Heft 1/2023 - Netzteil


Vom Nichthumanen lernen

Yein Lees Skulpturen weisen in eine posthumane, feministische Zukunft

Christa Benzer


Obwohl sie dem Gegenüber – was ihre Größe, Figur und Masse betrifft – teilweise sehr nahekommen, laden sie bei der realen Begegnung nicht zur Berührung ein: Sie haben scharfe Kanten und ölig-klebrige Texturen. Es ragen elektrische Kabel aus ihren organlosen Körpern, die von Motorradteilen, Latex, Kunstblumen, aber auch digitalem Müll wie Computerteilen, ausrangierten Smartphones oder CD-Lesern zusammengehalten werden.
Die menschliche Spezies ist nach wie vor ein Bezugspunkt, wobei die bemalten Oberflächen vermuten lassen, dass über der Welt bereits ein postapokalyptischer gräulicher Schleier liegt. Dass die Kreaturen von Yein Lee unter anderem gefährliche Zacken aufweisen und mit ihrem Aussehen einen Sicherheitsabstand provozieren, ist zum einen dieser imaginierten, zukünftigen Umgebung geschuldet, zum anderen einer bewusst nicht-anthropomorphen Arbeitsweise: Das heißt, dass die Künstlerin die kontrollierende Perspektive zwischendurch bewusst abzulegen versucht, das Latex auslaufen oder den Heißkleber tropfen lässt.
Was deren „Aussehen“ betrifft, hat sie sich einen defensiven Abwehrmechanismus von der Natur abgeschaut, den sogenannten Aposematismus – von griechisch apo (weg) und sema (Zeichen). Die Verhaltensbiologie bezeichnet damit das Gegenteil von Tarnung, also die extra auffällige Färbung von Pflanzen und Tieren, die ihren Fressfeinden Präsenz, Ungenießbarkeit und Wehrhaftigkeit signalisieren.
Davon ausgehend, dass die biologischen Grenzen durch KI, synthetische Medizin, Nanotechnologie etc. ohnehin längst verschoben worden sind, verschränkt die Künstlerin Digitales, Physisches und Biologisches und schreibt so ihren Skulpturen gewissermaßen das planetare Dilemma ein. Auf der einen Seite erzählen sie von der Faszination für hoch entwickelte digitale Technologien, auf der anderen Seite von einem kaputten Planeten, von Müllbergen, Artensterben oder auch – wie die Figur Devouring Chaos (2022) – von einem potenziell anderen Weg: Lee hat sich für die ausladende, alles verschlingende, offene Form von posthumanen Überlegungen zum „Chaos als generativer Kraft“ inspirieren lassen, die laut Rosi Braidotti, die Möglichkeit böte, „anders zu werden als der normale Mensch“1.
Um dieses schwer fassbare dekonstruktive Ereignis zu fassen, hat sich Lee an Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend, Nr. 2 orientiert und neben organischem und elektronischem Material auch digitale Mittel benutzt – etwa ihre iPhone-App Slow Shutter, die Bewegung in einer dichten Abfolge von Fotos einfriert.
1988 in Seoul geboren, hat Yein Lee Malerei studiert und in der Bildhauerklasse von Julian Göthe an der Akademie der bildenden Künste Wien aus flächigen, aber immer materialreicheren Bildern dreidimensionale Körper entwickelt. „So als hätten sie Blitze, die durch Metall gejagt wurden, zum Leben erweckt“, schreibt Steph Holl-Trieu2 über ihre Bilder, bei denen unter dicken Acryl- und Lackschichten etwas Lebendiges zu pulsieren scheint. Die Metapher erinnert an Frankenstein-Filme, dabei habe sie selbst von Science-Fiction-Filmen wie Blade Runner vor allem gelernt, dass Gegenwart und Zukunft gleichzeitig stattfinden: Denn was im Film mit düsteren Straßenschluchten, trashiger Industriearchitektur und blinkenden Neonreklamen als Zukunftsszenario gezeichnet wurde, war für die Heranwachsende in der südkoreanischen Metropole der 1990er-Jahre in gewisser Weise schon Realität.
Cyberpunk und der technologische Hyperkonsumismus, der mit laufend neuen elektronischen Gadgets befeuert wird, haben die Künstlerin ebenso beeinflusst wie Mangas und ihre formwandelnden Protagonist*innen, auf die sie ihre Faszination für Hybridität, Transgression und Mutation zurückführt. Anders als deren hypersexualisierte weibliche Körper haben ihre Kreaturen die binären Geschlechtskategorien jedoch überwunden. Sie sind weder sexuell markiert, noch ist ihnen über Posen oder Gesten klassisch Geschlechtsspezifisches zugeschrieben.
Die von posthumanistischen Theorien inspirierten Kreaturen pflanzen sich über nicht-humane Biologien fort, wie die Skulpturen Blooming on Cybernetic’s Spines (2021) und Sprouting in Veins and Flesh (2021) zeigen. Die beiden Figuren – Lee schneidet deren filigran-organische Strukturen mit dem Plasmaschneider aus Metall aus – wirken wie höchst empfindsame Gewächse, die in gebärmutterartigen Membranen neue Sprossen und/oder Wirbel ausbilden.
In der Ausstellung Rejuvenate Body Order Now (2021)3, die unter anderem in dem von Künstler*innen betrieben Raum Le Box in Toulouse zu sehen war, tauchen ähnliche Membranen als Behälter für prothetische Formen noch einmal auf. In 3D gedruckt, werden darin Skelettteile wie der Obere Gliedmaßen-Knochen, links oder auch Interlock-Wirbelgeräte angeboten und über nabelschnurähnliche Kabel versorgt, bis sie über einen Bestellautomaten geordert werden.
Lee führt die Versprechungen der modernen Medizin mit deren Kapitalisierung zusammen, die Hoffnung auf Heilung mit der Panik, dass der menschliche Körper zur Ware werden könnte. Für die nötigen ethischen Diskussionen rund um diese Entwicklung sind Kategorien jenseits des „Natürlichen“ gefordert, schließlich ist ein zentraler Punkt des Posthumanismus, dass mit menschlichen Organen, biologischen Gliedmaßen oder einer natürlichen Geburt nicht automatisch Menschenrechte einhergehen.
In Anlehnung an diese Überlegungen von Rosi Braidotti und anderen könnte man in Lees Kreaturen „alternative Formierungen posthumaner Subjekte“ erkennen, die sich vom üblichen Sci-Fi-Personal darin unterscheiden, dass ihre Körper nicht martialisch oder unverletzbar, sondern vielmehr fragmentiert, instabil und unfertig sind.
Auch die Protagonist*innen der Installation Foreign Object Debris (2022) sind noch in der Entwicklung begriffen: Lee lässt ihre „Cyborg-Tänzer*innen“ – wie sie sie an einer Stelle nennt – über „Fremdkörper“ nachdenken und bringt den rassistisch aufgeladenen Begriff gleichzeitig mit alternativen Konzepten von Heilung, Pflege und Reparatur zusammen. Healing process, Get rid of the foreign matter titelt eine der Szenen, die eine Figur in einer Art Operationsstuhl zeigt. Vor ihr liegen Tools and Shelves for liquid bodies, wobei die Figur aus Stahl, Zweigen und anderen Materialien die Suche nach einem Fremdkörper komplett ad absurdum führt.
Was passiert, wenn es keine Ungleichheit produzierenden Unterscheidungsmerkmale zwischen den Körpern mehr gibt? Lee lässt eine nachdenklich wirkende Figur fragen, but in the end, what is the difference between the found object debris and me?, während sich ein Paar daneben gegenseitig den Rücken pflegt: Proper amount of Pathos, Caring, and Necessity of other beings. A cat can’t groom of her forehead – es gilt, von der Katze zu lernen, die sich bei der Pflege von unerreichbaren Stellen auch auf andere verlässt.
Alle drei Szenen sind Gegenentwürfe zu den transhumanistischen Körpern, wie man sie sich in Silicon Valley vorstellt. Anstelle von erweiterten, optimierten oder jüngeren Körpern haben sich Lees Kreaturen lieber Selbstschutz-, Fortpflanzungs- und Care-Techniken aneignet. Sie eröffnet damit einen überraschend optimistischen, kritischen wie auch humorvollen Blick in die Zukunft, in der ein gewisser Grad an Anpassungsfähigkeit nötig sein wird: in other’s shoes – maybe no need for shoes (2022) ist der lapidare Titel zu einer Figur, deren nach unten ausfransende Anatomie Schuhe überflüssig macht.

Im Kunstraum school, Wien, wird am 17. März 2023 eine Ausstellung von Yein Lee eröffnet.
http://weloveschool.org/; https://yeinlee.com/

 

 

[1] Rosi Braidotti, Posthuman Feminism. Cambridge: Polity 2021.
[2] https://yeinlee.com/devouring-chaos
[3] Ihre Ausstellungseinladungen basieren bis dato vorwiegend auf der Aufmerksamkeit, die ihr Instagram-Account @yeinplee generiert.