Heft 1/2023 - Lektüre



Denise Ferreira da Silva:

Unpayable Debt

London (Sternberg Press) 2022 , S. 73 , EUR 22

Text: Dietrich Heißenbüttel


Unpayable Debt, der Titel des Buchs von Denise Ferreira da Silva, bezieht sich zunächst auf die globale Finanzkrise 2007/08. Ausgerechnet diejenigen, auf deren Zahlungsunfähigkeit spekuliert worden war – im Lauf der Geschichte enteignete Schwarze und Latinx –, wurden für die Krise verantwortlich gemacht: Beim Versuch, mit dieser Diagnose zurande zu kommen, stieß die Autorin auf den Roman Kindred von Octavia Butler. 1979 erschienen, beschreibt er wiederholte Reisen der Schwarzen Protagonistin Dana aus dem Los Angeles der Gegenwart in die Zeit der Sklaverei im früheren 19. Jahrhundert in Maryland, wo sie ihren Vorfahren Rufus, Sohn eines Sklavenhalters, retten muss, der sie am Ende zu vergewaltigen versucht. Diese Szene lässt sie, kondensiert zur Formel „the wounded captive body in the scene of subjugation“, immer wieder anklingen, wie zum Beleg, dass die Werte der Aufklärung, der bürgerlichen Welt, eben nicht für alle gelten.
Ferreira da Silvas Thema ist, was sie die racial dialectic nennt, die „Dialektik der Rasse“. Die Dialektik besteht darin, dass Rasse als Konzept zwar längst diskreditiert ist, aber weiter Wirkung entfaltet. Zum einen bleibt der ökonomische Schaden von Landraub und Sklaverei für die früheren Kolonialländer ebenso wie für die Nachfahren der Sklav*innen immens. Vielleicht noch gravierender: Enteignung und Entrechtung gehen weiter. Black Lives, stellt sie fest, sind heute sogar noch weniger wert als zu Zeiten der Sklaverei, als ein Sklavenhalter, der eine Sklavin – sie verwendet ein generisches Femininum – tötete, immerhin einen ökonomischen Schaden davontrug. Dies gilt keineswegs nur für die USA, wie etwa der Fall des suizidgefährdeten Senegalesen Mouhamed Lamine Dramé zeigt, der im vergangenen August in Dortmund von Polizisten erschossen wurde. Black Lives sind deshalb so wenig wert, weil sie als die Anderen, als Gegensatz zur Norm konstruiert werden. Sie sind kollektives Objekt der Beobachtung und von polizeilichen Maßnahmen, nicht Subjekt, Individuum, Bürger*in.
Diese Logik gilt für die gesamte postaufklärerische politische Architektur („post-Enlightenment political architecture“), die Ferreira da Silva in ihrem Buch durchleuchtet. Wie lassen sich die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – mit der Sklaverei in Einklang bringen? Nach damaligen juristischen Maßstäben ist Freiheit die Freiheit des Sklavenhalters, von seinem Eigentum Gebrauch zu machen. Er kauft, sagt Karl Marx, „seinen Arbeiter, wie er sein Pferd kauft“. Auch Marx, das arbeitet Ferreira da Silva sehr deutlich heraus, ist befangen im postaufklärerischen Diskurs: Er will als Philosoph reüssieren, indem er Hegel kritisiert. Sein gesamtes Gedankengebäude fußt darauf, dass sich Unternehmer und Arbeiter als freie Subjekte auf dem Arbeitsmarkt begegnen. Der Mehrwert, den der Unternehmer gegenüber dem Arbeitslohn erzielt, akkumuliert sich zum Kapital. Ohne Lohn entsteht jedoch kein Mehrwert. Daher ist Sklavenarbeit bei ihm ein blinder Fleck. Sie zählt zu den Produktionsmitteln so wie Rohstoffe und Grundbesitz. Doch genau an der totalen Gewalt, die zumindest als Drohpotenzial eingesetzt werden muss, um den freien Willen der Sklavin zu brechen, zeigt sich, dass sie doch Mensch ist.
Diese totale Gewalt wird nachträglich begründet als Notwendigkeit. Dem Begriff der Notwendigkeit folgt Ferreira da Silva durch die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, von der euklidischen Geometrie über Kants Erkenntnistheorie, die deterministische Wissenschaft des 19. und die interpretierende des 20. Jahrhunderts. Insbesondere in Kants A-priori-Urteile schleicht sich die Metaphysik, die als religiöse Grundlage von der Aufklärung aus der Philosophie zu vertreiben versucht wurde, durch die Hintertür wieder ein. Diese Urteile, eigentlich Vor-Urteile, behaupten nun umso entschiedener ihre strikte Notwendigkeit und universelle Gültigkeit. Zur Konstruktion von Wissenschaft gehört seit Newton auch, dass sie aus der Vielfalt der Erscheinungen einzelne Parameter isoliert, aus denen sie „Gesetze“ ableitet – wie das auch Marx in Das Kapital tut.
Demgegenüber beruft sich Ferreira da Silva auf die Quantenphysik, wo es Wurmlöcher gibt, wo sich Dinge zugleich in verschiedenen Raum-Zeit-Dimensionen befinden können. Die Geschichte ist keine unerbittliche Abfolge kausaler Wirkungsketten. Alles ist immer schon da und hört auch nicht auf zu existieren. Nach der euklidischen Logik sind Zeitreisen wie in Octavia Butlers Roman ein Ding der Unmöglichkeit. Doch was Butler auf poetische Weise zeigt, ist gerade, dass die vermeintlich abgeschlossene Epoche der Sklaverei weiterhin präsent bleibt. Ferreira da Silva spricht von einer Re/De/Komposition: Alles ist immer schon da und kann mit allem anderen verknüpft werden. An die Stelle der linearen Logik setzt sie ein Netz, ein Raum-Zeit-Kontinuum, an die Stelle der Kausalität die Imagination. So gelangt sie auch zur Kunst, dem Gebiet der Imagination, der Re/De/Komposition des Bestehenden, und bezeichnet sich dementsprechend als Künstlerin, ihre Analysen als „poethical readings“. In zwei Videoarbeiten mit Arjuna Neumann, Serpent Rain und 4Waters-Deep Implicancy, hat sie ihre Gedankenwelt in poetische Bewegtbildessays übersetzt.
Eine weitere überraschende Wendung – oder auch Re/De/Komposition: Am Ende sind es nicht Schwarze und Latinx, die unbezahlbare Schulden haben, sondern die Nachfahr*innen der Kolonisatoren und Sklavenhalter gegenüber denen der Unterjochten.