Heft 1/2023 - Lektüre
Ein zunehmendes Interesse an indigenen Kulturen spiegelt sich auch im Medium des Comics. Nach Joe Saccos Comicreportage Wir gehören dem Land (Edition Moderne 2020) über die verheerende Geschichte von Kolonialisierung, Verschleppung und Missbrauch der Dene, einer indigenen Bevölkerungsgruppe Kanadas, und der Comicanthologie Dieses Land – 150 Jahre neu erzählt (bahoe books 2021), die als ermutigendes Gegenstück selbstbestimmte Geschichten von Resilienz und Widerstand enthält und von indigenen Autor*innen Kanadas erzählt wird, sind zuletzt mit Wir die Selk’nam der chilenischen Autoren Carlos Reyes und Rodrigo Elgueta sowie der Comicsammlung Movements and Moments – Indigene Feminismen zwei bemerkenswerte Werke über indigene Kulturen erschienen.
Bezeichnend für beide Veröffentlichungen ist ihr überraschender Reichtum an Positionen und Zugängen. Die anthologische Diversität in Movements and Moments ist allein schon durch die unterschiedlichen Autorinnen aus zehn südamerikanischen und asiatischen Ländern gegeben. In Wir die Selk’nam wird diese Vielfalt durch die kunstvolle Verflechtung verschiedener Stränge erreicht. Die Selk’nam sind eine verschwundene indigene Bevölkerungsgruppe, die im äußersten Süden Amerikas, im heutigen Patagonien zwischen Chile und Argentinien nomadisch lebte. Ihrem einfachen materiellen Leben stand eine komplexe spirituelle Welt gegenüber. Aufgrund des Umstands, dass die Ethnie zwischen 1850 und Mitte des 20. Jahrhunderts durch Praktiken der vorwiegend europäischen Einwanderer*innen ausgelöscht wurde, drängt sich den Autoren von Anfang an die Frage auf, wie die Darstellung einer untergegangenen Kultur, die zudem nicht in schriftlichen Werken festgehalten wurde, möglich sei. Ihren Comic verstehen sie daher als „ein[en] Versuch, ein unmögliches Puzzle zu rekonstruieren“. Ihre Annäherung erfolgt auf drei ineinander verwobenen Ebenen: Zum einen skizzieren sie das von Projektionen behaftete Bild der Selk’nam, wie es sich aus Reiseberichten ergab oder aus ethnologischen Forschungen der Zeit, als die Bevölkerungsgruppe noch als solche existierte. Parallel dazu schicken sie zwei junge Menschen unserer Zeit nach Punta Arenas, wohin viele Selk’nam verschleppt wurden, um ein fiktives, (alb-)traumartiges Aufeinandertreffen mit den Indigenen zu arrangieren. Schließlich führen die Autoren Gespräche mit Künstler*innen, Forscher*innen, aber auch mit „Nachfahren“ der Selk’nam, die sich selbst als solche bezeichnen und damit das kollektive Bewusstsein von der ausgestorbenen Ethnie als bequeme Form der Verdrängung entlarven.
Ein interessanter Aspekt der Annäherung an die Geschichte der Selk’nam ist die Einbeziehung der eigenen Erfahrung mit der Pinochet-Diktatur. Die Verschwundenen der Diktatur und deren Praktiken einer kulturellen „Säuberung“ von allen Resten der Allende-Zeit erinnern an die Auslöschung der Selk’nam, angefangen bei ihrer Zwangschristianisierung und Verschleppung in Menschenzoos bis hin zur Freigabe zum Abschuss.
Den mannigfaltigen Zugängen entsprechen stilistische Wechsel auf der Bildebene: So sind Zitate aus den frühneuzeitlichen Chroniken Antonio Pigafettas mit groben Schraffuren illustriert, wie sie aus Druckgrafiken der Renaissance bekannt sind, während Darstellungen spiritueller Rituale wie des „Hain“ in flüchtigen Bleistiftzeichnungen angedeutet werden. Die düstere Geschichte des Mordens wird in erschütternden surrealen Bildern evoziert, auf denen es Blut und Ohren regnet, jene Körperteile, die im Austausch gegen das Kopfgeld der Selk’nam beigebracht wurden. Doch es überwiegen nicht die düsteren Bilder, am Ende des Comics steht das „Wir sind am Leben!“ der überlebenden Selk’nam. Das Gebot des 21. Jahrhunderts, so Reyes und Elgueta, ist der „Dialog mit den indigenen Gemeinschaften“.
Dieser Dialog wird in Movements and Moments1 in einem bunten Spektrum an ästhetischen Ausdrucksformen (fort-)geführt. Die meist indigenen Zeichner*innen und Autor*innen aus dem Globalen Süden – Brasilien, Bolivien, Chile, Peru, Ecuador sowie Vietnam, Thailand, Indien, Nepal und den Philippinen – erzählen ganz unterschiedliche Geschichten von teils ebenso verblüffenden wie erfolgreichen weiblichen Formen des Widerstands, sei es im Streit um fundamentale Rechte indigener Gemeinschaften, sei es im Kampf um die Freiheit selbstbestimmter sexueller Lebensstile.
In der Zusammenschau indigener Erzählungen zeichnet sich eine Reihe von Mustern ab. So entpuppen sich die neoliberalen, neokapitalistischen Zu- und Übergriffe auf indigene Gemeinschaften, Stichwort Raubbau an Ressourcen, mithin Landraub, als neue Formen des Kolonialismus. Umgekehrt erwächst indigener Widerstand aus einer kulturell bedingten Naturverbundenheit, der mit aktuellen ökologischen Bewegungen zusammentrifft und diese zu beflügeln vermag. Schließlich verfügen indigene Gesellschaften nicht selten auch über Gegenkonzepte zu binären patriarchalen Gesellschaftsformen. Das sind reichlich Gründe, um den indigenen Dialog aufzunehmen.
1 Unter www.goethe.de/movementsmoments sind sechs weitere Comics nachzulesen, die im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen dem Goethe-Institut Indonesien und Missy Magazine (Berlin) in einem mehrjährigen Projekt entstanden sind.
Übersetzt von Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy