sondern auch dafür bekannt, christliche mit Vaudou-Symbolen in seinen Bildern zu synkretisieren. Insofern mag es nicht verwundern, dass die schwebende Deckenskulptur mit ihren an Verstärkerboxen erinnernden Kastenelementen Assoziationen mit den ersten Sound Systems in Jamaika, jene ab den 1940er-Jahren vor Plattenläden aufgebauten mobilen Diskotheken, aufkommen ließ. Dies auch deshalb, da die Kirche für diverse Performances zeitweise in einen Club- und Bühnenraum umfunktioniert wurde, etwa für Ghetto Guccis Sun-Ra-haft glamouröse Soundscape-Kollaboration mit Carima Neusser und Adriana Benjamin oder die ritualistische Vaudou-Performance von Atis Rezistans | Ghetto Biennale selbst.
Diese wechselseitige Beeinflussung von synkretistisch-religiösen und künstlerischen Zeichenverwendungen wurde auch angesichts der am Boden versammelten Figuren deutlich. Die aus vorgefundenem Material wie Holz, Altmetall, Plastikpuppen, Lametta, aber auch menschlichen Überresten wie Schädel hergestellten Arbeiten ähnelten teils Totems, teils Zombies und waren gleichermaßen an Piraten- wie Heiligenbilder angelehnt. In dieser Verknüpfung von Wegwerfästhetik und christlicher Ikonografie (so wurde Maria zum Beispiel in Gestalt der im haitianischen Vaudou verehrten Loa Erzulie dargestellt) beschworen die Skulpturen gleichsam die (un-)toten Geister der kolonialen Vergangenheit. Gleichzeitig schienen sie aber auch dem 1980er-Jahre-Horror eines Joe Dante entnommen, so sehr drängte sich das anarchistische Moment einer satirischen Trickstermentalität dieser Kreaturen auf, obschon sie, anders als bei Dante, nicht als Monster, sondern eher wie friedliche Hausgeister einer Block Party präsentiert wurden. Dieses im Namen des Unsinns, des verdrehten Sprechens angetretene Spiel mit christlichen wie popkulturellen Tropen und Symbolen begeisterte nicht nur wegen des darin aufscheinenden Witzes. Die friedliche Übernahme der Kirche und ihres kolonial-christlichen Bestecks (Intarsien, Fensterbilder, Kerzenhalter etc.) offenbarte vor allem auch die formalen Überlegungen, die im Abstand zu den angetroffenen Ikonen angestellt wurden.
Mit am eindrücklichsten zeigte sich dieser dialektisch ausgetragene Formkonflikt, der zugleich einen Konflikt zwischen Besitz und Enteignung markierte, in den teilweisen Überklebungen der an den Wänden des Altarraums angebrachten Heiligenmosaike, aber auch in den von dem Künstlerduo Lafleur & Bogaert in einem der Nebenräume der Kirche installierten, mit Famasi Mobil Kongolè betitelten Objekte. Während die mit Kreppband überwiegend an den Außenkonturen überklebten und daher buchstäblich ge-reframeten Heiligenfiguren aufgrund der negativ-wiederholenden Geste des „Übermalens“ bei gleichzeitiger Beibehaltung der Eigenständigkeit beider Darstellungen beeindruckten, waren Lafleurs & Bogaerts „mobile Apotheken“, die für viele Haitianer*innen die Hauptbezugsquelle für Schmerzmittel, Antibiotika, Kondome, Abtreibungspillen und Hustensäfte sind, an Magie qua Eigenleben kaum zu überbietende Kleinroboter/Wundertüten. Solch sinnliche und doch zwangsläufig komplexe Kreolisierungen kultureller Praktiken, wie sie der kürzlich verstorbene Publizist und Essayist Édouard Glissant im Sinn hatte, boten eine willkommene Alternative zu den bisweilen irritierend neoliberalen DIY-, Mitmach- und Abstimmungsdisplays dieser documenta. Gegenüber diesen eröffneten jene in der Tat eine surreale Schicht.