Heft 1/2023 - Zuhören


Methoden der Unterwanderung von Kunst und Kultur in Putins Russland

Keti Chukhrov


Die reaktionären Maßnahmen gegen Kunst und Kultur und die traditionalistische Zensur derselben, wie sie uns im putinistischen Russland begegnen, werden für gewöhnlich dem Widerwillen zugeschrieben, sich zeitgemäßen Entwicklungen in Politik, Kultur und Wirtschaft anzuschließen, sowie der Unfähigkeit, sich von den konservativen Wertvorstellungen der religiösen Vergangenheit bzw. der imperialistischen Herrlichkeit zu verabschieden. Die Tatsache, dass sich der Putinismus halten kann, wird darauf zurückgeführt, dass progressive Entwicklungen in der Kultur von Anhänger*innen obskurer Überzeugungen an sich gerissen wurden. Dies ist definitiv der Fall. Jedoch wären die Auswirkungen und der Einfluss putinistischer Strategien selbst auf die fortschrittlichsten Akteur*innen der Gesellschaft in den letzten 15 Jahren nicht so nachhaltig gewesen, käme es nicht immer wieder zur unbewussten Reproduktion derselben manipulativen Mittel, die auch die putinistische Politik einsetzt. Bei dem Versuch, diese Mittel offenzulegen, möchte ich hier die Bereiche der Kulturpolitik und Kunst näher beleuchten.

I. Wie das Konzept des „Zeitgenössischen“ manipuliert wurde
Nach 1989 herrschte im postsowjetischen Russland die Illusion vor, das Schlimmste wäre vorbei: Die Zensur experimenteller künstlerischer Produktionen, die Verfolgung widerständischer avantgardistischer Praktiken, das Verbot modernistischer und zeitgenössischer Ästhetik, die Kanonisierung offizieller Vorgaben für die Kultur, all diese autoritären Formen der Kontrolle schienen aufgehoben, und nicht einmal das Fehlen von Institutionen konnte die Integration in den globalen, institutionellen Kontext der zeitgenössischen Kunst verhindern.
In diesem vielschichtigen Prozess, der in den 1980er-Jahren begann und bis in die 2000er-Jahre andauerte, schien es, als habe die Kultur-Intelligenzia den Kampf für die sogenannten demokratischen, europäischen Werte und Freiheitsrechte gewonnen – zumindest auf dem Gebiet der zeitgenössischen Kunstproduktion, auf dem die Kunst stellvertretend für alle Formen emanzipatorischer Befreiung von den einstigen totalitären, konservativen oder traditionalistischen Einschränkungen stand.
Dieser Prozess fiel zusammen mit der sukzessiven Integration postautoritärer ehemaliger Sozialismen in ein globales, postsozialistisches Zeitgeschehen, in dem das beurteilende, wissende und politisch emanzipierte Subjekt von einer dezidiert westlichen Position aus sprach. Diese Art der Integration war gleichzeitig durch eine allgemeine neoliberale Normalisierung bedingt, das heißt, sie entfaltete sich de facto als Gleichschaltung der Kunstinstitutionen und ihrer Praktiken mit der progressiven, als Neoliberalismuskritik verpackten neoliberalen Kulturproduktion.
Dieses Paradigma der zeitgenössischen Kunst – oder der Kunst als Institut für das globale Zeitgenössische – begann sich mit der ersten Finanzkrise im Jahr 2008 aufzulösen. Diese Entwicklung ging weiter mit der Occupy-Bewegung und ihrem Scheitern in den Jahren 2011–12, gefolgt von der Krise der säkularen Autokratien im Mittleren Osten zwischen 2013 und 2015 sowie der Verdrängung von neoliberalen Demokratien in mehreren postsowjetischen Ländern durch eine globalisierungsfeindliche nationalistische Kulturpolitik.
In Russland wuchs vor allem nach 2012 der Einfluss der neonationalen Kulturpolitik, was zu einer Zensur des zeitgenössischen Kunstschaffens führte, das sich über die vergangenen 20 Jahre dort entwickelt hatte. Diese Verschiebung ergab sich nicht nur aufgrund des Aufstiegs neokonservativer Ideologien oder der Stärkung klerikaler Institutionen, wie gemeinhin angenommen wird. Der Angriff auf die zeitgenössische Kunst seitens der traditionellen Institutionen hatte vielmehr das Ziel, in der Produktion des „Zeitgenössischen“ das Kommando zu übernehmen.
Private Kapitalgeber*innen begannen viel früher, in postsowjetisches Kunstschaffen zu investieren und Institutionen zu schaffen als die staatlichen Unternehmen und Institutionen. Staatliches Kapital wurde unterdessen für die Entwicklung spezieller Polittechnologien, die Pflege kulturellen Erbes und Populärkultur eingesetzt. Der Grund, warum schließlich auch dem Staatskapital und den Sicherheitsbehörden zunehmend daran gelegen war, Kontrolle über das zeitgenössische Kunstschaffen zu gewinnen, war die Tatsache, dass die „nationale“ zeitgenössische Kunst 2011 bereits eine gewisse Konvertierbarkeit erlangt hatte. Verpackt als symbolischer globaler Kapitalwert war sie zur Repräsentantin der „nationalen“ Kulturproduktion geworden. Kurz gesagt, sie stellte eine Ware im globalen Warenkreislauf dar, die außerhalb der Kontrolle des nationalen Staatsmonopols lag, und durfte als solche nicht unbeaufsichtigt bleiben.
Im Kampf um die Nationalisierung des „Zeitgenössischen“ ging es jedoch nicht allein darum, die Protagonist*innen dieses Bereichs loszuwerden, ihre Positionen zu besetzen und ihre Praktiken nach erfolgter Lustration weiterzuführen. Um die Kontrolle über das zeitgenössische Kunstschaffen zu erlangen, musste die Bedeutung des Zeitgenössischen einem kompletten Paradigmenwechsel unterzogen werden.
Dies hatte zur Folge, dass die staatstreuen Institutionen sich de facto für traditionelle Werte auszusprechen begannen, gleichzeitig aber versuchten, diesen ein neues Label zu verpassen und sie als „zeitgenössisch“ darzustellen. Die allgemeine Strategie lautete, die Kulturinstitutionen intakt zu lassen, aber die Akteur*innen, die sie ins Leben gerufen hatten, loszuwerden und die Programme dieser Zentren durch Inhalte zu erweitern, die mit ihrem eigentlichen Kontext unvereinbar waren. Was passiert, wenn das Wissen über die Episteme des Zeitgenössischen fehlt, seine wahren Protagonist*innen von ihren Posten entfernt und ihre Stellen von seinen neuen Makler*innen besetzt werden? In diesem Fall wird der nächstbeste symbolische Wert – sei es die orthodoxe Religion, Volksmusik, die Malerei des russischen Realismus im 19. Jahrhundert, bildende Kunst, Hightechmedien, Folklore, Rockmusik oder gar die klassische Kunst – als zeitgenössische Kunst und Kultur präsentiert.
Es handelt sich also mitnichten um einen Kampf für die Rückkehr des wahren Wissens um Traditionen oder religiöse Spiritualität, sondern um einen Machtkampf im Umgang mit dem „Zeitgenössischen“, zumindest auf lokaler, nationaler Ebene. Dementsprechend kommt es, sobald in autokratischen Regimes oligarchisches Kapital verstaatlicht wird, zu einer schleichenden Beseitigung jeglicher Art von vormals privat finanziertem Überbau; insbesondere, wenn die betreffenden privaten Kapitalgeber*innen sich weigern, sich den staatlichen Monopolisierungsprogrammen und nationalistischen Umbenennungen anzuschließen. Der Grund für dieses Vorgehen ist, dass das Privatkapital in postsozialistischen Ländern die ursprüngliche Akkumulation um ein Vielfaches übertraf und so in der Lage war, einen entsprechenden Überbau zu schaffen, lange bevor staatliche Strukturen etabliert werden konnten.
In Russland war die Vernichtung der zeitgenössischen Kunst – als dem durch nicht-staatliche, private Förderung geschaffenen Überbau – durch staatliche Institutionen folglich notwendig, weil das staatliche Kapital kognitiv hinter diesem Überbau hinterherhinkte und nicht in der Lage gewesen wäre, ihn zu beherrschen.
Das Resultat können wir seit 25 Jahren beobachten: den Prozess der Vereinnahmung des zeitgenössischen Kunst- und Kulturschaffens durch herrschende Strukturen und regierungsnahe Unternehmen, die über keinerlei Erfahrung in der Produktion von zeitgenössischer Kunst verfügen. Diese Akteur*innen vollziehen letztendlich die Neudefinition dessen, was zeitgenössisch ist, und zwar zunächst unter den Bedingungen des autoritären Wandels und im Endeffekt dann der Diktatur.

II. Die vier Phasen der Unterwanderung von Kunst und Kultur im postsozialistischen Russland
Es gibt vier klar abgegrenzte politisch und ökonomisch definierte Phasen in der Entwicklung der zeitgenössischen Kunst nach den postsowjetischen 1990er-Jahren. Die Zeit davor, also die 1990er-Jahre, lässt sich im Hinblick auf künstlerische und verlegerische Praktiken als präinstitutionelle Zeit betrachten, geprägt von engen Kooperationen zwischen privaten Sammler*innen (Marat Gelman, Vladimir Ovcharenko, Elena Selina und anderen), Kurator*innen und internationalen Förder*innen (Soros, Institut Français), die zur Bildung eines einheitlichen künstlerischen Prozesses mit transparenten horizontalen Verbindungen führten.
In diesen Jahren bilden das ursprünglich akkumulierte lokale Kapital, ausländische Geldgeber*innen und das Kunstschaffen einen einheitlichen parainstitutionellen Rahmen, bestehend aus seinen bedeutendsten Akteur*innen, darunter das Moscow Art Magazine (Victor Misiano), die Rigina-Galerie (Vladimir Ovcharenko), die XL-Galerie (Elena Selina), das Center for Contemporary Art (Leonid Bazhanow), die Verlage Ad Marginem (Alexander Ivanow) und Gnosis/Logos (Valery Anashvili) und das Institute of Problems of Contemporary Art (Joseph Backstein), das die erste selbstorganisierte Bildungsinitiative im Bereich der zeitgenössischen Kunst darstellte. In diesem Prozess bestimmen die Künstler*innen, Kurator*innen, Verleger*innen und Autor*innen – auch wenn sie womöglich Förderung von Soros oder anderen Stiftungen erhalten – ihre nicht-kommerziellen Strategien selbst und bilden eigenverantwortlich intellektuelle Allianzen und Arbeitsgruppen.
1. Die erste Unterwanderungsphase nach dieser Zeit begann mit der ersten Moskau Biennale (2005) unter der Schirmherrschaft des Leiters der Föderalen Agentur für Kultur und Filmwesen, Michail Schwydkoi, und Joseph Backstein als Chefkurator der Biennale. Ihr Vorhaben, mit diesem „Großereignis“ in die Kunstszene zu intervenieren, wurde von dem Kurator Victor Misiano und dem Team des Moscow Art Magazine nicht mitgetragen. Vorausgegangen waren der Biennale die Eröffnung erster privater oder halbprivater Institutionen wie der Stella Art Foundation (2003), dem neu gegründeten Moskauer Museum für moderne Kunst unter der Leitung von Surab Zereteli (1999), dem Moskauer Haus der Fotografie unter der Leitung von Olga Swiblowa (1997), der Einführung des Kandinsky-Preises (initiiert von Shalva Breus, 2007) und der Eröffnung der Rodtschenko-Schule (unter der Leitung von Olga Swiblowa, 2006). Hier wurden die Kulturschaffenden – Kurator*innen, Künstler*innen, Autor*innen – zu bezahlten Akteur*innen. Das Management und die herrschenden Strukturen des kreativen Prozesses wurden ihnen zunehmend fremder, obwohl es der neuen Geschäftsleitung – Vertreter*innen des Privatkapitals in Kooperation mit den städtischen Institutionen – gelang, eng mit der Kunstszene zusammenzuarbeiten.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Ernennung von Surab Zereteli – ein von der zeitgenössischen Kunstpraxis sehr weit entfernter Künstler, der eng mit dem damaligen Bürgermeister von Moskau, Yuri Luzhkov, befreundet war – zum Leiter des wichtigsten Museums für zeitgenössische Kunst in Russland der Künstler*innen-Community anfangs sehr peinlich war. Als Reaktion darauf prägte der Künstler Anatoli Osmolowski den subversiv-affirmativen Ausdruck „für die Wohlhabenden sein“. Diese erste Phase dauerte von 2003 bis 2008: Im Kulturbetrieb hatten privates und semiprivates Kapital bereits die Macht, und die Künstler*innen und Kurator*innen dienten ihr. Dennoch behandelten die Vertreter*innen des Privatkapitals die Künstler*innen-Community mit Respekt und vertrauten auf ihre kreative Eigenverantwortung.
2. Die zweite Phase erfolgte im Namen von Staatsbeamt*innen oder dem staatstreuen Großkapital. Ihre Akteur*innen waren Wladislaw Surkow, Vize-Ministerpräsident der russischen Regierung, Sergei Kapkow, Leiter des Moskauer Kulturamts, Alexander Mamut, Medientycoon und Mitbegründer des Strelka-Instituts (2009), Roman Abramowitsch und Dasha Zhukova, Gründer*innen des Garage Contemporary Art Museum (2008), Leonid Michelson, Gründer des V-A-C Art Center (2009, heute bekannt als GES-2), Wiktor Wekselberg und Dmitri Medwedew, Gründer des Innovationszentrum Skolkowo. In dieser Phase versuchten die Institutionen, sich durch die Einladung namhafter Kurator*innen wie Hans Ulrich Obrist, Jean-Hubert Martin und Kate Fowle in globale Kunstzusammenhänge zu integrieren. Nichtsdestotrotz hatten diese Einladungen noch immer ein Format, das dazu führte, dass die eingeladenen „Stars“ oder die „von oben“ kommissionierten Projekte die lokalen Projekte in den Hintergrund treten ließen.
Die institutionelle Produktion musste Teil des modernisierten urbanen Raums werden. Durch die unvermeidliche Vereinnahmung künstlerischer Praktiken durch die Kulturindustrie verlor die Rolle der Künstler*innen oder Kurator*innen im größeren Projekt der sogenannten Modernisierung – die ein Regierungsauftrag des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew an die Kulturschaffenden war – an Kontur. Obgleich in dieser Phase von 2007–11 keine vollständige Kontrolle über die Institutionen der zeitgenössischen Kunst zu beobachten war, waren die künstlerischen Prozesse an der Basis bereits von der Geschäftsideologie der Kulturinvestor*innen – Mamut, Zhukova, Michelson etc. – vereinnahmt worden. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es dem Strelka-Institut und dem Garage Contemporary Art Center trotz aller Vereinnahmung mit der Zeit gelang, auf professioneller Ebene relativ eigenständig zu agieren. Nach und nach entledigten sie sich der eingeladenen Kurator*innen und verlegten sich auf eher konzeptuell organisierte und recherchebasierte Kulturprojekte. Zu dieser Zeit herrschte noch der feste Glaube daran, dass Kultur- und Stadtentwicklung modernisiert und in öffentliche Trägerschaft übergehen könnten und dass intellektuelle Produktionen der Unterhaltungsindustrie und der billigen patriotischen Propaganda überlegen sein würden, da diese damals ihr Publikum zu verlieren schienen.
3. Die dritte Phase ist gekennzeichnet von einer konservativen und patriotischen Wende, die sich beispielhaft im Pussy-Riot-Prozess von 2012 zeigte und von einem neuen Team im Kulturministerium unter der Leitung von Wladimir Medinski eingeleitet wurde. Bis dahin war der Bereich der zeitgenössischen Kunst und Kultur von regierungsfreundlichen Großunternehmen und Oligarch*innen kontrolliert worden, die Wert auf eine intellektuell hochwertige Produktion legten, versuchten, im Rahmen des global ausgerichteten Semiokapitals zu operieren, und im Namen international anerkannter Formen urbaner und kreativer Produktion handelten. Ab 2012 definierte der Nationalstaat als Korporation, was zeitgenössisch ist – ohne irgendwelche Kontexte internationaler Gegenwartskunst zu berücksichtigen. Ein bekanntes Resultat dieser Wende stellte der russische Pavillon auf der Venedig Biennale 2019 dar, der von dem Theater- und Opernregisseur Dmitri Tschernjakow kuratiert wurde.
So wie das Dreigespann der Modernisierer (Surkow-Kapkow-Mamut) einst die unkonventionellen und selbstorganisierten Kunstinstitute abserviert hatte, wurde dieses nun selbst von den Kulturträger*innen des Nationalstaats hinweggefegt. Von Bedeutung war dabei weniger ein explizit nationalistisches Narrativ als die Aneignung jener Institute, die für Anerkennung, Validierung sowie die Produktion von Kriterien zuständig waren. Das Bedauerliche an dieser Abfolge von Vereinnahmungen kultureller Strukturen durch die Neuankömmlinge ist die Auslöschung der zuvor entwickelten Strukturen, kulturellen Codes und Errungenschaften. Als Konsequenz dieser Entwicklung wimmelte es Anfang 2022 in Moskau, St. Petersburg und Jekaterinburg nur so von Kulturinstitutionen und deren Produktionen. Wobei ihr „Produkt“ den Habitus von Museumsführer*innen repräsentierte, die sich als Berufsanfänger*innen hastig oberflächliches Wissen über die internationale Kunstgeschichte reinschaufeln, um dann so zu tun, als hätten sie die sehr viel kompetenteren Kurator*innen ersetzt. Dieser Prozess dürfte sich noch ausweiten, da viele Kurator*innen und Künstler*innen den russischen Kulturraum nach dem 24. Februar 2022 verlassen haben.
Interessanterweise tendierten in den 2010er-Jahren progressive Institutionen weltweit dazu, Bündnisse gegen die Mega-Kunstmuseen zu schmieden, um sich von jeder Art von kultureller Machtpolitik abzugrenzen. Eine solche Initiative war beispielsweise L’Internationale, imitiert von der Kuratorin Zdenka Badovinac, die MG+MSUM (Ljubljana), M HKA (Antwerpen), Reina Sofia (Madrid), Van Abbe (Eindhoven), SALT (Istanbul) und MACBA (Barcelona) zusammenbrachte. In Moskau herrschte die entgegengesetzte Tendenz: Das 2019 ausgerufene Bündnis zwischen der Tretjakow-Galerie, dem Pushkin Museum, dem Garage Art Center und dem GES-2 zeigte die Bestrebung kleinerer und relativ unabhängiger Institutionen, sich mit den machtvollen Staatsmuseen zusammenzutun.
4. Die vierte Phase der Unterwanderung ist gekennzeichnet durch die Rückkehr der Unterhaltungsindustrie. Populärkultur und Showbusiness sind vom Staat angehalten, zu zensieren und die Überreste der kritischen Kultur- und Intellektuellennetzwerke an der Basis auszuradieren. In den jüngsten Programmen der British Higher School of Art & Design (Moskau) geht die Kunst in den kreativen Fächern auf – Mode, Werbung, Popmusik, TV, Internet und Design – und wird von der leichten Unterhaltung hinweggefegt. Letztere, so schien es noch vor einiger Zeit, hatte ihren Einfluss in der Surkow-Kapkow-Epoche zugunsten kognitiv ausgerichteter Ansätze eingebüßt. Jetzt, wo die Unterhaltungsindustrie ein patriotisches Branding erfahren hat, konnte sie ihre Vormachtstellung im öffentlichen Raum und der Kultur wiederherstellen. Infolgedessen sind die Kreativ- und Unterhaltungsindustrie ästhetisch und konzeptionell raffinierter geworden, während der zeitgenössischen Kunst ihr Vokabular entzogen wurde, um sie herabzustufen in Richtung traditioneller Kunst, Werbung, Mode und sentimentalem journalistischen Geschichtenerzählen.

III. Semantische Manipulation in der putinistischen Polittechnologie
Wie bereits zu Beginn bemerkt, ist der Einfluss des Putinismus nicht auf die reine Propaganda beschränkt; seine Macht verbreitet sich auch durch die unbewusste Reproduktion der semantischen Verzerrungen, mit denen die Polittechniker*innen des Kremls arbeiten.
Linguistische und semantische Manipulationen – das Ersetzen früherer Bedeutungen durch neuere beim Gebrauch derselben Wörter oder aber die Verfügung neuer Bedeutungen für bestimmte Wörter, die diese zuvor nie hatten – waren auch im Dritten Reich weitverbreitet. Victor Klemperer spricht in (1947) von Fällen, in denen der Nazismus im unbewussten Gebrauch der Sprache von Menschen zum Ausdruck kam, die mit seinen Ansichten und Überzeugungen eigentlich nichts zu tun haben wollten. Mit anderen Worten, Konformität mit dem Regime kann sich auch dann unbewusst zeigen, wenn die Akteur*innen die politische Assoziation mit demselben verweigern. So schreibt Klemperer: „Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne man kein Held sein.“1 Oder er beschreibt, wie unter den Nazis Worte nach und nach ihre kognitiven Komponenten zugunsten affektiver Aspekte verloren. Klemperer: „Je sinnlicher eine Rede ist, je weniger sie sich an den Intellekt wendet, umso volkstümlicher ist sie. Von der Volkstümlichkeit zur Demagogie oder Volksverführung überschreitet sie die Grenze, sobald sie von der Entlastung des Intellekts zu seiner gewollten Ausschaltung und Betäubung übergeht.“2
Während es der Nazi-Polittechnologie eher darum ging, die Modalitäten der semantischen Verwendung eines Worts zu verändern, ohne es abzuschaffen, besteht die Methode des Putinismus darin, disparate Bedeutungen und Konzepte zu verschmelzen, oder das eine anstelle des anderen zu verwenden. Die oben beschriebene vierte Phase, die in der ultimativen Vereinnahmung kritischen Denkens und jeglicher intellektueller Aktivitäten an der Basis durch die Unterhaltungsindustrie besteht, offenbart eindeutig dieses Vorgehen. Die semantische Manipulation zeigt sich in zahlreichen Kulturproduktionen nach 2011, zum Beispiel dann, wenn ein Theater- und Opernregisseur (Dmitri Tschernjakow) als Kurator des russischen Pavillons der Venedig Biennale (2019) auftritt; oder wenn am Fachbereich Kunst Film unterrichtet wird, die Filme aber als zeitgenössische Kunst durchmogelt werden, weil diese etwas Unerklärliches, politisch Unkorrektes oder gar Unbekanntes darstellt; oder wenn das Pushkin Museum versucht, sich als Institution hervorzutun, die sich mit zeitgenössischer Kultur beschäftigt und eine Ausstellung über Bill Viola als Verkörperung der neuesten künstlerischen Praxis anpreist.
Diese Logik des Unterschiebens einer falschen anstelle der wirklichen Bedeutung kommt auch zum Tragen, wenn beispielsweise ein*e junge*r Kurator*in eine Ausstellung über den Moskauer Konzeptualismus kuratiert, sich aber nicht mit dessen Methode der reduktionistischen bzw. negativen Kritik beschäftigt, sondern stattdessen betont, wie er sich der Populärkultur, dem freien Markt und der kapitalistischen Freiheit geöffnet hat. Eine derartige Verzerrung des Moskauer Konzeptualismus hat an sich nichts wirklich Putinistisches und doch reproduziert sie unbewusst eine Ethik, die es erlaubt, es mit der Geschichte, dem kulturellen Erbe und Kontext nicht so genau zu nehmen und falsche Wahrheiten als echte zu etablieren.
Nehmen wir ein anderes Beispiel aus dem Bereich der künstlerischen Bildung: Eine Kulturbeamtin, die eine Doktorarbeit über das Kuratieren von Kunst schreiben möchte (und anschließend als Kuratorin arbeiten will), kritisiert in ihrer Arbeit die Kunstproduktion aus der Sicht der urbanen Freizeitgestaltung; denn schließlich ist die Kunst mit ihrer anspruchsvollen und kritischen Poesie weniger publikumsfreundlich als Theater, Kino oder andere Formen der Freizeitgestaltung. Indem sie versucht, das Publikum unter dem Dach eines zivilisierten Kulturkonsums zu vereinen, trägt besagte Doktorandin unfreiwillig zur putinistischen Kulturpolitik bei.
Genau das macht den Putinismus so stark. Er ist tief vorgedrungen in das Reich der Wünsche und Produktionsweisen, ermöglicht aber auch den Betrug durch Fähigkeiten, die man selbst nicht besitzt, bzw. Errungenschaften, die man nur vortäuscht. Auf diese Art gestattet das Phänomen des unbewussten Putinismus Menschen, ihre Unwissenheit als Qualifikation zu verkaufen oder einen katastrophalen Krieg als Spezialoperation zu definieren, wie am 24. Februar 2022 geschehen. Schlussendlich ermöglichen solche Methoden die Verkehrung von Abwesenheit in Anwesenheit und umgekehrt.
Das Entscheidende an dieser Manipulation ist, dass die verzerrten Bedeutungen Eingang finden in unsere Ansichten, Verhaltensweisen und ästhetischen bzw. moralischen Programme. Und dies geschieht, wie ich mehrfach betont habe, nicht nur durch die konservative Politpropaganda, sondern auch mittels der entpolitisierten „glücklichen“ und glamourösen Branchen der Mode, der Unterhaltung und der monetarisierten Netzwerke, die durch ihre Reproduktion konsumgeprägter Lifestyles jedes kritische Denken in Bezug auf Kultur und Politik entweder negieren oder für sich vereinnahmen. Ebenso möchte ich daran erinnern, dass der Prozess der Zerschlagung von Kulturinstitutionen und NGOs – Memorial (Memorial Human Rights Center und Memorial International), das Sacharow-Zentrum oder das National Center for Contemporary Art – eher von Personen aus der Unterhaltungsindustrie, den Influencer*innen des glamourösen Konsums, ausgingen als von Verfechter*innen traditioneller Werte.
Es überrascht daher nicht, dass viele, die in Russland geblieben und vielleicht sogar gegen den Krieg sind, dennoch ihren angenehmen Lebensstil fortführen und damit unfreiwillig das putinistische Regime reproduzieren, während die russische Armee dabei ist, die Ukraine zu vernichten.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

[1] Victor Klemperer, LTI. Lingua Tertii Imperii: Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947, S. 30.
[2] Ebd., S. 86.