Lyon. Der letzte Herbst bot eine Tour de Force durch Großausstellungen. Vor Schließung der letzten kuratorisch selbstbestimmten documenta ein zweitägiger Besuch in Kassel, dann zur feministisch kuratierten Prag Biennale, ins postsurrealistische Venedig der Hauptausstellung und im Dezember dann noch Lyon: Hier eröffnete sich ein Kosmos an großformatig und theatral inszenierter inhaltlicher Dichte und voller Überraschungen. Unter dem Titel Manifesto of Fragility hatten die beiden international gehypten Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath einen Parcours durch verschiedenste Institutionen und Räume der Stadt choreografiert. Wohl auf kollektive Erfahrungen in der Coronapandemie zurückführen, war der kuratorische Call an die Künstler*innen, „die Sensibilität für die Welt und ihren Wunsch nach Widerstand“ in ihren Kunstwerken auszudrücken.
Das „Manifest“ teilte sich in eine horizontale und eine vertikale Achse: In A World of Endless Promises waren Kunstwerke von 80 zeitgenössischen Künstler*innen aus 39 Ländern (beide Kuratoren stehen als Experten für den (saudi-)arabischen Raum) an verschiedenen Ausstellungsorten zu sehen. Die riesigen Hallen der ehemaligen Fagor-Fabrik bildeten neben dem Musée Guimet die zentralen Biennaleorte. In der Vertikale veranschaulichte sich die Ausstellung The Many Lives and Deaths of Louise Brunet mit zeitgenössischer Kunst und vielen historischen, fiktionalen Artefakten im MacLYON. Die junge Frau Lousie Brunet beteiligte sich 1834 als Aufständische an der Revolution der Lyoner Seidenweber*innen („les canuts“), kam ins Gefängnis, wurde später entlassen und begab sich auf eine gefahrvolle Reise von Lyon zu den Seidenfabriken des Libanongebirges. Der Fund eines Briefs an ihre Schwester diente als Grundlage für eine erfindungsreiche Betrachtung der Fragilität. In Episoden wird Louise Brunets Leben in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten neu erfunden. Fiktion und Realität kreisen um die Theorien von Rasse, Gender, Sterblichkeit, Ökonomie und Lust.
Louise Brunet steht für fragile Körper: etwa das Gedenken an die Aids-Toten in New York ab den frühen 1980er-Jahren. Rafael Francas Video Prélude to the Announced Death (1991) – das die Fürsorge eines Freunds beim Tod des Künstlers im Spital zeigt – steht im Zentrum der Ausstellung, umgeben von Richard Learoyds ästhetischen Farbfotografien Triptych Octopus, (2007), eine emotional aufwühlende, gleichzeitig auch erotische Inszenierung über das Sterben. In der Episode Fragile Skin findet sich Louise Brunet als barbusige Wolofi, die von einer Meute gejagt, sich am Berg in die St. Vergins Kapelle retten kann. Dieses Kapitel führt zu einer Neubetrachtung religiöser Narrative wie der „Heiligen Jungfrau Maria“. Neben historischen Darstellungen von Madonnenbildern aus der Renaissance werden eine Holzfigur mit Kind aus der Kolonialzeit neben Porzellanmadonnen von Ann Agee gezeigt. Sie hat während der Coronazeit unzählige Madonnen mit dem Kind erschaffen, jedoch mit dem kleinen Unterschied, dass Jesus ein Mädchen ist. Bei der blauen Penismadonna befindet sich der Penis als Fruchtbarkeitssymbol an der Perlenkette am Hals. Darüber ein Bild von einer modernen Madonna mit hüftlangem schwarzen Haar, runden schwarzen Augen und dem Kind zwischen den Beinen (1972) von Semiha Berksoy, daneben eine Fotografie Mohamad Abdounis, in dem sich eine transsexuelle Person im Trans-Alltag von der „Mutter“ schminken lässt. Dieses Eintauchen in verschiedene Kulturen und Epochen bringt spektakuläre, feinsinnige bis krude, elegante, hin und wieder rein formale Verflechtungen der Kunstwerke zutage, die die Lust am Kuratieren erleben lassen, was sich auch auf das (An-)Schauen überträgt.
Überwältigend ist die in der Hauptlocation Fagor gezeigte Multimediainstallation Where is My Mind (2020) von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, die aus mehreren synchronisierten Projektionen besteht und auf Bildern basiert, die in verschiedenen archäologischen Museen aufgenommen wurden. Diese Parade von anonymen Held*innen, deren Köpfe abgeschlagen sind oder andere Verletzungen aufweisen, die auch durch ihre Aneinanderreihung ihre Einzigartigkeit verloren, stellt „unsere Identität in einer Zeit infrage, in der wir das Gefühl haben, dass wir immer mehr in die Gefangenschaft von Daten und Codes geraten, die unsere Fähigkeit gefährden könnten, frei zu handeln und zu träumen, politisch und poetisch“.
Mohammed Kazems Bilder sind gleichsam Sprachrohr für die vielen anonymen, migrantischen Bauarbeiter auf den Baustellen Katars und anderer Golfstaaten, die zum Reichtum der Emirate beitragen, ohne dass sie in der Gesellschaft positiv wahrgenommen würden. Die sechs Leinwände der Serie Even the Shade does not Belong to Them (2022) sind selbstredend.
Cemile Sahin setzt sich mit Fragen der Fragilität motivisch wie politisch in der ästhetisch ansprechenden Multimediainstallation Drone Valley (2022) auseinander: tapezierte Luftaufnahmen, davor ein Video mit der Autobahn A4, eine strategische Route, aufgeblasene Mauerstücke wie eine überdimensionierte Luftmatratze weisen auf die 900 Kilometer lange Mauer an der Grenze zwischen Türkei und Syrien, Slogans „FOR NATIONS THAT CANNOT …, … CAN NEVER BE SURE OF THEIR FUTURE“ und klein die türkische Flagge als Logo. Sahin behandelt brandaktuelle Fragen, wobei Lausanne zum zweiten Mal als Schicksalsort auftaucht – vor 100 Jahren, als der Vertrag von Lausanne bei der Neuordnung des Nahen Ostens eine gravierende Rolle spielte, und jetzt mit der Drohnenproduktion aus Lausanne, die dem türkischen Patrouillensystem die Macht gibt, auf ideologische Realitäten zu setzen, sowie die gezielte Auslöschung von Landstrichen ermöglicht.
Das migrantische Kollektiv Organic Art Cie aus Marseille präsentiert das Ergebnis kollaborativer Workshops, die durch Situationen, Begegnungen und den Austausch mit Amateur*innen entstanden sind. Im ehemaligen Gewerkschaftshaus der Fagor-Fabrik ging es um die Neuerfindung der Bedingungen und der möglichen Formen des Kollektivs, die sie als „Gemeinschaft der Singularitäten“ titulieren, Le fantome du Bataillon de la Belle Mai (2022).
Für A World of Endless Promises dieser Biennale ist Text ein unzulängliches Reflexionsmittel, da er nur Mikroausschnitte behandelt. Was positiv nachhallt, sind die geschaffenen Räume für die Installationen, die in ihren Dimensionen die Arbeiten optimal entfalten ließen, seien es Highlights wie die Inszenierungen von Julian Charriére, Hans Op de Beek, Daniel Otero Torres oder das Mosaik von Aleppo von Dana Awartani, das einen Bezug zu Lugdunum, dem römischen Museum am Rande der antiken Stätte – einer Architektur von Bernard Zehrfuss – herstellt, selbst ein bleibendes architektonisches Highlight in Lyon und ein weiterer Ausstellungsort.
Das „Geschichtenerzählen“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Biennale: das fast 50 Meter lange Epos von Sylvie Selig mit seinen furchterregenden Gestalten; die fluoreszierenden moosgrünen Puks von Kim Simonsson; die Filminszenierung von Puck Verkade; der Sci-fi-Film Institute of Isolation von Luy McRae – das alles mag dazu beigetragen haben, dass die Biennale insbesondere ein junges Publikum (42 Prozent unter 26 Jahre!) erreichte.
Fast beiläufig und dennoch nicht weniger gewichtig wirkte im Rahmen der Biennale noch eine weitere Ausstellung Beyrouth and the Golden Sixties: 230 Kunstwerke von 34 Künstler*innen aus 40 Sammlungen weltweit mit mehr als 300 archivalischen Dokumenten. Etel Adnan und Simone Fattal haben sich mittlereweile ins westliche Kunstgedächtnis eingeprägt, doch wer kennt im deutschsprachigen Raum die Arbeiten von Saloua Raouda Choucair, Huguette Caland oder von Helen Khal und den anderen Künstler*innen?
Keine Erschöpfung, aber ein Ungenügen, nicht in die Tiefe der Angebote eingedrungen zu sein. Was hat man in diesem Kunstherbst nicht alles versäumt und doch so viel mitgenommen: Es scheint also doch einen Ausweg aus der Totalität des Betriebs zu geben – voller Ambivalenzen mitten in ihm eingebettet.