Heft 1/2023 - Zuhören


Wenn Brunnen sich blutrot färben

Fünf Kunstschaffende und Kulturarbeiter*innen aus Iran nehmen Stellung zur aktuellen Lage in ihrem Land

Hannah Jacobi


Im Januar 2023, als dieser Beitrag zusammengestellt wurde, erschütterte die Vollstreckung der Todesurteile an vier jungen Männern nicht nur die iranische Gesellschaft, sondern die ganze Welt. Sie waren aufgrund ihrer Teilnahme an politischen Protesten der Scharia-Delikte „Korruption auf Erden“ und „Krieg gegen Gott und Seinen Gesandten“ angeklagt. Ihre Namen waren Mohammad Mehdi Karami, Sayed Mohammad Hosseini, Mohsen Shekari und Majidreza Rahnavard. Viele weitere werden derselben „Verbrechen“ beschuldigt und müssen um ihr Leben fürchten. Das iranische Regime verbreitet Angst und Schrecken. Es versucht, die Gesellschaft zu zermürben, um die laufende Revolution zu stoppen, wie die deutsche Journalistin Gilda Sahebi es ausdrückt. Dies indes scheint unmöglich.
Die Bekundungen der fünf Kunstschaffenden und Kulturarbeiter*innen ergeben keine Chronik der Revolution, die durch „Jina“ Mahsa Aminis Tod am 16. September 2022 ausgelöst wurde. Vielmehr zeichnen sie ein Panorama, das Einblicke in persönliche Situationen und Traumata gibt, die Entstehung der Revolution und ihrer Kraft beleuchtet, eine Verbindung zur Kunst und zum Kulturbetrieb herstellt sowie Hoffnungen und Möglichkeiten aufzeigt.

S., Autorin und Übersetzerin, deren Hauptinteresse im Filmbereich liegt, beschreibt das emotionale Auf und Ab, das sie gerade erlebt:
Ich weiß nicht, ob ich meine Gefühle zur derzeitigen Situation in Iran in Worte fassen kann. Normalerweise versuche ich, eine poetische Ausdrucksweise eher zu vermeiden, aber anders kann ich es momentan nicht sagen: Es ist eine intensive, schmerzhafte Freude, die man außer von der Erfahrung einer Revolution nur von der Liebe kennt. Mir ist klar geworden, dass ich mich schon lange Zeit davor nicht mehr richtig lebendig gefühlt habe, und ich vermute, dass es vielen hier ähnlich geht. Es war, als hätte man seinen Alltag mit einer schweren Depression gelebt, garniert höchstens mit einer Prise Sarkasmus. Und plötzlich prallte man auf etwas Unbekanntes.
Natürlich habe ich auch Ängste, die meist in der Form von Was-wenn-Fragen auftreten. Was, wenn uns die Depression wieder überkommt? Was, wenn die Enttäuschung der Menschen unterschiedlichen Formen des Faschismus zum Aufstieg verhilft? Was, wenn der reaktionäre Wunsch siegt, der sich im Slogan „Mensch, Nation, Entwicklung“ ausdrückt, der bisweilen dem revolutionären Motto „Frau, Leben, Freiheit“ entgegengehalten wird? Was, wenn der Hass bleibt und wir es nicht schaffen, uns von der Diktatur zu befreien? Was, wenn es uns nicht gelingt, unsere Probleme mit Diskussionen zu lösen und gemeinsam zu handeln, sondern stattdessen wie üblich diejenigen, die das Geld haben und die Medien kontrollieren, die ganze Bewegung kapern?

Auch J., Kurator und Autor, spricht offen:
Meine persönliche Situation ändert sich von Stunde zu Stunde, je nach allgemeiner Lage, die sich hier sehr schnell wandelt. Die letzten Monate haben uns alle in vielerlei Hinsicht verändert. Ich verspüre Hoffnung, Angst, Wut und Trauer zugleich. Angesichts der Brutalität, die wir erleben, muss man wohl auch von Hass sprechen. Ich versuche, nicht zu hassen, aber das ist sehr schwer. Trotz allem möchte ich die Hoffnung nicht verlieren.
Ich nehme jeden Tag Beruhigungsmittel, damit ich funktioniere. Ich leide an schlimmen Kopfschmerzen und Albträumen. Mitten in der Nacht wache ich auf und schaue, was es Neues gibt. Man erschrickt vor jeder unbekannten Kontaktaufnahme, oder wenn es an der Tür klopft, denkt man, dass man selbst nun dran sei. Ich treffe nur ganz enge Freund*innen, und das nur selten. Dann sitzen wir da und reden. Es gab auch ein paar kleine Partys mit Drinks und etwas Tanz, um die ganze Spannung ein wenig abzubauen, aber gleich darauf wird man schon wieder mit schlechten Nachrichten bombardiert.

Raha, Dokumentarfilmemacherin und experimentelle Künstlerin, lebt seit einigen Monaten in Berlin
Vor ein paar Monaten musste ich Iran Hals über Kopf verlassen. Eines Tages drangen 15 Geheimdienstler der Revolutionsgarden in meine Wohnung in Bandar Abbas ein, wo gerade mein Dokumentarfilm Chichika Lullaby (2018) gezeigt wurde. Sie nahmen alles mit – Laptop, Festplatten, Smartphone usw. Dann wurde ich über mehrere Monate verhört. Nach drei Gerichtsverhandlungen, bei denen mir nur ein Pflichtverteidiger beistehen durfte, den ich mir nicht selbst aussuchen konnte und für den ich einen hohen Preis bezahlen musste, wurde ich zu einem Jahr und 90 Tagen Gefängnis verurteilt. Die Anklage lautete auf Beleidigung des „Obersten Führers“ [Ayatollah Khamenei] und Agitation gegen das Regime. Sie stützte sich vorwiegend auf mein Erscheinungsbild in den sozialen Medien und die kritischen Inhalte, die ich in meinen Profilen veröffentlichte, sowie auf den Inhalt meiner privaten Chatverläufe, die sie auf meinen Geräten fanden.
Heute weiß ich, dass ich es zu meiner Lebensaufgabe gemacht hatte, ungehorsam gegenüber den unsinnigen Gesetzen und Regeln in Iran zu sein. Es gab mir immer Kraft, meine Überzeugungen in einer Gesellschaft zu leben, die diese nicht toleriert. Ich trug fast nie das Kopftuch, außer auf großen Plätzen in den Städten oder bei den Behörden. Als Künstlerin war ich absolut unabhängig. Ich übersetzte, unterrichtete oder finanzierte meine Filme per Crowdfunding. Noch nie habe ich mit jemandem zusammengearbeitet, der mit dem Regime zu tun hatte. Meine Filme und Produktionen wurden nie in staatlichen Medien oder auf offiziellen Festivals gezeigt. So wurden sie erst auf mich aufmerksam, als meine Follower auf Instagram schnell mehr wurden. Ich vermute, dass sie es nicht ertragen konnten, dass eine unabhängige Künstlerin in Iran ihr Leben so lebt, wie sie es will. Auch der Umstand, dass ich einen sunnitischen Hintergrund habe, also zu einer Minderheit gehöre, wurde im Zuge der Verhöre und vor Gericht öfters erwähnt.

G. ist Künstlerin und Übersetzerin. Um zu verdeutlichen, dass die derzeitige revolutionäre Bewegung in einer langen Reihe von Revolten vor und nach 1979 einzuordnen ist, geht sie in die Geschichte zurück
Mein Vater war Ingenieur, verbrachte aber die meiste Zeit seines Lebens mit Malerei. Meine Mutter war Lehrerin. Beide gehörten der Linken an und wurden 1981 inhaftiert. Nach dem Gefängnisaufenthalt brach mein Vater psychisch zusammen und ging nach und nach in die innere Emigration. Meine Mutter wurde gefeuert. Die meisten linken Freund*innen meiner Eltern wurden damals eingesperrt. Manche wurden verrückt, manche brachten sich um, und manche wurden hingerichtet. Natürlich wanderten auch einige aus. Ich glaube, dass sie zusätzlich zum körperlichen und psychischen Druck im Gefängnis auch das Gefühl hatten, mit ihrem Ideal, der Forderung nach Gleichstellung, gescheitert zu sein.
Das schicke ich vorweg, um zu betonen, dass unser Kampf nicht eben erst begonnen hat. Seit der konstitutionellen Revolution von 1905 kämpft das iranische Volk für Gleichheit, auch in der Revolution von 1978/79 gegen die Diktatur von Schah Mohammad Reza Pahlavi. Leider übernahmen damals die reaktionären Kräfte die Macht, während die fortschrittlichen unter den Ruinen ihrer Ideale begraben wurden und die Medien kuschten. Man braucht sich nur den Friedhof Kharavan anzusehen, er ist ein Zeugnis dieser unterdrückten Stimmen.1
In den letzten paar Jahren gab es mehrere Aufstände. Im Januar 2016 gingen die Leute vorwiegend in Klein- und Vorstädten auf die Straße, um gegen die hohen Preise zu demonstrieren. Zur gleichen Zeit wurden auch die „Mädchen von der Revolutionsstraße“ aktiv. Inmitten der Proteste gegen die schlechten Lebensbedingungen betrat eine Frau eine Bühne und legte öffentlich ihr Kopftuch ab. Es war der beeindruckendste Protest, den ich je gesehen hatte. Später taten es ihr einige Frauen gleich. Sie wurden alle auf der Stelle verhaftet. Außerhalb Irans mag das unwirklich erscheinen, aber hier erfordert es großen Mut, den Hidschab abzunehmen.
Im November 2018 protestierten Menschen friedlich gegen die hohen Benzinpreise und die Streichung von Subventionen. Doch das Regime schaltete das Internet ab und brachte innerhalb von nur zwei Wochen Hunderte Menschen um. In Chuzestan2 demonstrierten die Menschen erneut, diesmal gegen den Wassermangel. Landwirt*innen, Umweltaktivist*innen und Rentner*innen gingen mehrmals auf die Straße.
Zuvor bereits hatte die Lehrergewerkschaft Großdemonstrationen organisiert, wo zunächst gewerkschaftliche Forderungen gestellt wurden, die jedoch rasch politisch wurden, als die Lehrer*innen in Sprechchören gegen die kommerzielle Privatisierung im Bildungssystem und für das Recht auf gleiche Bildung protestierten. Gleichzeitig fanden große Streiks statt. Alle Proteste und Streiks wurden erstickt und ihre Anführer*innen zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Doch zurück zur Gegenwart. Der jüngste Aufstand ging von Frauen aus, zuerst in Kurdistan3 und dann in der Hauptstadt. Für sie geht es nicht nur darum, sich so kleiden zu können, wie sie es wollen, sondern um Gleichheit im wahrsten Sinn des Worts. Seit vielen Jahren schon operierten Frauen im Untergrund und in sozialen Netzwerken. Während der Pandemie zum Beispiel begannen sie, über sexuelle Belästigung zu sprechen. Es wurde auch viel über das patriarchale System, speziell in Iran, gesprochen. Die Frauen waren wütend, sie wollten keine Opfer mehr sein, sie wollten endlich ihre eigene Handlungsmacht und ihren Freiraum erobern. Bald schlossen sich andere Gesellschaftsgruppen dem Aufstand gegen die herrschende Ordnung an. Man kann durchaus sagen, dass „Frau“ zu einem Codewort für alle Unterdrückten wurde. Alle, unabhängig von Herkunft, Sexualität und Religion, wollen ein angemessenes „Leben“. Und meiner Meinung nach gibt es „Freiheit“ erst, wenn alle dieselben Chancen haben.

Eine wichtige Tatsache bei der revolutionären Bewegung war und ist, dass sie von der Provinz Kurdistan und anderen kurdisch geprägten Städten ausging. Auch in der Provinz Sistan und Belutschistan, in denen ein Großteil der belutschischen Minderheit lebt, reißen die Proteste nicht ab. Gleichzeitig standen und stehen Städte wie Mahabad (Westaserbaidschan) und Zahedan (Sistan und Belutschistan) unter enormem Druck seitens der Regimekräfte bzw. Revolutionsgarden.
G. erklärt:

Da sich 70 Prozent des Vermögens in den Händen von einem Prozent befinden, das zudem überwiegend in der Hauptstadt wohnt, kann man sich leicht vorstellen, wie schlimm die Arbeitslosigkeit und Armut in anderen Provinzen und Städten sind.4 Dies zeigt sich auch daran, dass man die progressivsten Stimmen aus Kurdistan vernimmt. „Jin, Jîyan, Azadî“ [Frau, Leben, Freiheit] wurde als Erstes dort skandiert. Die Menschen in Kurdistan sprechen über Gleichheit, die Emanzipation der Frauen, Sozialismus und sind gegen reaktionäre Politik und jeden Totalitarismus. Belutschistan gehört zu den Provinzen, die immer schon unterprivilegiert waren. Viele dort besitzen nicht einmal Geburtsurkunden. Die dortigen Goldminen gehören der Oberschicht, die meist in Teheran lebt, oder der herrschenden religiösen Bourgeoisie. Auch in Chuzestan ist die Lage furchtbar. Die Luft ist verpestet, es gibt keine Arbeit, kein sauberes Wasser. Morde, Festnahmen und Hinrichtungen sind dort häufiger als in allen anderen Provinzen.
J. schreibt:
Eines der Schlüsselthemen dieser Bewegung ist „Zentrum“ gegen „Peripherie“. Schon seit Langem werden Kurd*innen und Belutsch*innen, aber auch Menschen aus den südlichen Teilen des Irans sowie Türk*innen auf diese und jene Art systematisch unterdrückt. Deshalb haben sich all diese mutigen Menschen in den letzten Monaten so engagiert. Das Zentrum hingegen ist nicht zu Reformen bereit, denn es profitiert immer noch von der Benachteiligung und Unterdrückung der Minderheiten. Auf der einen Seite droht der männlich dominierten Gesellschaft und dem Patriarchat, dem Staat und der Oberschicht ein Machtverlust. Auf der anderen Seite kämpfen Frauen, ethnische Minderheiten, queere Menschen und Arbeiter*innen um mehr Einfluss und wollen gesehen bzw. gehört werden.
Raha weist auf das hohe Risiko hin, dem Aktivist*innen in kleineren Städten und den Dörfern ausgesetzt sind:
Ich habe bemerkt, dass auf die Aktivist*innen und Kunstschaffenden in kleinen Städten wesentlich größerer Druck ausgeübt wird. Es ist dort einfacher, sie zu identifizieren und aufzuspüren. So wurden viele Künstler*innen, Schauspieler*innen, Musiker*innen und Influencer*innen festgenommen, bedroht und gezwungen, eine Erklärung zu unterzeichnen, dass sie keine regimefeindlichen Inhalte auf ihren Social-Media-Kanälen mehr veröffentlichen. Das war auch meine Erfahrung: In einer Stadt wie Bandar Abbas fanden sie mich viel leichter als in Teheran, wo man in der Menge untertauchen kann. Die Richter kamen alle aus Städten im Norden. Ich vermute, dass es eine Strategie des Regimes ist, Beamte aus anderen ethnischen Gruppen auf solche Fälle anzusetzen, damit es keine persönliche Beziehung gibt, und es für sie leichter ist, brutal zu sein.

Nicht alle wollten berichten, wie sie in die Bewegung involviert sind. Man kann auf unterschiedliche Arten an ihr teilnehmen, wie J. ausführt:
Ich bin der Meinung, dass „Teilnahme“ nicht unbedingt bedeuten muss, dass man auf die Straße geht und sich körperlich gegen die Regimekräfte stellt. Außerdem wirkt das, was man in den sozialen Medien, besonders auf Instagram zu sehen bekommt, viel größer, als es in Wirklichkeit ist. Ehrlich gesagt beteiligen sich im Vergleich zu Teherans Gesamtbevölkerung nicht sehr viele an den Protesten. Die Gründe dafür sind zahlreich, und der wichtigste ist die primitive, brutale Reaktion des Systems. Man kann bereits verhaftet werden, bloß weil man sich auf der Straße aufhält. Möglichkeiten zu finden, um anderen zu helfen, sich zu informieren und so gesund zu bleiben, dass man die Situation übersteht, ist ebenfalls eine Art der Teilnahme.
Der eindringlichste Widerstand kommt in diesen Tagen von den Frauen, die ohne Hidschab auf die Straße gehen. Ich bewundere sie sehr. Da ich weiß, wie schwierig und gefährlich das ist, scheint es wie ein Traum, wenn man sie auf der Straße sieht. Es ist, als blinzelte man und sähe für einen Sekundenbruchteil die „Revolution“, von der man immer geträumt hat. Das ist großartig.
H., Fotografin und Verlegerin, ist in diesem Punkt dagegen sehr klar:
Ich war vom ersten Tag der Proteste an auf der Straße. Ich möchte aktiv dabei sein. Die Straßen gehören uns allen, und ich ertrage nicht einen Tag länger, dass die Regierung uns als Bürger*innen und Frauen verbieten will, einfach rauszugehen.
Die Möglichkeiten, sich aus der Ferne zu beteiligen, sind beschränkt, doch auch für Raha ist die Teilnahme auf jede nur erdenkliche Art wichtig:
Ich gebe mir alle Mühe, täglich mit Familie und Freund*innen in Kontakt zu bleiben, und verfolge alle Nachrichten in den klassischen und sozialen Medien. Ich kann nicht behaupten, dass diese Verbundenheit mit Iran und den aktuellen Ereignissen dort hier in Deutschland von Vorteil für mich ist. Mein Kopf und mein Herz sind immer noch in Iran, und so konnte ich mich mit der deutschen Gesellschaft noch nicht wirklich auseinandersetzen. Aber ich bin nun einmal hier und versuche alles, um auf die politischen Begebenheiten in Iran aufmerksam zu machen. Ich schreibe Posts und Hashtags in sozialen Medien, ich unterschreibe Petitionen und nehme in Berlin an Demonstrationen teil. Ich verbringe viel Zeit damit, mit Freund*innen innerhalb und außerhalb Irans zu diskutieren und Erfahrungen und Standpunkte auszutauschen.

Eines der dringlichsten Probleme ist die äußerst prekäre wirtschaftliche Lage, in der sich viele Menschen und besonders Kulturschaffende derzeit befinden. Die desaströse Wirtschaftslage des Landes hat besonders für Arbeiter*innen und die Mittelschicht Konsequenzen. Das befeuert seit Jahren schon den Unmut und den Protestwillen in diesen Bevölkerungsteilen.
G. spricht besonders die Situation der Künstler*innen an:

Die meisten Kunstschaffenden leben nicht von ihrer Kunst. Sie haben Neben- oder kunstfremde Jobs, um sich das Material für die eigene Kunst leisten zu können, das jeden Tag noch teurer wird. Um mir beispielsweise das Material für eine meiner letzten Ausstellungen leisten zu können, musste ich für längere Zeit in einem Café jobben. Für Wissenschaft und Kunst gibt es so gut wie keine Förderungen. Außerdem versuchen die meisten von uns, jeden Kontakt mit den Behörden zu vermeiden. Der Kunstmarkt boomt auch nicht gerade. Es gibt nur wenige bekanntere Künstler*innen, die auf dem Markt erfolgreich sind und hohe Preise erzielen. Die Lage der Übersetzer*innen und Autor*innen ist nicht anders. Unter diesen Umständen haben viele mit ihrer kreativen Arbeit gleich ganz aufgehört. Er sieht so aus, als könnte es sich nur noch die Oberschicht leisten, Kunst zu machen.
H. beleuchtet die Bedingungen, unter denen Künstler*innen und Kulturschaffende in Iran arbeiten und leben:
Wenn du in Iran irgendetwas (künstlerisch) machen willst, brauchst du eine Genehmigung des Ministeriums. Wenn du eine Ausstellung machen, ein Buch veröffentlichen, einen Film drehen, etwas aufführen oder irgendetwas anderes in der Kunst, im Sport oder in der Gesellschaft tun willst, musst du um Erlaubnis bitten. Machst du es nicht, bist du gezwungen, abzutauchen. Und dann bist du illegal, was bedeutet, dass du jederzeit aus einem beliebigen Grund festgenommen werden kannst. Wenn du frei wie ein normaler Mensch leben möchtest, musst du also untertauchen. Ich würde aber lieber wie eine ganz normale Bürgerin in meinem Land leben.
In Iran, hauptsächlich in Teheran, gab es eine hitzige Debatte, ob, und wenn ja, wie der private Kunstsektor nach dem Beginn der Unruhen weitermachen sollte. Die meisten Galerien sind geschlossen, aber aus unterschiedlichen Gründen, wie S. erklärt:
Wie ihr vielleicht wisst, haben seit dem Beginn der Bewegung zahlreiche Galerien zugesperrt. Ich bin nicht sicher, glaube aber, dass das eine spontane Reaktion war und keine abgesprochene Entscheidung, denn es gab auch keine gemeinsame Erklärung. Die Gründe waren offensichtlich: Anfangs waren alle schockiert von den brutalen Festnahmen, von Folter und Morden. Hätte man also Kunst ausgestellt, die die politische Lage nicht thematisiert, hätte das wie ein schlechter Witz gewirkt und wohl kein Publikum gefunden. Andererseits war es zu riskant, Veranstaltungen zu den Themen der Proteste abzuhalten.
Nach beinahe drei Monaten begannen erneut die Diskussionen, ob die Galerien ihre Aktivitäten wieder aufnehmen sollten, besonders nachdem die O Galerie offiziell angekündigt hatte wiederzueröffnen. Dies hatte viele negative Reaktionen zur Folge, von kritischen Kommentaren auf dem Instagram-Account der Galerie bis zum Schmeißen von roter Farbe auf deren Fassade. Die Kritiker*innen meinten, dass die Öffnung nur dem Anliegen der Regierung entgegenkam, so zu tun, als sei alles normal. Die Teheraner Kunstzeitschrift Herfeh: Honarmand fragte 242 Personen aus dem Kunstbereich um ihre Meinung zur Wiedereröffnung von Galerien und veröffentlichte die Antworten auf ihrer Website. Die meisten antworteten, dass die Frage nicht lauten sollte, ob die Galerien öffnen oder nicht, sondern wie sie es tun. Sie kritisierten, dass die vorübergehenden Schließungen Einzelaktionen waren und es keine gemeinsame offizielle Stellungnahme gab, die eine politische Wirkung hätte haben können.
J. stellt weiterführende Überlegungen über die Rolle der Kunst in Revolutionszeiten an:
Was die Kunst selbst anlangt, so erkennt man jetzt ihre enge Verflechtung mit Leben und Politik. Kunstschaffende, aber auch Amateur*innen machen Graffiti, Musik und Performances. Alle tun für die Bewegung, was sie eben können, und sie tun es zumeist anonym. Die Bilder, die die Menschen sehen wollen, und die Stimmen, die sie hören wollen, finden sie auf der Straße.
Deswegen waren die meisten so irritiert, als die Kunst von jemandem wie Shirin Neshat in Berlin, London und anderen Städten plötzlich die „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung repräsentieren sollte, wo diese doch innerhalb Irans stattfindet. Mehr als je zuvor begreifen wir jetzt, dass das Bild, das Künstler*innen wie Neshat (die Liste ist aber viel länger) der Welt zeigen, nie die ganze Geschichte der iranischen Frauen darstellte. Sie haben dem Westen ein falsches Signal gesendet, nur um Geld zu machen. Ich finde es sehr opportunistisch von ihr, dass sie es sich traut, sich als Stellvertreterin einer fortschrittlichen feministischen Bewegung in Iran darzustellen, die mit ihr und ihrer Kunst nichts zu tun hat. Es ist erbärmlich, dass der Kunstmarkt alles gleich ausschlachtet.
Er fährt fort:
Wenn Mädchen und Frauen ihre Kopftücher in der Hand schwenkend auf die Straße gehen, wenn Brunnen im Park sich blutrot färben, wenn ein Beachfootball-Spieler beim Torjubel so tut, als würde er sich die Haare abschneiden, wenn Studierende sich an Masten oder Bäumen festbinden, um an das Bild von Khodanour zu erinnern, dann zeigt das, wie großartig sich die Kunst in die politische Bewegung einbringt. Und ich glaube, bis auf Weiteres ist das die Kunst, die die Menschen wollen.
Was hier auch schon zum Vorschein kommt, ist die enorm wichtige Rolle von Zusammenhalt, Kollektivität und Gemeinschaft. So betont G.:
Ich persönlich weiß nicht, wozu ein Galerienstreik gut sein sollte. Wir waren schon während der Pandemie isoliert genug. Ich denke, jetzt geht es vielmehr um Zusammenhalt. Die Kritik an Institutionen wie den kommerziellen Galerien ist natürlich nötig. Genauso wichtig ist aber, dass neue Formen von Gemeinschaft, Kollektiven, Kooperativen und gemeinsamer Arbeit geschaffen werden. Das sind neue Ideen, die derzeit diskutiert werden.
J., aber auch viele andere, organisieren sich in kleinen Gruppen von Freund*innen, die sich gegenseitig unterstützen. So gründeten sie einen Fonds für Künstler*innen, die in eine prekäre finanzielle Lage geraten waren, veranstalten privat Kunst- und Theorieseminare für Studierende, die sich in der Bewegung engagieren – an den Universitäten gab es von Anfang an Proteste und Streiks –, und sie versuchen, denjenigen zu helfen, die durch die aktuelle Situation noch mehr als sonst unter Druck stehen, zum Beispiel afghanischen Migrant*innen in Teheran.

Zum Schluss noch ein paar Worte der Hoffnung:
Raha:

Wir befinden uns mitten in einer gesellschaftlichen Revolution, einer kulturellen Wende und einem Lernprozess, um endlich ein freies demokratisches Land zu werden. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, dieses Ziel zu erreichen, aber ich denke, wir sind auf dem Weg dorthin und es gibt kein Zurück.
J.:
Es handelt sich um eine große Transformation, die Zeit braucht. Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird, und bin auch nicht völlig optimistisch, was den Erfolg angeht. Aber ich sehe und spüre, dass die Revolution in den Köpfen und Herzen vieler Menschen bereits stattgefunden hat. Das wird sich nicht mehr umkehren lassen. Wir haben uns zu ihr bekannt!
S. wendet sich an die Menschen in Europa, in Österreich und Deutschland:
Ich möchte festhalten, dass das, was wir in Iran gerade erleben, gewaltig ist. Wir sind voller Freude, Schmerz und Angst. Kurz, ich wünschte, ihr wärt alle hier! Jedenfalls bin ich zutiefst davon überzeugt, dass wir das alle gemeinsam durchstehen müssen. Natürlich müssen alle in ihrer eigenen Gesellschaft beginnen. Macht auf das Tränengas europäischer Herkunft aufmerksam,5 das trotz der Sanktionen in Iran eingesetzt wurde, auf die enorme Präsenz wohlhabender Iraner*innen, die ausländischen Regierungen nahestehen, auf das Masut,6 das wir hier einatmen. Aber noch wichtiger ist, dass wir gemeinsam anfangen, über neue Formen des Zusammenlebens und internationale Solidarität zwischen Frauen, Studierenden, Arbeiter*innen usw. nachzudenken. Das ist der einzige Weg aus dem derzeitigen Chaos. Die Ironie besteht darin, dass ihr eigentlich mehr Freiheit habt als wir, dies umzusetzen. Wir müssen mit der permanenten Überwachung, Zensur und Todesdrohung leben. Daher spüren wir eher die Dringlichkeit, endlich etwas zu ändern. Ich hoffe, dass uns die Kunst früher oder später vereinen wird!

Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Raab

1 Der „Friedhof“ Khavaran liegt auf einem Gelände außerhalb Teherans. Hier wurden Tausende von Dissident*innen, die im Sommer 1988 hingerichtet wurden, anonym verscharrt. Bis heute dürfen in Khavaran keine Grabmale aufgestellt werden; vgl. https://women.ncr-iran.org/2022/09/16/walls-around-khavaran-cemetery/.
2 Chuzestan ist eine Provinz im äußersten Südwesten des Iran.
3 Kurdistan ist ein Provinz im Westen des Iran.
4 Vgl. Abbas Shakri, in: https://www.90eghtesadi.com/Content/Detail/2150437/%DB%B9%DB%B9-%D8%AF%D8%B1%D8%B5%D8%AF-%D9%85%D8%B1%D8%AF%D9%85-%DB%B2%DB%B6-%D8%AF%D8%B1%D8%B5%D8%AF-%D8%B3%D9%BE%D8%B1%D8%AF%D9%87-%D9%87%D8%A7-%D8%B1%D8%A7-%D8%AF%D8%A7%D8%B1%D9%86%D8%AF [wird leider in lateinischen Buchstaben so angezeigt; vielleicht kann man das im Layout anders lösen].
5 Über Social Media wurden in den letzten Jahren und auch schon vor 2022 Bilder und Aufklärungsvideos zur Herkunft der von den Regimekräften abgeschossenen Tränengaspatronen geteilt, die unter anderem in Großbritannien, aber auch in anderen europäischen Ländern produziert wurden.
6 Masut ist ein zähflüssiger hochsiedender Destillationsrückstand von Erdöl, der in Ölkraftwerken und anderen Industrien verfeuert wird.

 

Übersetzt von Thomas Raab