Heft 4/2022 - Touch


„Um Berührung zulassen zu können, brauchen wir Räume und Zeiten, die unbestimmt sind“

Gespräch mit der Kulturwissenschafterin Karin Harrasser

Franz Thalmair


„Die Haut gehört einem Selbst auf intime Weise an“, schreibt Karin Harrasser in der Einleitung des von ihr herausgegebenen Bands Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns, „und sie gehört diesem Selbst auch nicht an, bildet sein Außen. In der Selbstberührung ist sie wahrnehmbar, allerdings in einem eigentümlichen Modus: Der Finger, der die Handfläche berührt, spürt diese und sich selbst mit.“ Auf Begegnungen mit anderen Lebewesen, menschlichen wie mehr-als-menschlichen, übertragen, bedeutet dies, dass taktile Empfindungen nur in der Wechselseitigkeit entstehen. Reziprozität bedeutet gleichzeitige „Mitempfindung/Selbstempfindung“, die in ihrer Oberflächlichkeit zwischen dem Selbst und dem Gegenüber oszilliert und dabei „jederzeit von Lust in Schmerz umschlagen kann“. Das folgende Gespräch nähert sich dem Tastsinn aus einer gesellschaftspolitischen Perspektive, die von den globalen Erfahrungen von Pandemie, Lockdowns und Social Distancing geprägt ist und dem gesteigerten Bedürfnis nach Nähe, nach dem Sinnlichen, dem Haptischen und Materiellen Rechnung trägt.

Franz Thalmair: Wie schwach muss man sein, damit Schwäche zur Stärke wird?

Karin Harrasser: Ich glaube nicht, dass ein quantifizierendes Vorgehen mit Blick auf die Schwäche sinnvoll ist, also die Frage danach, wie viel oder wie wenig. Es geht eher darum, gemeinsam zu erforschen, was die Konsequenzen daraus sind, dass wir alle verletzlich und sterblich sind. Das Allerwichtigste wäre in meinen Augen, Schwäche zu einem politischen Thema zu machen; wegzukommen von Autonomie, Freiheit und Selbstverwirklichung als politische Tugenden und Leitideen, hin zu geteilten Situationen, in denen wir alle aufeinander angewiesen sind. Die politische oder soziale Folge des Nachdenkens über Schwäche ist die Einsicht, dass man bestimmte Dinge nur gemeinsam kann und dass man voneinander abhängig ist.

Thalmair: Würde man ein „Zeitalter der Schwäche“ formulieren, wäre dieses feministisch, queer und indigen. Warum sind diese Attribute gerade so stark?

Harrasser: Historisch betrachtet ist es einleuchtend, dass das drei Menschengruppen sind, denen zugeschrieben wurde, das Ideal der Autonomie nicht ganz zu erfüllen. Das gilt für viele indigene Kulturen, die in Hinblick auf Modernität als defizitär eingestuft wurden, das gilt für Frauen, für Kinder, aber auch für Menschen, die sich bezüglich Geschlecht im Dazwischen bewegen. Deshalb haben diese Gruppen einen anderen Umgang mit den Idealisierungen von Autonomie entwickelt. Das hat Potenzial, wenn man es politisch rahmt, da geteilte Sterblichkeit Solidarität erzeugen kann.

Thalmair: Kann man ein solches Potenzial des Schwachen und des Defizitären als Empowerment beschreiben, durch das man sich aus der vermeintlich inferioren Position herausbewegt?

Harrasser: Es geht nicht um eine christliche Ethik der Demut im Stil von: „Wir sind alle sterblich“, es geht eher um ein inklusives Programm, das sagt: „Wir brauchen einander.“ Das muss die Grundlage für eine neue Politik sein. Ja, Empowerment – deshalb auch die Stärke der Schwäche. Das ist etwas, das uns als globale Gesellschaft potenziell zusammenhalten kann.

Thalmair: Wenn du den Begriff „Kontamination“ hörst, eine spezifische Form der Berührung, ruft das bei dir eher negative oder positive Assoziationen hervor?

Harrasser: Wie alle interessanten kulturtheoretischen Begriffe ist „Kontamination“ ambivalent und kann in beide Richtungen gehen: Er kann einerseits Gewalt thematisieren. Kontamination zeigt etwa an, dass Lebenszusammenhänge durch Verschmutzungsvorgänge über einen langen Zeitraum und sehr unauffällig zerstört werden. Es gibt ein sehr lesenswertes Buch von Rob Nixon, der von Slow Violence and the Environmentalism of the Poor spricht – eine langsame Gewalt, die sich in alles einspeist. Um die Langzeitwirkung von dieser Form von Gewalt und das Toxische darin zu beschreiben, ist Kontamination ein wichtiger Begriff mit einer starken analytischen Qualität. Positiv gewendet kann die Kontamination in Richtung Hybridisierungen gehen, die ein wichtiger Teil von jedem Kulturprozess sind. Da wird Kontamination zu einem Mechanismus, um nicht in einer Monokultur stecken zu bleiben, um nicht im Immergleichen aufzugehen, um sich infizieren zu lassen und um neue Informationen und ästhetische Formen aufzunehmen und zu entwickeln. Aufgrund dieser Ambivalenz ist Kontamination ein sehr brauchbarer Begriff.

Thalmair: Unsere Beziehungen – zwischen Menschen, zur Umwelt, Lieferketten, digitale Netzwerke – haben sich in den vergangenen Jahren stark verändert, oder anders formuliert hat das, was bereits in Veränderung begriffen war, einen ordentlichen Schub bekommen: Gibt es deshalb so viel Diskurs über das Miteinander?

Harrasser: Ja, vermutlich hat die Pandemie einiges zutage gefördert – doch eher kontraintuitiv. Wir haben den Wert des Gemeinsamen in dem Moment erkannt, in dem das Gemeinsame nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich war. Gerade im ersten Lockdown sind alle unsere alltäglichen Routinen des Zusammenarbeitens zusammengebrochen, und wir haben uns ganz schnell neue Formen des Kollaborierens gebastelt. Ich denke, dass in dem Moment, wo soziale Formen wegbrechen, die Aufmerksamkeit für ebendiese geschärft werden. Das hat uns – unfreiwilligerweise – in ein präziseres Nachdenken darüber hineingestoßen, wie wir denn überhaupt zusammenarbeiten.

Thalmair: Im Moment wird viel über Beziehungen zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem (oder besser: Mehr-als-Menschlichem) gesprochen – in der Philosophie, in der Kunst, aber auch in Naturwissenschaften wie der Medizin, wo es um Bakterien geht, die mit uns auf unseren Körpern leben … Ist das eine Modeerscheinung, oder siehst du darin ein Zeichen für eine grundlegende Veränderung in der Gesellschaft?

Harrasser: Ich würde es in diesem Fall noch radikaler formulieren: Wir haben diese realen Beziehungen zwischen allen möglichen Entitäten längere Zeit erfolgreich ignoriert. Im Grunde muss man sich rückblickend wundern, wie es die Moderne geschafft hat, all diese Beziehungen als nicht existent hinzustellen. Jetzt geht es darum, etwas wiederzuentdecken, was völlig selbstverständlich ist. Das ist eigentlich alles nicht so kompliziert: Dass beispielsweise Wetterverhältnisse auf das Wachstum und damit auf die globale Ernährungssituation einwirken, ist völlig klar. Wir haben uns – mit „uns“ spreche ich von der westlichen Moderne – nur seltsamerweise lange Zeit von all diesen Interdependenzen abgeschnitten. Wir haben geglaubt, dass wir uns über industrielle und technische Verfahren von dieser Eingebundenheit in naturkulturelle Prozesse befreien können, dass wir sie kontrollieren können.

Thalmair: Gibt es deshalb beispielsweise auch ein verstärktes Interesse an indigenen Kosmologien – an Weltmodellen aus allen Himmelsrichtungen?

Harrasser: Ich finde es wichtig, dass indigene Kosmologien wiederaufgegriffen werden und dass Interesse vonseiten des Westens dafür besteht, aber oft hat das auch etwas von einer romantischen oder nostalgischen Geste. Deshalb wäre ich dafür, in die europäische Vergangenheit zu schauen. Da braucht man gar nicht so weit zurückzugehen, um zu bemerken, dass es sehr umfassende Modelle der Interaktion in Naturkulturen gegeben hat. Selbst bei Alexander von Humboldt ist das noch vorhanden – auch ein ganzheitliches Verständnis des Zusammenwirkens von Mensch und Umwelt. Er sprach von einem Lebensnetz, in dem alles miteinander interagiert. Das ist nicht einmal 200 Jahre her. Das muss man sich vor Augen führen.

Thalmair: Hat das mit der Idee von Reinheit zu tun? Sind Säuberungsprozesse dafür verantwortlich, dass die Verbindungslinien verschwunden oder zumindest nicht mehr sichtbar sind?

Harrasser: In der Akteur-Netzwerk-Theorie, wie sie von Bruno Latour konzipiert wurde, wird der Vorgang „Reinigungsarbeit“ genannt: Die Wissenschaften vermischen eigentlich andauernd: Beobachtungsinstrumente, Forschungsgegenstände, menschliche Welten, aber oft wird am Ende eine vermeintlich klare Trennlinie gezogen zwischen den passiven Objekten der Forschung und den aktiven Forschenden. Aus einer feministischen Perspektive würde ich das sogar noch weitertreiben: Es geht nicht nur um Reinigung, sondern um Kontrolle. Was hinter diesem intellektuellen Kappen von ganz evidenten Abhängigkeiten steht, ist etwa der Wunsch, autonom von Wetterverhältnissen und Wachstumszyklen zu sein. Aus diesem Blickwinkel betrachtet wird die Diskussion noch interessanter, weil sich in Bezug auf Kontrolle sofort die Machtfrage stellt. Wir wollen alle ein bisschen Kontrolle haben, das ist ja völlig in Ordnung. Jede agrokulturelle Vorgangsweise versucht, bestimmte Parameter zu kontrollieren. Nur ist das in der westlichen Moderne sehr weit getrieben worden, und dieser absolute Wille zur Kontrolle hat das Wissen über die Interdependenzen verschüttet. Das ist die Bruchkante, die uns jetzt beschäftigt.

Thalmair: Kann man sagen, dass Reinheit ein politisches Kontrollinstrument ist, das auch in den Künsten ihre Blüten treibt – man denke an Clement Greenberg.

Harrasser: Das Schwierigste in diesem Zusammenhang ist, wie man das Projekt des Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit rettet, wie es so schön in der Aufklärung heißt, ohne eine Idealisierung oder gar Ideologisierung von Autonomie weiterzutreiben. Das betrifft natürlich auch die Künste: Clement Greenberg und der Abstrakte Expressionismus sind Ausdruck einer extrem verstandenen Kunstautonomie. Diese Form von Autonomie lässt sich als Konsequenz der Herauslösung von Kunst aus Auftragsverhältnissen und dem Mäzenatentum verstehen, in die man natürlich nicht wieder zurückwill. Wir brauchen eine Revision der Idee von Kunstautonomie. Ich glaube, die Autonomie der Kunst ist zu retten, wenn man sie als „in Relation“ oder „in Interaktion“ begreift.

Thalmair: Hat dieses In-Relation- oder In-Interaktion-Sein mit Donna Haraways Idee von „Situiertheit“ zu tun?

Harrasser: „Situiert“ im Verständnis von Donna Haraway bedeutet, die Verankerung der eigenen Positionierung in eine Spannung zu bringen mit generelleren Interessen, mit Ansprüchen auf Wissen, mit Vergleichbarkeiten. Es geht um die Spannung zwischen den Möglichkeiten des Intersubjektiven, auch des intersubjektiven Teilens von Wissen und der eigenen Positionierung. Es wäre ein Missverständnis, daraus eine partikularistische Position abzuleiten, die behauptet, dass individuelle Erfahrung Priorität über das Allgemeine hat. Das funktioniert nur in der Spannung, in einer gespannten Relation. Deshalb betont Donna Haraway immer wieder ihr Programm einer „strong objectivity“. Dabei handelt es sich um die Suche nach Wissen und Objektivität, ohne die Möglichkeitsbedingungen des eigenen Wissens aus dem Blick zu verlieren. Diese Art von Objektivität, so Haraway, ist stärker, gerade weil sie ihre eigenen Voraussetzungen mitdenkt.

Thalmair: Im Projekt Stay in Touch, das du während des ersten Lockdowns an der Kunstuni Linz gestartet hast, beschäftigst du dich gemeinsam mit anderen Kulturwissenschaftler*innen mit Texten über Krankheiten, Seuchen, Fremdkörper, Immunität oder Reinheit aus den vergangenen 2.500 Jahren. Was sagt einem die Geschichte über die Kontamination?

Harrasser: Da ist zunächst einmal Erstaunen. Man liest einen Text von Thukydides aus dem Jahr 430 vor Christus über „Die Seuche von Athen“ und schlackert mit den Ohren, weil sich darin schon so viele der Themen auftun, die uns gerade im ersten Lockdown beschäftigt haben. Mit Erstaunen in die Vergangenheit zu blicken und zu bemerken, dass wir nicht die Ersten sind, die sich in dieser besonderen Situation befinden, kann eine ganz grundlegende Erfahrung von Solidarität mit etwas ganz Fremden auslösen, die ich persönlich sehr wichtig finde. Mit den Athener*innen haben wir vielleicht sonst nicht so viel gemein, aber da gibt es plötzlich eine geteilte Erfahrung.
Das Zweite, was man durch den Blick in die Vergangenheit mitnehmen kann, ist, vielleicht ein paar Fehler nicht noch einmal machen zu müssen. Ich habe keine besonders idealistische Idee von „Wir schauen in die Vergangenheit und lernen für die Zukunft“, aber hin und wieder sieht man vielleicht eine Abzweigung, die man nicht schon wieder gehen muss.

Thalmair: Inwiefern siehst du das Thema der Berührung in diesem Zusammenhang als etwas, das nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch aus alltäglicher Perspektive für Zusammenhalt, für Wechselseitigkeit – vielleicht für Solidarität – fruchtbar gemacht werden kann?

Harrasser: Die Frage nach Nähe und Distanz ist eine zentrale Frage der Gegenwart. Nicht nur in der Kultur- und Medienwissenschaft, wo der Tastsinn großes Interesse erfährt, um vom sogenannten Okularzentrismus, der Höherbewertung des Sehens gegenüber dem Tasten – früher sagte man dazu: dem Gefühl – wegzukommen. Ich denke, dass diese Fragen etwas eminent Politisches haben. Wir müssen uns klar darüber sein, wie existenziell wichtig körperliche Berührungen für uns Menschen sind. Mich hat von Beginn der Pandemie an gestört, dass von „Social Distancing“ die Rede war, da wir uns in erster Linie physisch distanziert haben und nicht sozial. Sozial waren wir teilweise sogar noch viel stärker in Kontakt als vorher, über unterschiedliche Kanäle, allen voran digitale Kommunikationsmittel. Aber man kann auch nicht leugnen, dass es Vereinsamung in einem sehr körperlichen Sinn gab und dass die Berührungsmöglichkeiten sehr ungleich verteilt waren. Dennoch gab es im öffentlichen Diskurs kaum Wortmeldungen darüber, wie sich die physische Dimension der Berührung auf das Soziale auswirkt.

Thalmair: Die Berührungen, von denen du sprichst, sind etwas, das sich im Kleinen manifestiert, zwischen zwei Personen etwa. Wie schafft man im Nachdenken über Berührungen den Spagat von dieser kleinsten Einheit des Miteinander hin zu einem übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhang?

Harrasser: Wenn man es auf die Berührungsflächen beschränkt, wirkt das wie etwas sehr Kleines, aber die Berührung zwischen zwei Menschen hat auch eine große Dimension. Das grenzt an breite Themen, an Sexualität, an die Möglichkeit von Gewalt. Judith Butler sagt, dass physische Gewalt eine Berührung schlimmster Art ist. In der Berührung liegt das Potenzial der Grenzüberschreitung und damit die Gefährdung. Das ist der Punkt, der sozial und politisch relevant ist. Sich mehr mit der Berührung zu beschäftigen, heißt nicht, sämtliche Formen von Vermischungen von Körperlichkeit zu feiern, sondern auch sehr viel genauer darüber nachzudenken, wo Distanz notwendig ist, damit Berührungen gelingen.
Um auf deine Frage nach der Solidarität zurückzukommen: Ich glaube, dass die Tugenden der Solidarität viel damit zu tun haben, das Verhältnis von Nähe und Distanz gut auszutarieren. Es geht darum, einerseits die Verbundenheit in einer global interdependenten Gesellschaft wahrzunehmen, wo jede Geste eine Auswirkung auf andere hat, und andererseits Tugenden der Distanznahme, des Respekts und des Takts zu kultivieren, um Differenzen überhaupt thematisieren zu können. Eine Pandemie hat nicht für alle Menschen die gleiche Auswirkung, je nach dem, in welcher sozialen Lage sich jemand befindet. Es geht um Geschlecht, Alter, geografische Lage – um solche Kategorien der Differenz überhaupt zum Thema machen zu können, braucht es einen Fokus auf die Nähe- und Distanzverhältnisse.

Thalmair: In deiner Forschungsarbeit nimmst du immer wieder Jean-Luc Nancy als Ansatzpunkt, um darüber nachzudenken, wie Welt erst durch Berührung entsteht. Was bedeutet das und inwiefern geht sein Denken über Taktilität über den menschlichen Körper hinaus? Inwiefern bezieht er andere, nicht-lebendige Körper ein?

Harrasser: Das Thema Berührung steht im Zentrum von Nancys späten Schriften, in denen er sehr grundsätzlich darüber nachdenkt, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Zwei Dimensionen sind in diesem Nachdenken für mich wichtig: Nancy kommt zum einen auf sehr basale Dinge wie die Schwerkraft zu sprechen. Die Kraft, die alles auf der Erde verbindet, ist die Schwerkraft, so seine Annahme. Alles fällt. Diese grundlegende Form der Verbindung ermöglicht erst eine Form des Miteinanders. Andere Kräfte, wie etwa das Wachstum oder Bewegungen in Raum und Zeit, stehen immer in einem Verhältnis zu diesem grundsätzlich Fallenden.
Abgesehen davon, dass Nancy darüber nachdenkt, die Schwerkraft medientechnisch oder gedanklich aufzuheben, spricht er immer wieder vom Begriff der Erwiderung. Das ist die zweite Dimension, die für das Gemeinsame wichtig ist. Das kann eine verbalisierte Erwiderung sein, so wie in unserem Gespräch, das kann aber auch ein Abprallen sein, das zunächst keine Antwort findet. Das betrifft wiederum die somatische und sensoriale Dimension. Es gibt Berührung nur, wenn es einen Widerstand gibt, Konflikte, Abstoßungen ...

Thalmair: Um zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurückzukehren: Wie schwach muss man sein, um zu berühren und um zu berührt zu werden?

Harrasser: Um berührt zu werden, muss man dem Gegenüber Raum und Zeit für Berührungen geben. Man kann eine gelingende Berührung weder erzwingen noch befehlen, man kann sie auch nur begrenzt erbitten. Da die Berührung auf Reziprozität baut, ist das gegenseitige Einräumen von Zeit und Raum die wesentliche Tugend für respektvolle und taktvolle Annäherungen. Wenn man von da aus zurückschaut auf unser alltägliches Kommunikationsverhalten, dann sind genau für solche offenen Zeiträume wenig Ressourcen vorhanden. Soziale Medien verlangen Unmittelbarkeit, die Terminkalender sind voll, durch die Pandemie wurde auch unser Bewegungsradius eingeschränkt – das sind schädliche Dinge, wenn es darum geht, etwas entstehen zu lassen. Um Berührung zulassen zu können, brauchen wir Räume und Zeiten, die unbestimmt sind. Das hat sehr viel damit zu tun, sich zu öffnen auf etwas, das man noch nicht kennt. Genau dafür braucht es dann aber auch wieder die anderen politischen Tugenden wie Vertrauen, Solidarität, ein Grundverständnis, dass man sich nicht gegenseitig verletzen will.

Thalmair: Was berührt dich gerade am meisten, wenn du in die Welt blickst?

Harrasser: Gerade von einer längeren Südamerikareise zurück berührt mich, wie unterschiedlich verletzbar wir sind. Wir leben in einer Situation, in der die Zusammenhänge gleichzeitig eng und weitmaschig sind. In den Bleistift, den ich in der Hand habe, sind Produktionsprozesse eingeflossen, die vielleicht von Südafrika bis Finnland reichen. Irgendwo wird der Lack produziert, irgendwo wird Grafit abgebaut, all das hat Auswirkungen auf sehr konkrete Lebensverhältnisse. Über Produkte wie einen banalen Bleistift sind wir eng vernetzt mit spezifischen anderen Lebenssituationen. Das ist das eine. Das andere ist, dass unsere konkrete politische Praxis dem nicht gerecht wird. Verletzlichkeit, Armut, Reichtum – all das betrifft Leute auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Und wir leben dramatisch gut damit, dass wir diese Ungleichverhältnisse perpetuieren. Da komme ich nicht nur an die Grenzen meines Nachdenkens, sondern auch an die meiner persönlichen Lebensweise.

Karin Harrasser ist Professorin für Kulturwissenschaft und Vizerektorin für Forschung an der Kunstuniversität Linz sowie Kodirektorin des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Im Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit stehen die asymmetrischen Kulturtransfers zwischen Europa und Südamerika und das Verhältnis von Globalisierung und Zeitgeschichte. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Körper-, Selbst- und Medientechniken, Prozesse der Verzeitlichung, Theorien des Subjekts/der Objekte, Populärkultur/Science-Fiction, Genres und Methoden der Kulturwissenschaft, Geschlecht und agency. Neben ihren wissenschaftlichen Tätigkeiten war Karin Harrasser an verschiedenen künstlerischen und kuratorischen Projekten beteiligt. Sie ist u.a. Übersetzerin von Donna Haraways Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (Campus, 2018) und Herausgeberin von Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns (Campus, 2017).