Heft 1/2023 - Artscribe


Anna Jermolaewa – Number Two

22. November 2022 bis 5. März 2023
Schlossmuseum Linz / Linz

Text: Milena Dimitrova


Linz. Zwei beleuchtete Pyramiden, eine in Schwarz, eine in Weiß, dominieren das Blickfeld beim Betreten von Anna Jermolaewas Ausstellung Number Two. Einer Leserichtung von links nach rechts folgend und daher der Annahme, dass sich deren Bedeutung am Ende erschließen wird, wendet man sich dennoch den auf Röhrenbildschirmen gezeigten Videoarbeiten nahe dem Eingang zu.
Diese tragen Titel wie Kurvenreich (2002), Motherhood (1999), Kiss (2006), Ass Peeping (2003), Solo (1999), On/Off (1999). Sie alle beschwören, mitunter auf humorvolle Art, eine Atmosphäre von Lust herauf, von Bedürfnissen, sensualen Erfahrungen und der Freude daran. Ass Peeping (2003) bewegt sich zwischen zwei Polen – der Objektifizierung, Sexualisierung und Selbstinszenierung von Körpern unter neoliberalen Vorzeichen und unmittelbarer Anziehung, Attraktivität, die nicht zwingend an Schönheit gekoppelt ist. Auf der Wiener Mariahilfer Straße filmte die Künstlerin wahllos die Gesäße von Passant*innen. Auf unterschiedliche Arten sind wir gezwungen, unsere Körper zu vermarkten. So lesen wir darin unwillkürlich die Beurteilung dieser Körper nach Schönheitsnormen. Damit entgeht uns jedoch der lustvolle Aspekt dieses Spaziergangs durch die Stadt,1 in dem auch wir schon Protagonist*innen waren. Der charakteristische provisorische, unmittelbare Stil der Videoarbeiten – die Künstlerin überarbeitet ihre Videoaufnahmen kaum und schätzt die Unaufwendigkeit des Mediums – versetzt uns dort hin.
Gedanken über Körperpolitik sind es, die die humorvollen Titeln und Arbeiten über Sinnlichkeit mit Arbeiten wie Research for Sleeping Positions (2006) oder Hostile Architecture (2019/22) verbinden. Sie untersuchen den Körper als Feld, auf dem politische Konflikte und gesellschaftliche Ordnungsversuche stattfinden, gesellschaftliche Verhältnisse sich zeigen. Und sie deuten in eine Richtung hin zu den subversiven, befreienden Kräften von Freude, Lust und von Zueinander-in-Beziehung-Treten. Für Hostile Architecture suchte die Künstlerin in London Plätze auf, an denen Ziernägel auf Architekturelementen angebracht sind, um Obdachlose fernzuhalten. Sie präsentiert in einer Slide-Show die Abdrücke, die diese auf ihrem eigenen Körper hinterließen, als Spuren seiner Unterwerfung unter Logiken neoliberaler Verhältnisse. Feindselige Architekturelemente sind heute ein bekanntes Sujet. Innerhalb des Werks von Anna Jermolaewa, das Kapitalismuskritik nicht ohne Kritik und Anklage an diktatorische Regime übt, und umgekehrt, sind sie Teil eines größeren Bilds von sozialer Ordnung und politischer Weltbühne.
Ihre Arbeiten Political Extras (2015), The Doubles (2021) und Singing Revolution (2022) setzen sich mit den Verwicklungen von politischen Realitäten und Mehrheitsmeinungen auseinander. In vielen der früheren Länder des Ostblocks wurde es nach der Wende 1989 gängige politische Praxis, Wählerstimmen – politische Körper – zu kaufen oder bezahlte Demonstrationen zu organisieren. So fungierte Anna Jermolaewa in Political Extras im Jahr 2015 in einer Persiflage auf diese politischen Persiflagen als Veranstalterin einer solchen Demonstration – für oder gegen die 6. Moskau Biennale. Doubles nimmt einen zentralen Platz in der Ausstellung als vierteilige Installation ein. Wiederum nach der Wende begannen Menschen, ihren Lebensunterhalt als Doppelgänger*innen von bekannten politischen Figuren zu verdienen oder ihr Einkommen aufzubessern und stellten ein kulturelles Phänomen dar, das Geschichte und politische Wirklichkeit aufarbeitet. Als Gäste auf Partys oder auf öffentlichen Plätzen konnte man Lenin, Stalin, Gorbatschow oder Putin treffen. Die Interviews mit Doubles dieser vier Figuren sind in einem Ambiente aus ihrer jeweiligen Zeit arrangiert. Man erfährt, dass die Beliebtheit und Nachfrage nach den Doppelgängern von Stalin und Putin zur Zeit der Entstehung von Doubles besonders hoch war – ein Spiegel politischer Realität und einer besorgniserregenden Geschichtsauffassung der russischen Bevölkerung. Befasst sich die erste Arbeit mit Manipulation, reflektiert die zweite, wie diese in im Grunde offensichtlich ungünstigen politischen Präferenzen münden kann.
Mit den Farbrevolutionen – wie die politischen Transformationen der 2000er-Jahre, die auf gewaltfreien Widerstand folgten – genannt werden, zeigte sich, wie Mehrheitsmeinung sich von unten bilden und gegen Diktate und Manipulation wenden kann. Ihr Erfolg verdankte sich der medialen Verbreitung und infolgedessen der Multiplizierung der Protestbewegungen. The Penultimate (2017) erinnert daran und auch Methods of Social Resistance on Russian Examples (2012) – eine Installation, die nachstellte, wie nach der Verschärfung des Versammlungsrechts 2012 in Russland im öffentlichen Raum Transparente tragende Puppen und Stofftiere auftauchten und sich schnell und nicht nur medial über Städte verbreiteten. In Linz ist aus dieser Werkgruppe und diesem Themenkreis die Arbeit Singing Revolution zu sehen, die im Sommer 2022 eigens für die Ausstellung entstand und von gewaltfreiem Widerstand und der Bildung einer Protestbewegung von unten handelt. Sie stellt die revolutionäre Lieder singenden Chöre der baltischen Länder vor dem Erlangen ihrer Unabhängigkeit nach. Man möchte die Liedtexte verstehen, doch auch ohne sie wird die Stärke dieser Art des Protests vermittelt.
Die Arbeiten Number Two (After Solomon Ash) (2015/22) und Both White (After Valeria Mukhina) (2015/22) nehmen Bezug auf zwei soziologische Experimente zu Anpassungsdruck und gruppenkonformem Verhalten von Individuen. Eine eingeweihte Gruppe gab vor Versuchspersonen jeweils eine falsche Antwort zur Länge von Linien oder der Farbe von zwei Pyramiden. In beiden Experimenten schlossen sich die Versuchspersonen rasch der inkorrekten Antwort der Gruppe an und behaupteten die Mehrheitsmeinung. Diese Arbeit mag eine Warnung sein, wie fragil unsere Körper sein können und wie leicht wir daher zu manipulieren sind. Doch verweisen die Werke von Anna Jermolaewa auch auf das emanzipatorische Potenzial von Begehren, wahren Bedürfnissen und Raum für Lust und Freude.

 

 

[1] Robert Pfaller, You Never Know If, in the End, You Hold the Phallus in Your Hand, Die Überraschungen des Offensichtlichen in den Arbeiten von Anna Jermolaewa, in: Anna Jermolaewa, Number Two im Schlossmuseum Linz, 2022.