„Cetaceans live at sea by nature; humans do so by art.“1 Dass die Ozeane von Menschen sinnlich nur schwer und lückenhaft über technologische Prothesen zu durchmessen sind, hindert uns seit Jahrtausenden nicht daran, in imaginative Untiefen zu stürzen. Neben landschaftlich invasiven Methoden ist dabei auch die Kunst ein Anzug, den wir uns erschaffen, um in entlegenste Welten vorzudringen. Dennoch stößt selbst die avancierteste Medienproduktion an ihre Grenzen, wenn es um die Vergegenwärtigung einer mehr-als-menschlichen Wahrnehmung, etwa in submarinen Habitaten, geht: „Our bodies reveal and enable our respective arts“,2 konstatiert John Durham Peters – unsere Körper bilden das Potenzial wie auch die Grenze des Denk- und Erfahrbaren.
Oft wird mittels ozeanischer Themen in der Kunst auf Emotionen gezielt, die zu einer nachhaltigeren Einstellung gegenüber der Natur führen sollen. Noch immer haben dabei „wonder“ und „awe“ Konjunktur, auch wenn beide einen eher distanzierten Zugang implizieren. Selbst „Hoffnung“ kann als aktivierendes, doch nicht wirklich eine Verstrickung unterschiedlichster Emotionen, Verantwortungen und Gelüste denkendes „Mindset“ verstanden werden. Ursula K. Le Guins The Carrier Bag Theory of Fiction wird oft zitiert, um auf eine Erzählstruktur zu verweisen, die Akteur*innen miteinander in Kontakt statt in Konflikt bringt. Ein „Beutel“ (carrier bag) kann ein Buch sein, eine Ausstellung oder ein einzelnes Werk in einem beliebigen Medium, in dem verschiedene Dinge gesammelt und mitgenommen werden. Wie aber nimmt man eine Arbeit auf, die selbst als ein aufnehmendes Behältnis gedacht wird?
Le Guin beschreibt den Umgang mit einer Geschichte im sinnbildlichen „carrier bag“ pragmatisch: Jede*r Leser*in könne aus der „Einkaufstasche“ etwas in beliebiger Reihenfolge herausziehen und es essen.3 Das heißt nicht zuletzt: einem Appetit nachgeben. Als ästhetischer Kompass der Sinne ist Appetit nicht frei von Interesse, denn: Beim Essen wird womöglich noch größerer Appetit freigesetzt. Dieser zeigt sich ambivalent: als notwendiger Drang, sich sinnlich mit der Umgebung zu befassen, sie aufzunehmen, zu verarbeiten, zu verdauen. Doch das bedeutet ebenso: (immer mehr) zu konsumieren und zu verbrauchen.
Werke mit Tragetaschenstruktur sind darauf angelegt, dass einzelne Elemente aus ihnen entnommen und weitererzählt werden. Sie berichten aus einem offenen Prozess. Einerseits zeugt ihr Inhalt von unserer mal behutsam, mal übergriffig betriebenen Sammel- und Aneignungswut in Bezug auf Dinge, die wir anschauen, anfassen, haben wollen – „[it’s] a human thing to do to put something you want, because it’s useful, edible or beautiful, into a bag“.4 Andererseits führt die Nachbarschaft der Dinge im Beutel eine Verzögerung ein: So sind einzelne Teile der Geschichte gleich zu „essen“, gründlich zu verdauen, manche werden geteilt und ausgestellt, andere aufbewahrt. Die Tragetasche will ein- und ausgeräumt und nicht zuletzt getragen werden.
Könnte Le Guins „carrier bag“ ein gedankliches Werkzeug sein, das uns ermöglicht, Appetit zu regulieren, zu reflektieren, wenn wir es mit medialisierten Bildern „charismatischer Megafaunen“ zu tun haben? Wie wäre eine so verstandene „carrier bag theory of fiction“ in die Kunst einzubringen? Kann sie dem Gefühl des Eingetauchtseins eine Form des Kontakts entgegensetzen, in der verschiedene Naturelemente wie Bewusstseinszustände einander berühren, ohne, sediert von Meeresrauschen und harmonisierendem Farbenspiel, eine problemlose Kohabitation vorzuspiegeln?
Appetit und Flauheit
Im Ocean Space der TBA21-Academy in Venedig zeigte Dineo Seshee Bopape 2022 die Videoinstallation lerato laka le a phela le a phela le a phela (my love is alive is alive is alive). Auf drei uns umgebenden Projektionswänden schwappt und brandet das Meer. Es erscheint als dynamische Schwelle zwischen den Volumen des Wassers und der Luft, in wechselnden Kräuselungen und Färbungen, die durch aufwirbelnde Erde oder reflektierendes Sonnenlicht entstehen. Darin spiegeln sich oben und unten, ohne als Land oder Himmel greifbar zu werden. Menschliche Hände geben Bougainvilleen, Kokosnüsse, Papaya und Ananas ins Wasser, wie in einer rituellen Geste an den Ozean. Mit dem Wellengang sich hebend und senkend, balancieren die treibenden Körper auf der bewegten Oberfläche. Getränkt in ein Medium, das an den Tod ebenso geknüpft ist wie an Fruchtbarkeit und ein Gefühl des Aufgehobenseins. Ergänzt wird die Installation um Traumbilder der Künstlerin in Form von Augmented-Reality-Elementen, die Betrachtende mit iPads umherstreifend entdecken, gleichsam „einsammeln“ können.
Auch Diana Policarpos Arbeit Ciguatera, die zeitgleich im Ocean Space zu sehen war, ist vom Spiel mit Rahmungen geprägt. In künstliche Felsen sind kleine Bildschirme eingelassen, auf denen sich vielstimmig eine Narration entspinnt. Eine wissenschaftlich informierte Schilderung erklärt, wie die Ciguatera-Vergiftung durch toxische Mikroorganismen, die auf Algen leben und im Lauf der Nahrungskette eine Kontamination größerer Beute- und Speisefische bewirken, zustande kommt und seit Jahrhunderten Anlass zur Mythenbildung gibt. Durch den Klimawandel verbreiten sich die Toxine über tropische Zonen hinaus, etwa an den Küsten der portugiesischen Ilhas Selvagens, die Policarpo für uns parallel zu einer Marslandschaft inszeniert. Ein weiteres Video erzählt von einer Forscherin, die im Zuge einer Ciguatera-Vergiftung wundersamen Begegnungen ausgesetzt ist, während ein drittes aus Sicht der Felseninseln die Jahrhunderte Revue passieren lässt: „Toxic futures and mythical histories have intertwined to contiuously shape-shift our bodies from one form to the next.“
Appetitlich sind beide Arbeiten in ihrer motivisch und inhaltlich über den Geschmack hinaus viele Sinne ansprechenden Qualität. So bedrohlich die Effekte der Ciguatera im menschlichen Organismus ausfallen, so poetisch, fast blumig ist die Sprache, die von ihnen berichtet. Halluzinationen ordnen sich zu immersiven Szenarien an, die andeuten, wie eine Irritation der Sinne synästhetisch bereichernd sein kann (wenn auch nicht ersehnt als Symptom einer Fischvergiftung). Bopapes Bilder laden ein, die ins Wasser diffundierenden Essenzen der Blüten und Früchte, durchtränkt vom salzigen Nass, fast auf der Zunge zu schmecken. Sie treiben wie ein aufgelöstes Stillleben aus dem Sichtfeld. Gegenläufig gefilmte Strömungen bewegen sich in verschiedene Richtungen fort und fördern einen leichten Schwindel.
Appetit wird durch einen Antagonismus von Hungrig- und Sattsein signalisierenden Hormonen geregelt. Was aber, wenn dieser aus dem Gleichgewicht gerät? Dafür ist nicht immer nur Gier verantwortlich. Auch Konditionierung lässt das Wasser im Mund zusammenlaufen, selbst wenn wir gar keine Nahrung vor uns haben, sondern bloß ein assoziierter Reiz präsentiert wird. Besonders wenn uns medial transportierte, oft primär den Sehsinn adressierende „Botenstoffe“ übermitteln, dass wir eine bestimmte Art von Zugang zur Natur haben sollten, gilt es, den Appetit zu regulieren und zu reflektieren.
Beide Installationen sensibilisieren unseren Gleichgewichtssinn, sich neu auszurichten. Verzerrte Umgebungsgeräusche bei Policarpo sowie überlagertes Singen und Rufen, Klatschen und Trommeln unter Wasser bei Bopape verschieben den Fokus von der visuellen Immersion zum auditiven Schwanken. Die Andeutung einer Seekrankheit, die den Appetit – auf Bilder, Geschichten, Kontakte und Souvenirs von der Reise – mit der Ungewissheit seiner Konsequenzen konfrontiert: Keine alarmierende Krisenrhetorik, sondern eine Erinnerung an die Verantwortung, dass Appetit gepflegt werden muss; dass er dennoch nicht die alleinige Kraft bleiben kann, sondern eine Gegenspielerin braucht. Antagonistin des Appetits ist die Flauheit, wenn wir realisieren, über die Stränge geschlagen zu haben.
Schall und Transduktion
Auch Anne Duk Hee Jordans Worlds Away | Clam Extravaganza (2022), die im Rahmen der Ausstellung YOYI! Care, Repair, Heal im Berliner Gropius Bau gezeigt wurde, lässt sich in diese Überlegungen einreihen: Geradezu appetitlich hängt die Decke der als Raum (oder „Beutel“) im Ausstellungsraum konzipierten Mehr-Kanal-Soundinstallation voller leuchtend bunter, auf feinmaschigen Netzstoff gedruckter Mikroorganismen. Flach auf dem Rücken unter diesem „Himmel“ liegend, fühlt man sich beinahe wie im Schlaraffenland, in einem submarinen Süßigkeitenladen, in dem à la Alice im Wunderland die Größendimensionen und Raumkoordinaten durcheinandergeraten: Vom Boden aus blicken wir nach oben in die Tiefe. Je nach Position im Stehen oder Liegen spüren wir andere Frequenzen im Körper: die Bässe der Tiefsee, die in uns vibrieren; die höheren Frequenzen, hörbar im Kopf, in denen sich tierische Laute, Motoren und Atemgeräusche mischen. Bei längerem Zuhören entstehen vage Assoziationen zu Geräuschen in Bauch und Magen. Vom Sehnsuchtsort werden wir in einen Raum katapultiert, in dem sich unser sinnliches Verdauen und der Ozean, der ebenso uns bzw. die Auswirkungen des Menschen verdauen muss, ineinander stülpen.
Melody Jue beschreibt den Ozean als Medium eines conceptual displacement:5 Wie in der Science-Fiction werden Empathie und Reflexion durch Entfremdung aus dem Alltag erreicht, die uns gewohnte Rezeptionsweisen hinterfragen lässt. Weniger geht es um das Eintauchen in die Perspektiven anderer als um das Widerklingen des eigenen Körpers – im Appetit und im Schwindel. Klang kann diesen Übergang von Genuss und Flauheit im Zuviel oder Zuwenig spürbar machen. Er bildet eine Schwellenzone hin zu spekulativen Erfahrungswelten. Der „carrier bag“ ist dabei nicht bloß ein multimedialer „Beutel“, sondern permeables Textil, transduktive Textur, „to convert variations in (a medium) into corresponding variations in another medium“.6
Um hörbar zu werden, sind Schallwellen stets auf Transduktion über das Innenohr angewiesen. Der Ozean ist auf Akustik ausgerichtet, Kommunikation funktioniert unter Wasser über Sonar. Schall wird im Wasser viermal schneller als in der Luft transportiert, was die menschliche Orientierung erschwert. Die Geschwindigkeit verunmöglicht es unseren Ohren, Direktionen auszumachen. Field Recordings, die aus dem Wasser an die Luft geholt und zu räumlich immersiven Soundscapes verdichtet wurden, sind also notgedrungen verfremdet. Die beschriebenen Beispiele umgeben uns mit akustischen Verzerrungen, rhythmischen Wiederholungen oder Frequenzen, die atmosphärischen Druck unter der Haut „hörbar“ machen. Sie erinnern daran, dass die Klänge Ergebnis der Vermittlung entlang einer elementaren Wahrnehmungsgrenze sind – und jedes Eintauchen in eine mehr oder weniger entlegene, unberührte oder scheinbar gewohnte Natur eine solche Transduktion darstellt. Zuhörend werden wir (Über-)Träger*innen eines filternden Säckchens aus sozial, kulturell und organisch geprägten Kapazitäten der Sinne: „motivated not by the visual rhetoric of individual self-reflection and self-correcting perspectivalism, but […] animated by an auditorily inspired attention to the modulating relations that produce insides and outsides, subjects and objects, sensation and sense data“.7 Stefan Helmreich, der betont, wie die Phänomene Resonanz, Hall und Echo zwischen Präsenz und Distanz, dem Individuellen und dem Kollektiven vermitteln, trifft sich hier mit Le Guins Aversion gegen Heldenerzählungen.
Welche Art von akustischem (Lebens-)Raum unter Wasser entsteht, entzieht sich speziesspezifisch unserer Wahrnehmung – die Übertragung lässt eine Lücke, die umso mehr die Vorstellungskraft herausfordert. Davon zeugen etwa Versuche vieler Forscher*innen,8 die uns unverständliche „Sprache“ der Meereslebewesen in Analogie zu Unterwassertechnologien zu erklären oder aufgezeichnete Tierlaute mit dem Klang von Popcorn und brutzelndem Speck zu vergleichen. Ähnlich wie diese kulinarischen Beschreibungen verschieben auch die klanglichen Transformationen in der Kunst unsere alltäglichen Wahrnehmungsgewohnheiten und Erwartungen an die sinnlichen Qualitäten verschiedener Umwelten. Sie deuten eine Gegenwelt an und paraphrasieren die Eigenschaft des Ozeans als „anti-environment“ (Marshall McLuhan): Er macht für uns die Spezifika terrestrischer Wahrnehmung reflektierbar und bereichert sie, indem er für uns weitgehend unerfassbar bleibt.
[1] John Durham Peters, The Marvelous Clouds. Toward a Philosophy of Elemental Media. Chicago/London 2015, S. 56.
[2] Ebd., S. 57.
[3] Marina Camboni, Intervista con Ursula K. Le Guin, in: Ácoma. Rivista internazionale di Studi Nordamericani 18 (2000), S. 78–85, hier S. 83.
[4] Ursula K. Le Guin, The Carrier Bag Theory of Fiction. London 2020, S. 32.
[5] Vgl. Melody Jue, Wild Blue Media. Thinking through Seawater. Durham/London 2020.
[6] „Transduction“ im Oxford English Dictionary, zit. n. Stefan Helmreich, An Anthropologist Underwater: Immersive Soundscapes, Submarine Cyborgs and Transductive Ethnography, in: Jonathan Sterne (Hg.), The Sound Studies Reader. London/New York 2012, S. 168–185, hier S. 169.
[7] Ebd.
[8] Vgl. z. B. Andreas von Bubnoff, So knistert ein Korallenriff, FAZ online, 10. Dezember 2015; https://www.faz.net/aktuell/wissen/natursymphonie-so-knistert-ein-korallenriff-13957242.html, sowie Durham Peters, S. 67.