Heft 1/2023 - Lektüre



Stefanie Kitzberger/Cosima Rainer/Linda Schädler (Hg.):

Friedl Dicker-Brandeis – Werke aus der Sammlung der Universität für Angewandte Kunst Wien

Berlin (De Gruyter (Edition Angewandte)) 2023 , S. 72 , EUR 50

Text: Sabeth Buchmann


Die im Kontext der Ausstellung Friedl Dicker-Brandeis – Werkstätten bildender Kunst1 erschienene Monografie stellt nichts weniger als eine diskursbildende Erforschung der „plurimedialen Praktiken“ (Daniela Stöppel) einer Künstlerin, Designerin und Pädagogin dar, deren Werk maßgeblich durch den Künstler und ehemaligen Rektor Oswald Oberhuber in die Sammlung der Universität für angewandte Kunst gelangte. Wie schon in der Dicker-Brandeis 2022 im Linzer Lentos Museum gewidmeten Ausstellung zeigte sich in der Wiener Sammlungsschau und im nun vorliegenden Katalogbuch jene bislang ausgeblendete Schlüsselstellung, die ihr Werk im Kontext der historischen Avantgarden einnimmt. Doch entgegen der Gefahr einer gegenkanonischen Heroisierung stellen Cosima Rainer und Stefanie Kitzberger in ihrer Bucheinführung die Frage nach der „Einordnung und Interpretation“ eines „interdisziplinären Œuvres“, das im Widerstreit mit männlich codierten Meistermythen steht. Die Antwort liegt allererst in der präzisen Rekonstruktion von Sammlungs- als Rezeptionsgeschichte, die zugleich gegen einen „monolithischen Avantgarde- und Modernebegriff“ in Stellung gebracht wird. Die Herausgeberinnen rekurrieren dabei auf „experimentelle Dialog- und Vermittlungsformen“ etwa des Künstlers Florian Pumhösl, wie sie sich auch in der Resonanzbeziehung zwischen dem kongenialen Ausstellungsdisplay des Kurators Robert Müller und Martha Stuttereggers Buchgrafik manifestieren.
Aus dem ebenbürtigen Nebeneinander von Bildern und Texten sowie von Essays und Werkbeschreibungen (Laura Egger-Karlegger, Eva Marie Klimpel, Hamida Sivac, Christian und Noemie Scherrer) spricht jene demokratische Verflechtung von Visualität, Materialität und Diskursivität, die auch Dicker-Brandeis’ reformpädagogisches Projekt kennzeichnet. Einmal mehr wird somit deutlich, dass die sogenannte „Ausfransung der Künste“ (Adorno) der avantgardistischen Moderne innewohnte und nicht erst von den sogenannten Neoavantgarden betrieben wurde. Auch wenn sich die Bezugnahme auf einschlägige Modernerevisionen allenfalls implizit erschließt, treiben die Beiträge diese durch einen transdisziplinären Methodenpluralismus weiter, den sie in den Werkentwürfen selbst situieren. So rekurriert Daniela Stöppels „plurikausaler Ansatz“ auf Rhetoriken der „Schichtung, Verwebung und Verschlingung“, die dazu angetan sind, ästhetische Verfahren als Kritik an patrilinearen Geschichtsnarrativen zu deuten. Das Aufbrechen genderstereotyper Darstellungsformen zeichnet die Kunsthistorikerin im Zusammenlesen von Dickers „Bildungsbiografie“ und ihrer „politischen Biografie“ nach: darunter ihre Beteiligung an der Wiener Jugendbewegung, ihr prokommunistischer Aktivismus, ihr kunstpädagogisches Engagement, etwa im Rahmen ihres Zeichenunterrichts für Kinder im KZ Theresienstadt. Eine wesentliche These bildet hierbei die Entwicklung der für ihre malerischen Entwürfe maßgeblichen Ableitung der Linie aus der Fläche. Aus der Umkehrung von Kandinskys und Klees Primat der Linie erschließt Stöppel die Bedeutung der „mikroräumlichen Qualität des Textilen“ und somit eine Präferenz für flexible, elastische und interaktive „Materialqualitäten“, die sich in der „makroräumlichen Ebene der Möbel und in der Gebäudearchitektur selbst“ respektive ihren Bühnenentwürfen fortsetze. Eingedenk der kinetischen „Ausdehnung von Material in Zeit und Raum“ unterstreicht die Autorin Dickers gesellschaftsutopische Idee einer radikalegalitären Gesellschaft – ein Anspruch, dem diese angesichts der Erfahrung antisemitischer Repression und mit Verweis auf Adorno das Prinzip der sinnentleerenden Formauflösung entgegengesetzt hat.
Auch Mark Wigley erkennt im Prinzip der „Wandelbarkeit und Beweglichkeit“ eine „negative Dialektik“ zwischen emanzipativem Architekturbegriff und existenzieller Bedrohung, die sich in Flucht, Exil, ihrem KZ-Aufenthalt und ihrer Ermordung bewahrheiten sollte. Demzufolge implizierten die für Dickers Funktionsästhetik charakteristischen Schachtel-, Stapel- und Klappfunktionen immer zugleich auch Widerständigkeit und Anpassungsfähigkeit, Beharrlich- und Zerbrechlichkeit. Der Bauhausforscher spricht von einem komprimierbaren „Multitasking-Raum“, der eine sukzessive Verkleinerung des schützenden Innenraums erlaube. Sie hat damit Bedingungen für jene fortgesetzte Erneuerung ihres Denkens und Arbeitens geschaffen, die Julie M. Johnson in ihrem Aufsatz „Zwischen den Medien – Erkenntnismethoden erfassen“ herausstellt und die sich jeglichem Versuch einer opfermythologischen Wahrnehmung entzieht. Dem korrespondiert auch Kitzbergers präzise aus Dickers Fotocollagen herausgearbeitete Schwellenmotivik, die der Anmutung einer ideologisch de- bzw. reduzierbaren Kunst auf formal-ästhetischer Ebene widerspricht. Vielmehr lässt Dickers vielfältiges Engagement auf einen gesellschaftlich übergreifenden Kunstbegriff schließen, der sich kategorisch in der formalen Struktur ästhetischer Vermittlung begründet. In diesem Sinne liefert auch Robin Rehms Unterfangen, Dickers Bildentwürfe mit Ernst Machs empirischer Empfindungstheorie, das heißt entgegen der (transzendentalen) Hierarchie von Sub- und Objekten der Betrachtung zu deuten, argumentative Schützenhilfe. Nicht zuletzt lesen sich auch die weiteren, hier unbesprochen gebliebenen Aufsätze als argumentativ verdichtete Resonanzeffekte zwischen transkontextueller Kunstpraxis und plurikausaler Methodik.

1 Universitätsgalerie der Angewandten im Heiligenkreuzerhof, 23. September bis 10. Dezember 2022.