Heft 1/2023 - Netzteil


„Gegen die Möglichkeit, der Realität einen Sinn zu geben“

Eine Begegnung mit der Autorin, Wissenschaftlerin und Künstlerin Asia Bazdyrieva

Sabine Weier


„5 Uhr morgens. Der Klang von Explosionen weckt mich. […] Ich zittere so sehr, dass ich das hier kaum tippen kann“, schreibt Asia Bazdyrieva am 24. Februar 2022 auf Instagram.1 Den Text postet sie als Bild: weiße serifenlose Schrift auf schwarzem Hintergrund. Schon in den Tagen vor der Invasion Russlands in die Ukraine hatte Bazdyrieva ihre Ängste auf Instagram dokumentiert, so etwa am 19. Februar: „Mich – uns – beunruhigen die verqueren Erzählungen in den russischen Nachrichten […], die unterwandern sollen, was wir sehen und was wir daraus schließen.“
Ihr Instagram-Account wird in den folgenden Monaten zum Kriegstagebuch. Nachdem die New York Times darüber geschrieben hat, wächst die Zahl der Follower*innen schnell.2 Bazdyrieva lebt zu diesem Zeitpunkt noch in einem Ort nahe Kyjiw, der stark bombardiert wird. Sie postet fast täglich. Das habe ihr geholfen, bei Verstand zu bleiben, erzählt sie, als wir uns im Januar in einem Café in Berlin treffen. Die Posts habe sie aber auch veröffentlicht, um etwas von der neuen Realität zu vermitteln, mit der sie sich plötzlich konfrontiert sah. „Es ist etwas ganz anderes, sich inmitten eines Kriegsgebiets wiederzufinden, als von außen darüber zu spekulieren“, sagt sie.
Bazdyrieva ist Autorin, Wissenschaftlerin und Künstlerin. Sie studierte Chemie in Kyjiw und Kunstgeschichte in New York. Ihr Ansatz ist transdisziplinär, sie bewegt sich dabei in Feldern wie Medientheorie oder kritische Geografie. Erst im Juni 2022 floh sie nach Berlin. Derzeit ist sie Teilnehmerin des Residency-Programms der transmediale und Junior Researcher am Critical Media Lab in Basel. In Texten, Vorträgen und auf ihrem Instagram-Account versucht sie, das Unfassbare zu fassen, auch im Austausch mit anderen ukrainischen Intellektuellen wie der befreundeten Medienwissenschaftlerin Svitlana Matviyenko.
Der Cyberwar, zitiert Bazdyrieva aus einem Text Matviyenkos, bestehe nicht nur aus Angriffen auf digitale oder physische Infrastrukturen. Er manifestiere sich sowohl real zerstörerisch als auch symbolisch: als immersives Theater, als epistemologisches Krebsgeschwür der Sinnfindung.3 Immerzu sehe sie Bilder vor sich, schreibt Bazdyrieva in ihrem Kriegstagebuch. Schwangere, die aus einer Entbindungsstation in Mariupol getragen werden. Massengräber, in denen Körper schnell verscharrt werden. Bilder von Alten, Frauen, Kindern, die von russischen Medien mit der gegenteiligen Botschaft versehen werden – sie sollen das Narrativ von der Ukraine als Aggressor untermauern.
Bazdyrieva selbst postet nur wenige Bilder zwischen den Texttafeln. Eines zeigt sie in einem Keller, der zum Luftschutzraum umfunktioniert wurde, auf einem Laptop schreibend, vor ihr die Transportbox der Katze ihrer Schwester. Dann ihr provisorisches Bett in ebendiesem Keller. Auf der Bettdecke liegt ein Buch: die Autobiografie des litauischen, 1949 in die USA emigrierten Filmemachers Jonas Mekas mit dem Titel I Had Nowhere to Go. Später: die Katze im Schnee, erste Knospen an einem Zweig, der Blick aus ihrem Fenster auf den Mond in der Morgendämmerung. Rundherum ist Zerstörung und Tod zu sehen. Doch das zeigt Bazdyrieva nicht. Keine Bilder davon zu posten ist für sie ein Akt des Widerstands: „Kurz nach Beginn der Invasion gab es eine Art gesellschaftlichen Konsens: Niemand machte mehr Fotos vom öffentlichen Raum, um den Angreifer*innen keine strategischen Informationen zu liefern, die sie etwa zum Lenken von Raketen nutzen“, erklärt sie.
Mit der Realität des Kriegs ist auch eine unbequeme Wahrheit in den Instagram-Alltag eingebrochen: Mit ihren privaten Geräten produzieren Nutzer*innen stets auch Daten, die politische Akteur*innen für ihre Zwecke verwenden. Die Rolle von Bilddaten in geopolitischen Szenarien untersucht Bazdyrieva seit 2018 mit der Filmemacherin und Wissenschaftlerin Solveig Suess in dem gemeinsamen Projekt Geocinema.4 „Wir befassen uns darin mit der neuen Visualität, die in den vergangenen Jahrzehnten durch neue Sensor- und Bildgebungstechnologien entstanden ist“, sagt Bazdyrieva.
Im Mittelpunkt stehen Bilder, die nicht repräsentieren, sondern in funktionale Prozesse eingelassen sind, etwa Satellitenaufnahmen. Harun Farocki bezeichnete sie als „operative Bilder“.5 Auch der Medientheoretiker Jussi Parikka forscht dazu, demnächst erscheint sein neues Buch zu diesem Thema, in dem er auch über Geocinema schreibt.6 Für Bazdyrieva und Suess, die in engem Austausch mit Parikka stehen, sei vor allem dessen Auffassung wichtig, dass es bei der neuen Visualität weniger um das Bild selbst als um die Infrastrukturen der Bildoperationen gehe. „In diese Infrastrukturen wollten wir eindringen, um zu verstehen, was es mit den neuen Bildern auf sich hat bzw. was sie bewirken.“
Ein halbes Jahr lang waren Bazdyrieva und Suess auf Forschungsreise in China, nahmen dort an einer Konferenz teil, um mehr über das Projekt der digitalen Seidenstraße, das Digital Belt and Road Program (DBAR), zu erfahren.7 In diesem historisch beispiellosen, transnationalen Kooperationsprojekt erschließt China über Big Earth Data digitale Welthandelswege. Vor allem, so das offizielle Narrativ, ermögliche das Projekt im Sinne aller Menschen, dem Klimawandel per algorithmischer Voraussagen zu begegnen. „Der chinesische Staat bringt Investor*innen, Wissenschaftler*innen und Datenanalyst*innen zusammen, um unter dem Deckmantel des Klimamanagements Profit zu machen“, sagt Bazdyrieva. „Dem zugrunde liegt ein vorgefertigtes Szenario für mögliche extraktive Aktivitäten und undurchsichtige Transaktionen zwischen verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen.“
Was inhaltlich scheinbar wenig mit Kino zu tun hat, erweist sich als kluge künstlerische Auseinandersetzung mit opaken und abstrakten Prozessen. Unter Rückgriff auf Ideen von Dziga Vertov oder den Essayfilm Harun Farockis nutzen Bazdyrieva und Suess die Montage als Methode, um unterschiedliche Bilder – größtenteils eigene, unter anderem auf der Forschungsreise in China aufgenommene, aber auch Open-Source-Footage – in eine poetische und zugleich greifbare Form zu bringen. Zwar bleibe das „geokinematische“ Bild selbst meist unsichtbar, kommentieren Bazdyrieva und Suess in einem erläuternden Trailer, doch trage es entscheidend zu den neuen epistemologischen Bedingungen des Anthropozäns bei.8 Und diese – auch das macht das Projekt anschaulich – sind ideologisch vorgeformt.
Anknüpfend an das Geocinema-Projekt untersucht Bazdyrieva weiter Infrastrukturen, „sowohl als technische als auch als epistemische Objekte“, wie sie erläutert. In nächster Zeit will sie vor diesem Hintergrund das „soziotechnische Imaginäre der Ukraine als Kornkammer der Welt“ erforschen.9 In ihrem Kriegstagebuch notiert sie, dass das, was hier vor sich gehe, mehr sei als Faschismus, mehr als Kolonialismus, mehr als Völkermord. „Das ist Cyberwar. Es geht nicht so sehr um den Besitz eines Territoriums, sondern es ist ein Krieg gegen die Möglichkeit, der Realität einen Sinn zu geben.“ So betrachtet ist auch die künstlerische und wissenschaftliche Forschung Bazdyrievas und anderer eine Form des Widerstands – gegen den Krieg, gegen kolportierte alternative Realitäten und Bildpolitiken im Dienste radikaler Ideologien.

 

 

[1] https://www.instagram.com/asiabazdyrieva/
[2] „5 Ukrainian Art Accounts to Follow on Instagram Now“; https://www.nytimes.com/2022/04/13/arts/design/ukraine-artists-instagram-russia.html.
[3] Vgl. Svitlana Matviyenko, Dispatches from the Place of Imminence, part 1; https://networkcultures.org/blog/2022/02/25/dispatches-from-the-place-of-imminence-by-svitlana-matviyenko/.
[4] Projektwebsite: https://geocinema.network/.
[5] Harun Farocki theoretisierte das „operative Bild“ in Texten seit den frühen 2000er-Jahren. Vgl. Harun Farocki, Phantom Images, in: Public, 29(2004), sowie die Filme Auge/Maschine (2000/2001/2003) und War at a Distance/Erkennen und Verfolgen (2003).
[6] https://jussiparikka.net/2022/02/16/operational-images-preface-in-the-forthcoming-book/
[7] Vgl. Asia Bazdyrieva/Solveig Suess, The Future Forecast (2020); https://www.e-flux.com/architecture/new-silk-roads/313108/the-future-forecast/.
[8] Trailer zum Projekt Geocinema: https://ars.electronica.art/newdigitaldeal/en/optic-nerves/.
[9] Vgl. Asia Bazdyrieva, No Milk, No Love (2020); https://www.e-flux.com/journal/127/465214/no-milk-no-love/.