Heft 1/2023 - Netzteil
Der Kammzähnerhai (Hexanchidae) kommt weltweit an Kontinentalabhängen vor, auch in größeren Tiefen. Klassifiziert wurde das Tier 1851 von dem britischen Zoologen John Edward Gray. Im Englischen heißt der Kammzähnerhai „Cow shark“.
Der „Cow shark“ allerdings, um den es im Folgenden geht, kommt weltweit in den Tiefen des Internets vor, auf Twitter, Pinterest und reddit. Auf einem Bild, das mindestens seit 2020 im Netz geteilt wird, hat der „Cow shark“ keine*n zu identifizierende*n Urheber*in und ist nicht leicht zu klassifizieren. Was man fotorealistisch sieht, ist eine braun-weiß gefleckte Kuh, deren Körper, mit den Umrissen eines Hais versehen, in grün-alpiner Landschaft schwebt. Vom menschlichen Gehirn wird dieser „Cow shark“ entweder als Kuh oder als Hai wahrgenommen, niemals jedoch als beides zusammen und gleichzeitig. Der „Cow shark“ entspricht in diesem Sinn einem Kippbild, wie es in der Gestaltpsychologie beschrieben wurde.
Die Klassifizierung dieses „Cow shark“ fällt auch Maschinen schwer: Die Schweizer, in Amsterdam lebende Designerin und Forscherin Simone C Niquille machte bei einem Panel der diesjährigen transmediale in der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg am Beispiel des „Cow shark“ deutlich, welchen Limitierungen maschinelles Sehen aktuell unterliegt. Was das menschliche Auge nur als Entweder-oder sehen kann, verhält sich für Convolutional Neural Networks, also künstliche neuronale Netze, die Bilddaten maschinell verarbeiten können, ähnlich – und doch ganz anders.
Konfrontiert man etwa das ResNet-101-Netzwerk mit dem „Cow shark“, scheint ihm die Form des Objekts wichtiger als dessen Farbe und Textur. Das Objekt wird von ResNet-101 tendenziell als Hai wahrgenommen (bzw. vorhergesagt). Das BagNet-Netzwerk hingegen stützt sich eher auf eine Analyse der Textur des gesamten Bildinhalts und nimmt diesen tendenziell (der Farbe des Bildhintergrunds entsprechend) als Sauerampfer wahr. Diese von dem österreichischen Computerwissenschaftler Christian Wolf durchgeführte Studie, auf die sich Niquille in ihren Ausführungen stützt, zeigt, dass die Kippmomente bei maschinellem Sehen derzeit noch ambiger ausfallen als bei menschlichem Sehen.
Dass Niquille das Beispiel des Kuhhais heranzieht, kommt nicht von ungefähr, denn in Halle 3 des Düttmann-Baus zeigt sie ihre Arbeit duckrabbit.tv, Teil der diesjährigen transmediale-Ausstellung Or So It Seems. Darin lässt Niquille eine Figur auftreten, die als Blaupause des „Cow shark“ gelten kann: die 1892 anonym in den Fliegenden Blättern veröffentlichte Illustration der „Kaninchen-Ente-Illusion“. Die Frage „Welche Thiere gleichen einander am meisten?“ und die Antwort „Kaninchen und Ente“ umrahmten dort die bekannte Zeichnung jenes Wesens, das entweder nur als Kaninchen oder als Ente wahrgenommen werden kann, aber niemals als beides zusammen und gleichzeitig. Bekannt zum einen, da die Zeichnung, nachdem sie im Jahr 1900 von dem amerikanischen Psychologen Joseph Jastrow aufgegriffen wurde, als Musterbeispiel eines ambigen Bildes gilt. Bekannt zum anderen, da Ludwig Wittgenstein die von Jastrow beschriebene Illusion (als „Hasen-Enten-Kopf“-Bild) zur Illustration seines Bildkonzepts übernahm, das als „Aspektsehen“ oder „Sehen-als“ berühmt wurde: der Möglichkeit eines Blickwechsels, etwas „als etwas“ zu sehen, das Bemerken eines Aspekts an etwas, das man zuvor so nicht wahrgenommen hat.
Dies alles ist nicht unwichtig, wenn man sich Niquilles duckrabbit.tv nähert. Diese „queer coming-of-age story“ ist Teil einer Video- bzw. Rauminstallation, deren Videopart auf großer, konkav gewölbter Leinwand gänzlich computergenerierte Charaktere – allen voran die auf süß getrimmte Figur des*der Duckrabbit – in gänzlich computergenerierten 3D-Landschaften zeigt. Was man in den sieben kurzen Episoden einer angeblich zukünftigen Fernsehserie sieht, sind Studien von gedanklich komplexen Miniaturen, konzise Versuche der Darstellung von Mehrdeutigkeiten, die sich keinesfalls in Niedlichkeit erschöpfen, sondern Möglichkeiten – „desiring nothing more than ambiguity“ – nonbinärer Virtualitäten aufreißen sollen: Duckrabbit etwa auf einem pinken Entenschwimmring in einem Gewässer. Eine „echte“ Ente schwimmt vorbei, die eben noch eine Gummiente war – oder täuschte man sich? „I’m just hanging out in ambiguity. am i duck, or am i rabbit. we don’t know! a duckrabbit, just like you and me“, sagt Duckrabbit aus dem Off (bzw. man schreibt ihm*ihr diese Stimme zu. Wer spricht, wer denkt, wer sieht hier? Sind wir ResNet-101 oder BagNet?).
Dann: Duckrabbit schwebt in einem Raum, der Schnabel/die Ohren parallel zur Decke. Ein Scheinwerfer strahlt Duckrabbit an, aber der Schatten an der Wand zeigt Schnabel/Ohren vertikal. Ein Höhlengleichnisrätsel zum Tiefenlernen? In einer weiteren Episode: Duckrabbit spiegelt sich in einem silbernen Heliumballon, einer stilisierten Form seiner*ihrer selbst. „Objects in the mirror are closer than they appear“, steht darauf, und Duckrabbit fragt: „Where do these objects appear?“ Tatsächlich ist dies ein doppelter erkenntnistheoretischer Witz, denn er fragt nicht nur nach dem Ort der wahrnehmbaren Daten, sondern lässt den Blick auch in den Ausstellungsraum wandern.
Hier schweben Dutzende von Duckrabbit-Heliumballons traubenförmig an Schnüren, man spiegelt sich darin, so wie das Entenkaninchen. Sie sind eine Schnittstelle, denn Or So It Seems ist eine Gemeinschaftsarbeit mit dem irischen Künstler Alan Butler: In dessen achtstündigem CGI-Video Unnecessary Journeys, das auf der gleichen Leinwand immer wieder unvermittelt durch Niquilles Sequenzen unterbrochen wird, sieht man eine (weiße) Wetterreporterin inmitten des permanenten Ausnahmezustands einer außer Kontrolle geratenen Natur. Peitschender Regen und dröhnender Sturm jagen die unnatürlich stakende Extremjournalistin durch Wald und Moor. Es stroboblitzt und donnert aus dem Off, und ein Wind fegt über die Sitzsäcke, der die Duckrabbit-Ballons schräg mitnimmt. Mehrmals fliegt der aus Niquilles Arbeit bekannte pinke Entenschwimmring durchs Bild. Die so eindringliche wie unangenehm gepresste Stimme der Reporterin erzählt von einer ganz anderen, scheinbar heilen Natur. Tatsächlich hört man den kompletten Originaltext von John Muirs Reisebericht My First Summer in the Sierra (1911), worin Natur in erster Linie poetisch dargestellt wird. Muir, der in den USA als Mitbegründer von Naturschutz und Nationalparks gilt, ist mittlerweile wegen seiner Supremacy-Ansichten teils verfemt. Nicht nur, dass die „Sichtweise europäischer Kolonisten in aller Welt bestimmte, welcher Teil der Biodiversität getötet und welcher gerettet werden sollte“, wie der kenianische Ökologe Mordecai Ogada im Vorwort von Muirs 2021 in deutscher Übersetzung bei Matthes & Seitz erschienenem Buch Yosemite schreibt; vielmehr durften die amerikanischen Ureinwohner*innen von Yosemite auch deswegen vertrieben und getötet werden, weil der Biologe Muir sie „als ,unrein‘, als eine Art Schandfleck auf der unberührten Wildnis des Yosemite ansah“. Die Grafik zu grell, der Sturm zu stark, die Natur zu kaputt, die Stimme zu penetrant, der Text schier endlos: Was man sieht und hört, ist unerträglich – und dies mit Absicht.
Das Wetter außerhalb der Akademie stand an den Eröffnungstagen der transmediale dem in Butlers Unnecessary Journeys in nichts nach. Peitschender Regen, Sturm, Blitz, Donner. Or So It Seems hallte noch lange nach, auch jenseits des Tiergartens.
Or So It Seems, Akademie der Künste, Berlin, 1. bis 26. Februar 2023.