Heft 1/2023 - Netzteil


Tauchgang im fluiden Anderen

Auf der Suche nach „nicht-identischen“ Erfahrungsräumen

Christian Höller


Zu den verblüffenderen Auswirkungen des Digitalen zählt, dass es unseren Sinn für Aggregatzustände zunehmend durcheinanderbringt. Was ehemals als fest und vergleichsweise stabil angesehen wurde (Raum, Zeit, Polit- und Sozialgefüge), beginnt sich, wie es scheint, unter dem Zugriff digital-medialer Vermittlung immer mehr zu verflüssigen, währenddessen alles Prozesshafte, „in the making“ Befindliche umso fixeren, der Modifizierbarkeit durch Einzelne weitgehend entzogenen Regelwerken (Stichwort Algorithmen) aufsitzt. Und dass ein hochgradig materielles, energieaufwendiges Netzwerk globaler Infrastrukturen „Cloud“ genannt wird, verwirrt zusätzlich jedes Verständnis von digitaler Stofflichkeit. In diesem Zusammenhang eine Lanze für das Liquide brechen zu wollen, mutet auf den ersten Blick verwegen an – ist das doch genau jener Aspekt, dessen ideologische Propagierung die heimliche Machtkonsolidierung der Silicon-Valley-Giganten von Anbeginn an geschickt maskiert hat. Und mehr noch: Dass „alles Ständische und Stehende verdampft“, wie Marx und Engels bereits 1848 festhielten, wird in Zeiten des digitalen Kapitalismus von einem eigentümlichen Widersinn konterkariert: einer Neuverfestigung überwunden geglaubter Autoritäts-, Macht- und Gewaltkonglomerate.
Umso kühner wirkt es, dem „fluiden Anderen“ positive, von all diesen Bedenken unbehelligte Resonanzen abgewinnen zu wollen, wie das Amsterdamer Nxt Museum es in seiner aktuellen Schau Unidentified Fluid Other versucht. „In a world seemingly free from fixed social constraints, with no binary labels – everyone is ,other‘ and who we evolve into is – as yet – unidentified and fluid“, so die von Kurator Bogomir Doringer programmatisch vorangestellte Absicht. Man mag den utopistischen Geist solcher konterintuitiver Gegenwartsverklärung auf Anhieb begrüßen. Sind doch die aktuellen Grundwahrheiten – Krieg, Klima, politische Katastrophen – deprimierend genug, sodass es vielleicht wirklich an der Zeit ist, das Hyperreale und Übernatürliche mit einer anderen als bloß eskapistischen Bedeutung aufzuladen. Ob in der Erkundung nicht-binärer, über jeden sozialen Zwang vermeintlich erhabener Virtualitäten des Selbst tatsächlich ein emanzipatorischer Funke enthalten ist – einer, der über individuelles Identitätsdesign hinausgeht –, bleibt hingegen fraglich. Schließlich ist das „nicht-identifizierte Andere“, in das wir mittels virtueller Denaturierung „hineinmorphen“ sollen, zumindest gegenwärtig nicht davor gefeit, als bloßer Interface-Effekt hintergründiger Machtballungen (das dafür umso verheißungsvoller) eine besonders perfide Form der Selbsttäuschung zu befördern.
Hier kommt eine Figur ins Spiel, die tatsächlich eine Art Relais in Bezug auf Virtualität und Aktualität bilden könnte. Es ist dies der*die*das „Alien“, oder wie Doringer sagt: „xenos“ (altgriech. für Fremder/Gast), dessen Rolle im Kontext hyperrealer Welten fürwahr eine verflüssigende, zumindest destabilisierende sein könnte. (Das Wunschbild sind „new and uncanny realities […] filled with seductive, strange (xenos) entities“, wie es im Ausstellungstext heißt.) Dazu bräuchte es aber, wie Frédéric Neyrat unlängst ausgeführt hat,1 eine grundlegende Neuorientierung – eine, die „alien“ nicht substantivisch, gleichsam objektivierend versteht, sondern prozesshaft als eine Art Kraft, ein „Protokoll“, durch dessen fortgesetzte Anwendung allmählich eine andere Form von Humanität zutage tritt: eine inklusivere, multiplere, vielleicht auch „nicht-binärere“, die es schafft, einen „communism of the strange“ (Neyrat) zu begründen. Es wäre dies eine aus der Vielheit von Begegnungen mit „alien-ness“ erwachsende neue Art von Gemeinschaftlichkeit; erst als solche könnte ein Forum des „fluiden Anderen“ konkret Gestalt annehmen.
In der Ausstellung Unidentified Fluid Other wird die Rolle des Xenos von dem Avatar Viatrix verkörpert. Viatrix, entworfen von der britischen Künstlerin Harriet Davey, ist ein klassisches CGI-Wesen, das Schönheit und Schauder in sich zu vereinen versucht und in fünf Kapiteln durch die Schau geleitet. Soll heißen: Die Videosequenzen, in denen die Figur sich meist aus triefenden Gewässern (liquid other) erhebt und Kurzgedichte von Julia-Beth Harris „performt“, sind als Links zwischen den einzelnen Arbeiten gedacht. In den einzelnen Kapiteln geht es um Wiedergeburt, Ermächtigung, die dazu nötigen Rituale und zuletzt um Unendlichkeit. „I embody all genders, oddities and possibilities“, heißt es im Wandtext, und mehr noch: „[I am] a digital reflection of everything the physical world doesn’t allow you to be, to see, to show.“ Ziemlich viel für eine einzelne Figur, deren „alien-ness“, wäre da nicht die konzise und offen schillernde Poetik der Texte, reichlich uniform bzw. verdinglicht wirken würde.
Lu Yang, neuer Superstar der internationalen Szene, wirkt mit seiner*ihrer weit ausladenden Installation wie das formale Gegengewicht dazu. Sein*ihr bereits 2019 produzierter Film (bzw. das gleichnamige Videospiel) Great Adventure of Material World scheut keinen inszenatorischen Aufwand, um geradezu gnostisch von der Überwindung der materiellen Welt zu künden. Der Witz von Yangs weithin akklamiertem Ansatz liegt darin, die verschiedenen Level eines Computerspiels als – zu immer größerer Weisheit führende – Seinsdimensionen auszulegen bzw. mit dichten Abenteuerkaskaden zu bestücken, die ein „Ritter der materiellen Welt“ zu bestreiten hat. Am Ende mündet dies konsequent in den Kampf gegen das eigene Selbst, dessen größte Beschränkung der hartnäckige Glaube an die Existenz einer physischen Realität ist. Das „fluide Andere“ meint hier den Tausende Jahre alten religiösen Gedanken, die Wirklichkeit sei nichts als ein Reich der Illusion, das es in Richtung eines höheren Guts zu überschreiten gelte. Was Yang mit Mitteln der Computer(spiel)kunst gegenwartsgewandt unter Beweis stellt.
Ein veritables „Queer-topia“ führt die Zwei-Kanal-Installation Birds of Paradise (2019) von Jacolby Satterwhite vor Augen. Die schrägwinkelig zueinander platzierten Projektionen enthalten zum einen Animationen von andersweltlichen Gay Clubs und den sich rekursiv verschlingenden Aktivitäten dort, dazu Ritte auf hybrid-maschinellen Paradiesvögeln sowie Raumschiffe, die uns in ungeahnte Gefilde entführen. Zum anderen sehen wir reale Körper in elysisch angehauchten Performance-Settings, konterkariert von dokumentarischem Material, das Militär- und Polizeigewalt in den Fokus nimmt. Platziert ist dieses inmitten abstrakter, rund um die realweltlichen Szenen kreisender oder sich gänzlich von ihnen ablösender Raumfluchten – ein Verweis darauf, dass die hier ausgebreitete Queerness-Utopie widerstrebigen Fluchtpunkten ausgesetzt ist. Einen zusätzlichen Kontrapunkt bildet eine Neonarbeit in demselben Raum, worin Satterwhite ein Gedicht seiner 2016 verstorbenen schizophrenen Mutter Patricia (ebenfalls Künstlerin) in buntem Flackerlicht erstrahlen lässt: „Positive and negative spirits / Roaming on the earth / each making changes / for better or worse […]“ heißt es darin in gleißend bunten Farben. In diesem Setting löst sich am ehesten das Versprechen eines „nicht-identischen“ Erfahrungsraums ein, ohne sogleich in metaphysischer Spekulation zu zerrinnen.
Dass die Schau auch interaktive Komponenten bietet (etwa die virtuellen Mode-Ankleideräume von The Fabricant) oder das großräumige Eintauchen in fraktale Kosmologien (Foreign Nature von Julius Horsthuis), ist naheliegend. Gleichzeitig versinnbildlicht es den hier wirksamen – situativen und damit räumlich begrenzten – Überwältigungsgedanken. Und so entlässt eine*n das Wechselbad im fluiden Anderen schlussendlich doch mehr in eine „schlechte Unendlichkeit“, sprich ein sich reproduzierendes Gefühl dezidierter Finitheit, in der gleichwohl da und dort der Funke anderer möglicher Aggregatzustände aufblitzt.

UFO – Unidentified Fluid Other, Nxt Museum Amsterdam, 11. Juni 2022 bis 30. April 2023; https://nxtmuseum.com/unidentified-fluid-other/.