Bozen. Re- Materialisation of Language: 1978–2022 ist eine Teilrekonstruktion der Ausstellung Materializzazione del linguaggio, die von der Künstlerin, Dichterin und Performerin Mirella Bentivoglio auf der 38. Biennale von Venedig (1978) kuratiert wurde. Obwohl das Konzept der Rekonstruktion historischer Ausstellungen und Installationen bereits von Claire Bishop, Cristina Baldacci, Viktor Wang und anderen erörtert wurde, machen die Kurator*innen von Re-Materialisation, Cristiana Perrella, Andrea Viliani und Vittoria Pavesi, mehrere Schritte, die es uns ermöglichen, diese Art von Ausstellung neu zu überdenken.
Zum einen haben sie Ausgangsbedingungen für eine neue Wertschätzung einer bedeutenden historischen Ausstellung geschaffen, welche Werke von einigen wichtigen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts zeigt, indem sie darüber hinaus auch das „re“ in „Re-Materialisierung“ betonten. So können wir nicht nur das Interesse an der Rekonstruktion mit Fragen zu Zeit, Geschichte und Wiederholung ergänzen und bereichern, sondern auch die marginalisierte Kunst von Frauen in den Mittelpunkt der kritischen Geschichtsschreibung und der Rezeptionsgeschichte der zeitgenössischen Kunst stellen.
Bentivoglios Materialisation of Language wurde direkt vom Biennale-Präsidenten Carlo Ripa de Menea in Auftrag gegeben, um auf den Mangel an Künstlerinnen in den Pavillons dieses Biennale-Jahres zu reagieren. Sie zeigte Arbeiten von 90 Künstlerinnen, Dichterinnen und Kollektiven – darunter Tomaso Binga (Bianca Menna), Irma Blank, Maria Lai, Lucia Marcucci, Giulia Niccolai, Anna Oberto, Mira Schendel und Patrizia Vicinelli, die über die Beziehung zwischen Frauen und Sprache nachdachten, um „in das Unbewusste und die Begegnung einer Frau mit ihrer eigenen Mythologie einzudringen“, wie Bentivoglio es ausdrückte.
Die Betonung auf Re-Materialisierung macht hier klar, dass die Kuratorinnen die Zeitspanne seit Bentivoglios Intervention bewusst nutzen. Sie geben nicht vor, als könnten oder wollten sie diese vollständig reproduzieren. Stattdessen versuchen sie, wie sie in ihrem kuratorischen Essay erklären, eine „philologische Rekonstruktion“ von Bentivoglios Ausstellung sowie die „zeitgenössische Reaktivierung und Rekontextualisierung ihrer historischen Instanzen“, indem sie viele der Originalwerke neben bisher unveröffentlichten Dokumenten ausstellen. Die Architektin und Künstlerin Matilde Cassani bietet etwa den Besucher*innen einen neuen Zugang an, indem sie die Ausstellung in alphabetischer Reihenfolge auf allen vier Wänden des Erdgeschosses der Fondazione Antonio Dalle Nagore angeordnet hat. Performances von Monica Bonvicini, Nora Turato und BRACHA (Barbara L. Ettinger) eröffnen einen zeitgenössischen Dialog mit den ausgestellten Werken.
Re-Materialisation enthält beispielsweise Jean Trevors Winds (1978), ein handgeschriebenes Gedicht, das spiralförmig auf weißem, kreisförmigem Papier angeordnet ist und mit einer Stecknadel – wie ein Windrad oder ein Spielzeug, das die Betrachter*in hypnotisieren soll – an einem rahmenden weißen Kartonhintergrund befestigt ist; oder Irma Blanks Documento ABCD (1977), Teil ihrer Serie Trascrizione (1973–79), 48 Seiten sinnlose Schrift auf drei an der Wand befestigten Tafeln; und Tomaso Bingas Collagenserie Alfabetiere murale (1976). Letztere zeigt Schwarz-Weiß-Fotografien des Künstlers, der nackt posiert und Buchstaben des Alphabets imitiert, die an allen vier Ecken des Blatts von roten und schwarzen Versionen dieser Buchstaben in verschiedenen Schriftarten umgeben sind. Damit parodiert er die Organisation des weiblichen Körpers und von Frauenleben durch patriarchalische Normen und Konventionen, insbesondere die Tradition der Darstellung des nackten weiblichen Körpers in der Aktmalerei männlicher Künstler – als wohl eine der klarsten Manifestationen dieser Form von Organisation –, und betont, was Binga als die schriftstellerische Qualität aller Kunst bezeichnet. Die Tatsache, dass Blanks Autorittrato E6 (1981) und Bentivoglios Da H a E, da lettera muta a parola – congiunzione (1982) ebenso wie die Performances von Bonvicini, Turato und BRACHA erst nach der Ausstellung von 1978 entstanden sind, unterstreicht, dass es sich hier um eine begrenzte, modifizierte Rematerialisierung von Materialisation of Language handelt und nicht um eine Eins-zu-eins-Wiederholung.
Dies ist von Bedeutung. Indem sie die ursprüngliche Ausstellung nicht einfach „wortwörtlich“ wiederholen, stoßen Perrella, Viliani und Pavesi neue Diskussionen über die Implikationen rekonstruierter Ausstellungen an. In diesem Zusammenhang lässt sich die Frage nach dem Ausschluss von Frauen aus künstlerischen, politischen, häuslichen und sexuellen Handlungsfeldern und Diskursen, in welche sie zentral involviert sind und sie zentral treffen, neu stellen. Dies impliziert auch Fragen zur kritischen Geschichtsschreibung und zur Rezeptionsgeschichte von zeitgenössischer Kunst im Allgemeinen. Die „philologische“ Arbeitsweise der Kuratorinnen erschließt neue Wege der kritischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst, indem sie die Ansätze von Philosoph*innen und Literaturwissenschaftler*innen nutzt und verfolgt, wer wann was über welche Ausstellung gesagt hat, wie es nicht oft geschieht. Diese Ansätze werden hier in Verbindung mit der Frage der „Rematerialisierung“, wie sie die rezenten Theaterwissenschaften stellen, gesetzt, welche den Schwerpunkt auf die historischen, sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen legt, die Regie-, Schauspiel- und Produktionsentscheidungen in Theaterstücken (bei denen es um Rekonstruktionen oder Wiederholungen geht) beeinflussen, und darauf, wie sich die kritischen Reaktionen auf diese Entscheidungen im Laufe der Zeit entwickelt haben.
In diesem kritischen und reflexiven Ansatz liegt aber auch ein großes Problem, da die Erläuterung all dieser Aspekte auf Kosten der Besprechung einzelner Werke geht, die angesichts der Vielzahl der gezeigten Werke ohnehin nur begrenzt oder gar nicht repräsentativ sein kann. Oft erscheinen die Reflexionen losgelöst, spiegeln lediglich das klinische Erscheinungsbild vieler Werke wider und deuten darauf hin, dass die unablässige Selbstreflexion, die für die Produktion, Ausstellung und Kritik zeitgenössischer Kunst unabdingbar ist, dazu führt, dass sie sich von der Öffentlichkeit isoliert, deren Unterstützung sie braucht, um ihre sozialen und politischen Ziele zu erreichen.
Übersetzt von Josef Chwatal