Heft 1/2023 - Zuhören
Wer hat Angst vor Virginia Wolf? ist ein unerhört grausames, aber auch liebevolles, trauriges und unglaublich verstörendes Theaterstück von Edward Albee, das 1962 im Billy Rose Theatre am New Yorker Broadway uraufgeführt wurde.1 Anhand der Ehe von Martha und George zeigt das Stück einen Konflikt zwischen Realität und Illusion, zwischen dem, was wir als real, nachprüfbar und wahr bezeichnen, und dem, was als Wahnsinn, „nur“ als Fiktion oder Einbildung gilt und mit der messbaren Realität nichts zu tun hat, aber dennoch das Fundament zu bedrohen scheint, auf dem die Realität beruht, und dieses als Trugbild normativer Erwartungen entlarvt. Bedroht wird in diesem Fall die Institution der Ehe, die mit ihrer binären Gewissheit als maßgebliches Symbol für die gesellschaftlichen und bürgerlichen Normen der 1960er-Jahre steht und eine ganze Reihe weiterer Normen und Wahrheiten repräsentiert, die die Grenzen des Möglichen bestimmen.
Ich beginne deshalb mit einem Verweis auf dieses Stück, weil die Angst vor dem Illusorischen, der Unwirklichkeit und der Fiktion und die damit einhergehende Hoffnung und das Verlangen nach einer gefestigten, gewissen und perfekten Realität bestehen bleibt, gegenwärtig vielleicht sogar noch verstärkt wird, selbst die Ehe als bürgerliche Norm, die sichere binäre und theologische Basis ihrer Symbolik, wenn auch nicht ganz überwunden, so doch zumindest erweitert wurde. Wir möchten sicher sein, dass die Dinge real und quantifizierbar sind. Dass du siehst, was ich sehe. Deshalb muss das, was wir beide anschauen, stabil, messbar und kategorisierbar sein; und die Sprache, die wir zur Verifizierung des gemeinsam Gesehenen verwenden, muss dieses Maß an Gewissheit beinhalten, anstatt in einer betrunkenen, hysterischen und zunehmend ausufernden Inszenierung zu implodieren, die nicht nur die Glaubwürdigkeit des Gesehenen gefährdet, sondern auch unsere eigene Subjektivität und unsere Beziehung, unseren Gesellschaftsvertrag: wie wir zusammenleben, wie wir die Dinge benennen und was uns an eine Welt glauben lässt, deren Realität auf einer Objektivität beruht, die durch Distanz erreicht wird und Taxonomien ermöglicht.
Das Stück ist eine Kritik am Ideal der modernen (amerikanischen) Familie, Identität und Gesellschaft und im weiteren Sinne auch an der Vorstellung einer US-amerikanisch-europäischen, auf einer objektiven Idealität beruhenden Moderne, der platonischen Idee einer mathematischen Universalität, in der die Messbarkeit realer ist als das Reale und der stets visuelle bzw. visualisierende Metarahmen die Legitimität der Realität bestimmt. Stattdessen würdigt es das Potenzial von Unwirklichkeit, Fiktion und Illusionen als Quelle eines anderen gesellschaftlichen und politischen Vorstellungsvermögens, das mögliche Welten schafft, die nicht keine bloßen Parallelfiktionen bilden, sondern deren prinzipielle Möglichkeit in der Mannigfaltigkeit der Realität selbst begründet liegt. Sie bedrohen den hegemonialen Rahmen der Normativität, den der Westen seit der Aufklärung durch seine Fokussierung auf eine objektive Metrik aufgebaut hat, deren Wahrheit durch Distanz gesichert und durch Wiederholbarkeit verifiziert wird, und die als maßgebliche Institution für eine ethische Erwartung dessen steht, was real sein sollte, was die Wahrheit ist und wie wir diese Wahrheit leben sollten.
Die Angst vor Virginia Woolf ist die Angst davor, dass das Unwirkliche real wird, dass Gewissheiten einstürzen, die Angst vor Paradigmenwechseln und ontologischem Zweifel und davor, diesem Zweifel nachzugeben, um uns auf die möglichen Welten und die möglichen Realitäten und Identitäten einzulassen, die real sein könnten, wenn wir uns von visuellen Referenzen, metrischen Systemen und gesellschaftlichen Erwartungen und Normen lösen würden. Diese möglichen Realitäten sind feministisch, dekolonial, „verkörpert“ (embodied) und vielfach implizit. Es sind die Realitäten des Randständigen, dessen, was sich nicht im Zentrum befindet, weil die Metriken des Zentrums seine Realitäten ausschließen und weil sie unsichtbar sind, verborgen in den toten Winkeln der dominanten Sicht. Es ist das, was sich nicht durch Messungen und (westliche) Wissenskanons überprüfen lässt. Deshalb wird es als unzuverlässig wahrgenommen und ausgeschlossen, es gilt als unlesbar, esoterisch und feminin, als etwas, das für ein intersektionelles Anderes steht; oder schlicht als Einbildung oder gar verrückt. Gewinnt es die Oberhand, und sei es auch nur vorübergehend, so ist das beängstigend. Wir fangen an, uns Sorgen zu machen, wie wir die Dinge organisieren sollen, wenn der (visuelle) Bezugsrahmen wegfällt. Wie können wir die Legitimität von Wissen überprüfen und bewerten, wenn die Sprache durch Illusionen beeinträchtigt und das Sehen durch Empfindungen verfälscht wird? Ich übertreibe, aber nur ein wenig, denn ich möchte die betrunkene Hysterie des Stücks auf den akademischen Kontext umlegen. Schließlich ist George außerordentlicher Professor für Geschichte an dem College, dessen Präsident sein Schwiegervater ist. Er ist dazu verdammt, sich auf patriarchaler Ebene durchzusetzen, und scheitert kläglich.
Wir befinden uns inmitten der Institution des Wissens und seiner Verbreitung und halten fest an der Moral einer grundlegenden Wahrheit, die im Namen der Quantifizierung Ausgrenzungen legitimiert und bestimmt, was wir lehren und lernen, wie wir etwas bewerten und was wir für wichtig und wertvoll halten sollen. Um diese Gewissheit zu bewahren, halten wir uns an eine historische und metrische Linie, und zwar im Rahmen eingeschränkter bzw. höchst lokaler Erwartungen, die wir als allgemeingültig ausgeben, die Aníbal Quijano aber als provinziell verhöhnt, als eine Fiktion der Kontingenz im Kostüm einer globalisierenden Sprache:
„Letztlich ist nichts weniger rational, als den Anspruch zu erheben, die spezifische kosmische Vision einer bestimmten Ethnie solle als universelle Rationalität angesehen werden, selbst wenn diese Ethnie Westeuropa heißt, denn dies hieße im Grunde, einen Provinzialismus als Universalismus durchzusetzen.“2
Der moderne Universalismus westeuropäischer und US-amerikanischer Prägung ist eine Sinnestäuschung visueller Art. Das Auge als kulturelle Praxis und Signifikant bestimmt sein Verhältnis zu den Dingen als Objekten, die unseren Blick auf sich ziehen und die wir aufgrund unserer Bedürfnisse benutzen. Sie sind „zuhanden“, als funktionales Ding, als „Zeug“.3 Verfügbar für uns, anstatt mit uns zu sein. Das meine ich nicht auf verallgemeinernde, sondern auf ganz spezielle Weise. Denn nicht alle Augen sehen die Welt auf diese Weise. Also ist es nicht das Auge, nicht das Sehen, sondern es ist eine bestimmte US-amerikanisch-europäische Visualität, die als lokale und kulturelle Visualität bestimmt, was wir sehen und wie wir sehen: was, wie Sara Ahmed es ausdrückt, im Vordergrund und was im Hintergrund des Blickfelds einer bestimmten Kultur steht und somit ihr Handeln und ihre Realität bestimmt.4 Diese kulturellen Augen sind die Bannerträger des Realen. Ihre Sicht wird in Messungen und Visualisierungen übertragen, die das, was sie sehen, von der Ungewissheit der kontingenten Begegnung abkoppeln. Auf diese Weise erhalten sie eine gewisse Sicht der Dinge aufrecht und ziehen uns in den Bann der kulturellen Visualität.
„Direkter“ Klang
Wir könnten die Welt aber auch anders sehen. Und die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, hat soziale und politische Folgen. Doreen Massey macht diesen Punkt im ersten Kapitel ihres Buchs For Space sehr deutlich. Darin vergleicht sie die Karten von Tenochtitlán, dem heutigen Mexiko City, wie sie von den Aztek*innen bzw. den spanischen Erober*innen gezeichnet wurden. Beide zeigen den gleichen Ort und vermitteln uns doch ein völlig anderes Bild der Stadt. Damit gemahnt sie uns, dass die Betrachtung des globalen Raums, die Kartografie seines Territoriums und seiner Bewegung, „nicht so sehr eine Beschreibung dessen ist, wie die Welt ist, als vielmehr ein Bild, nach dem die Welt gemacht wird“5. Visualisierungen messen oder beschreiben keine bestimmte Welt, sondern generieren die Wahrhaftigkeit ihrer eigenen Fiktion, die zur Realität der Zukunft wird. Ihre Form ist durch Politik, Ideologie und Begehren motiviert sowie durch die Angst, an Gewissheit und Boden zu verlieren, die Dinge ungeordnet und unwirklich vorzufinden oder ihnen nicht gewachsen zu sein.
Eine Möglichkeit, auf die Zwangsfiktion dieser Visualität zu reagieren, besteht darin, Wege zu finden, das, was wir sehen, zu pluralisieren und uns zu überlegen, wie wir mit den Dingen zusammenleben können, anstatt sie bloß zu benutzen. Der Vorschlag lautet, sich auf das Hören von „direktem“ Klang einzulassen, das heißt auf nicht visualisierten, nicht systematisierten Klang, der nicht der Klang einer visuellen Sache ist oder aufgrund einer visuellen Referenz auf bestimmte Weise gehört wird, sondern Klang als unsichtbare und unteilbare Materialität. In diesem klanglichen Zustand sind die Dinge nicht „dies“ oder „das“, nicht ich oder du. Sie sind nicht „zuhanden“, verfügbar für mich, sondern erzeugen ein Dazwischen bzw. das, was wir gemeinsam erklingen lassen. Ein solch direkter Klang beruht als Material und Konzept, als das, was wir zufallsbedingt hören, auf einer verbindenden Logik, die eher Beziehungen als Dinge in den Vordergrund stellt; und er hat ein gewisses Volumen von vagem Ausmaß im Gegensatz zu einem konkret messbaren Raum. So verweigert sich der direkte Klang der Quantifizierung, ist aber auf eine strenge, kontingente (Hör-)Praxis angewiesen, um sein Verständnis und letztendlich die Bewertung oder zumindest die Beschreibung zu erleichtern. Dabei bleibt die interpretative und evaluative Praxis, die mit diesem Zuhören einhergeht, skeptisch gegenüber einer grundsätzlichen Sprache, die für sie ein Mittel der Visualisierung und der Rückführung in ein hegemoniales Wissensregime darstellt. Ein derartiges Zuhören beinhaltet vielmehr die Hoffnung, „unruhig zu bleiben“6, bei der unscharfen Nichtartikulation des Klangs zu verweilen, wenn dieser nicht etwas Bestimmtes signalisiert, sondern Verbindungen herstellt und das Blickfeld über infrastrukturelle Mauern und Gewissheiten hinaus erweitert.
Bei einem solchen Zuhören geht es jedoch nicht darum, den „Klang an/für sich“ zu hören –ein Konzept, das in einem Großteil der klangwissenschaftlichen Literatur sehr unterschiedlich und auch kontrovers diskutiert wird. Stattdessen erkennt dieses Zuhören die Relationalität von Klang an und begreift diesen als Portal oder bewussten Zugangspunkt zu einer Welt der Schwingungen, in der Klang nicht an oder für sich selbst ertönt, sondern mit allem anderem und somit eine verbindende Logik darstellt. Auf diese Weise lassen sich über das Zuhören komplexe Abhängigkeiten erschließen bzw. die Vorstellung entlarven, wir könnten die Realität durch separate Kategorien und aus der Distanz verstehen, wenn diese doch stets nah und mit allem verwoben ist.
Wir können uns diese verschränkte, vibrierende Welt einfach vorstellen, wenn wir in die Hände klatschen. Der Klang, den wir dabei hören, ist nicht der Klang einer Hand, die auf die andere trifft. Es ist nicht der Klang der Hände, weder der linken noch der rechten. Vielmehr ist es die Aktion zweier klatschender Hände, das zusammen mit allem anderen ertönt. Das Klatschen, das ich als separate Entität zu hören vermeine, als benennbares Geräusch, ist der Klang von allem, was durch diesen Vorgang in Schwingung versetzt wird und das Gehörte als verbindendes Ereignis spürbar macht: Raum, Möbel, Teppiche, Fenster, Türen, all das erklingt untrennbar miteinander. So hinterlässt es bei mir nicht den Anblick klatschender Hände, sondern den eines unteilbaren Raums, der es in seiner umfassenden Dimensionalität meinem Blick nicht erlaubt, an etwas Bestimmtem haften zu bleiben, sondern mich zwingt, eine verbindende Sphäre wahrzunehmen.
Dieser untrennbar verbindende Klang klatschender Hände lässt sich nicht konventionell, aus der Distanz oder nach einem bestimmten visuellen Schema, als Partitur, Text oder Karte theoretisieren. Er lässt sich nicht durch einen visuellen kulturellen Diskurs erfassen, weil wir ihn nicht im Blick haben, sondern ihn nur an unserem Körper spüren können, der als Körper mit-hört: Mein Klang ist Teil deines Händeklatschens und muss daher Teil von dessen Theoretisierung sein. Ein solches Bewusstsein des Mit-Seins schafft einen ganz anderen Sinn für Realität, Werte und Gültigkeiten. Und auch einen anderen Sinn für Subjektivität, für das Kollektive und dafür, welche Beziehungen wir zu menschlichen und mehr-als-menschlichen Dingen haben. Somit kann das, was real ist, nicht referenziell ermessen werden, sondern entsteht zufällig und aus der Mitte der Dinge heraus, die als stabile Definitionen nicht verfügbar sind. Wir müssen bei ihnen sein, in Zeit und Raum, um zu einem Verständnis des Gehörten zu gelangen, das uns selbst als Zuhörende einschließt und so den Wahrnehmungsprozess und das Gegenüber problematisiert, nicht einfach nur das Gehörte.
Insofern stellt diese Auseinandersetzung mit der Welt durch den Klang die Wissensgrundlagen des Westens und die Gewissheit der Objektivität infrage. Sie lässt die Distanz als legitimes Mittel der Wissensaneignung kollabieren und verlangt, dass der Körper in all seiner Diversität wieder zugelassen wird als Zeuge und Kollaborateur bei der Produktion und Bewertung von Wissen – plural und unterschiedlich real. Sie stützt sich auf Nähe als kritisches Instrumentarium und auf Verkörperung als praktisches Werkzeug einer Theorie, die mit-hört; und sie impliziert Gegenseitigkeit und Verantwortung, da jedes Wissen, das ich durch Mit-Hören gewinne, auch ein Wissen über mich, meine Ausrichtung, meine Subjektivität und mein Sein in der Welt ist.
Zuhören als klangliches Denken
Im gegenwärtigen Moment steht der Wunsch, visuell und objektiv zu bleiben, zu lesen und zu interpretieren, im Gegensatz zu einer unruhigen zeitgenössischen Lage, in der auf komplexe Weise miteinander verwobene Probleme sich der Gewissheit verweigern und die Möglichkeit, auf Distanz zu gehen, zunichte machen. Wir befinden uns derzeit am Ende oder vielleicht auch erst am Anfang einer neuen Welle einer globalen Pandemie, die mit ihrer viralen Verbreitung und ihren Rebound-Effekten die Wechselwirkungen zwischen kulturellen Gepflogenheiten, gesellschaftlichen Strukturen, wirtschaftlichen Möglichkeiten, politischer Steuerung und gesundheitlichen Folgen deutlich macht. Corona hat gezeigt, dass wir durch die (virale) Luft, die wir atmen, unausweichlich miteinander verbunden sind und dass das, was wir essen, die Art, wie wir reisen, Ressourcen nutzen und mit menschlichen und mehr-als-menschlichen Körpern umgehen, Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit hat. Die Pandemie offenbart die tiefgreifenden Verflechtungen zwischen Klimanotstand, Ressourcenknappheit, dem daraus resultierenden Migrationsdruck und letztendlich deren Auswirkungen auf soziale Gerechtigkeit und öffentliche Gesundheit.7 Die aktuellen, sich häufenden Notstände veranschaulichen die fatalen Umstände der Konnektivität und zeigen, dass es sich bei visuellen Grenzen, geraden Linien und Individuation um Fiktionen handelt. Das Virale fordert eine physische Trennung, denn ohne Masken und Mauern sind wir nicht getrennt, sondern durchlässig und offen für Ansteckung. Damit verhöhnt es die Illusion von Objektivität und Distanz, auf der die westliche Wissenschaft und Lehre beruht, und gibt den Blick frei auf einen unscharfen Bereich der Co-Abhängigkeit, der Durchlässigkeit und der Falschheit dauerhafter Festlegungen.
In diesem Zusammenhang liefert die relationale Logik des Klangs, seine Fähigkeit, die Welt durch Nähe und aus dem Dazwischen neu zu sehen, keine ungenaue, trivial fiktionale oder gar verrückte und esoterische Trope der Erkundung, die sich leicht abtun ließe. Vielmehr bietet gerade seine Ungenauigkeit gegenüber existierenden Maßstäben, seine radikale Unfähigkeit, taxonomische Kategorisierungen zu erhärten, und seine Fähigkeit, architektonische, geografische, nationale, kulturdisziplinäre und andere Grenzen und Metriken zu überschreiten oder vielmehr zu ignorieren, rigorose Möglichkeiten und Werkzeuge, um sich mit den komplexen Verstrickungen des Zeitgenössischen auseinanderzusetzen. Denn Zuhören als klangliches Denken bzw. als Forschungs- und Wissensmethodik kann erkennen, wie diverse Notlagen miteinander verstrickt sind. Es kann diese nicht als separate Themen oder bestimmte Aufgaben begreifen, sondern als „wicked problems“, als tückische Probleme, die der Sensibilität und der Fähigkeit (des Klangs) zur relationalen Logik bedürfen, um das Denken und die Expertise auf das Dazwischen zu verlagern und die „tückischen“ Co-Abhängigkeiten zeitgenössischer Krisen auf Basis der dem Klang eigenen „Tücke“ zu bearbeiten.8
Über die Potenziale des Klangs und die Vorherrschaft des Visuellen wird schon lange diskutiert (siehe beispielsweise Wehelyie, Cox, Cavarero, Kassabian, Ochoa Gautier, Schulze). Auch wenn ihre Schriften das Interesse am Klang wecken, unterliegen sie, ebenso wie dieser Text, nach wie vor den Bedingungen eines visuellen Wissens- und Theoriebilds. Dem Akustischen ist es bisher noch nie gelungen, die Institution der Visualität wirklich infrage zu stellen, ihr die Selbstsicherheit zu nehmen, sie in ihren Grundfesten zu erschüttern oder einige ihrer sichtbaren Mauern zum Einstürzen zu bringen. Stattdessen ist Klang auf ewig im Entstehen begriffen.9 Findet er Eingang in Institutionen, wird er meist angepasst und visualisiert: Sound-Studies-Studiengänge basieren ausnahmslos auf einer visuellen Kulturwissenschaft des Klangs und erforschen kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen, wie sie durch Sound, dessen Aufführung oder dessen Aufnahme- oder Wiedergabetechnologien etc. offenbart oder verursacht werden. Oder er wird eingesetzt, um die Musikwissenschaft auf das kulturelle und situierte Hören musikalischer Klänge auszuweiten. Bei beiden Varianten bleiben die visuellen Methoden und die dazugehörigen Ideologien unangetastet. Sie bringen uns nicht zum Zuhören, sondern erweitern die visuelle Kompetenz auf das Akustische. So hören wir visuelle Realitäten zwar neu, aber dennoch visuell, und der direkte Klang bleibt marginal, in toten Winkeln versteckt oder bewusst ignoriert, und wir sind nach wie vor nicht in der Lage, das Wissensparadigma hin zum Potenzial relationaler und unscharfer Möglichkeiten zu verschieben.
Die Linie des visuellen, weißen und patriarchalen Wissens ist stark, gerade und überzeugend. Zugleich ist sie aber auch gewalttätig und ausgrenzend, eine Siedlerhaltung, und symptomatisch sowie auch ursächlich für das Kapitalozän.10 Angesichts der dringenden Erfordernisse einer anderen Sichtweise, wenn wir die verschiedenen Notstände unserer Zeit beheben wollen, müssen wir Belastbarkeit und Versprechen der Möglichkeiten des Klangs erkunden, um neue Wege zur Pluralisierung des Denkens zu finden und miteinander zu wissen.
Die Praxis der direkten Klangerzeugung und des Zuhörens als Möglichkeit, anders zu wissen, dient nicht dazu, eine Binarität zu eröffnen, sondern soll vielmehr das Dominante gegenüber seinen Kontingenzen zu öffnen, gegenüber seinem porösen, unzuverlässigen Körper, seiner Pluralität und dem, was Dinge zusammen bedeuten könnten. In diesem Sinne sind Klangerzeugung und Zuhören – und beide gehören notwendigerweise zusammen, um „response-ability“ zu erlangen: ein reaktionsfähiges Hören, das für das Gehörte verantwortlich ist – eine tatsächliche, konzeptuelle Praxis des Multisensorischen und Verkörperten. Sie stehen nicht in Opposition zum Sehen, sondern öffnen dieses für neue Möglichkeiten, um die kulturelle Visualität zu hinterfragen und zu pluralisieren, und um in diesem Moment der Krisen die Verbindungen, die das Visuelle ignoriert, und die Stimmen, die es zum Schweigen bringt, zu würdigen.
Eine Möglichkeit, eine derartige multisensorische und verbindende „Sicht“ zu erreichen, besteht in einer akustischen Pädagogik und in transversalen Sound Studies, also in einem Lehren und Lernen vom Affektiven und Verkörperten, vom Relationalen und vom Kontingenten klanglicher Realitäten, die ein Lehren und Lernen ermöglichen „für alle Lernenden, ganz gleich, welche Grenzen sie überschreiten müssen“.11 Es ist dies eine Pädagogik, die das Wissen des Unsichtbaren und des Dazwischens praktiziert, um eine „klangliche Kompetenz“ zu entwickeln, als verbindende Logik, die uns dazu befähigt, uns mit den auf komplexe Weise verschränkten Problemen auseinanderzusetzen, die die Wechselbeziehungen einer viralen Welt widerspiegeln.
Dabei handelt es sich nicht um ein essentialistisches Unterfangen, sondern um einen Schritt hin zu einer „Multisensorik“, die nicht bei der Unsichtbarkeit stehen bleibt, sondern diese als Grund wahrnimmt, anders zu hören, zu riechen, zu schmecken, zu sehen usw. und ein physisches „Bild“ von der Welt zu schaffen, das institutionelle Gewissheiten bzw. das Wissen, das auf deren Repräsentationen basiert, unterläuft.
Bei der Absicht, die institutionellen Wissensgrundlagen durch Zuhören zu unterlaufen, handelt es sich nicht einfach um ein Spiel, sondern um das ernsthafte Ansinnen eines verkörperten, feministischen und dekolonialen Zuhörens, das sich seiner eigenen Unsichtbarkeit bedient, um ein neues Sehen zu erproben und sich vorzustellen, wie wir sehen und was wahr sein könnte. Die bewusste Einführung des Nichtquantifizierbaren erfolgt also nicht ohne Grund. Wenn wir uns davor fürchten, sollten wir darüber nachdenken, warum und was wir dabei zu verlieren fürchten. Gleichzeitig sollten wir darüber nachdenken, was wir gewinnen können, wenn wir auf die unteilbaren Realitäten einer Welt der Schwingungen hören.
Salomé Voegelin lehrt am London College of Communication, University of the Arts London. Ihr jüngstes Buch Uncurating Sound. Knowledge with Voice and Hands ist im Februar 2023 bei Bloomsbury Publishing erschienen.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] Ich beziehe mich in meinen Ausführungen auf die filmische Adaption von 1966, die in der englischen Originalversion hier verfügbar ist: https://www.youtube.com/watch?v=hlVyZ6cooxc. Wenn wir uns den Film nicht ansehen, sondern nur anhören, können wir unsere Fixierung auf die einzelnen Charaktere, die als Archetypen für Gesellschaft, Geschlecht, Erfolg, Scheitern und Identität stehen, überwinden. Wir können Binäritäten und Gegensätze hinter uns zu lassen und ihr Zusammensein hören, ihr sich wandelndes Wesen, ihr Dazwischensein.
[2] Vgl. Aníbal Qujiano, Coloniality and Modernity/Rationality, in: Cultural Studies, 21. Jg., Band 2 und 3, März/Mai 2007, S. 168–178, hier S. 177.
[3] Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 2001, S. 71.
[4] Sara Ahmed, Orientations: Towards a queer Phenomenology, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies, Band 12, Ausgabe 4, 2006, S. 543–574, hier S. 549.
[5] Vgl. Doreen Massey, For Space. London 2005, S. 4.
[6] Donna Haraway, Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chtuluzän. Frankfurt am Main 2018.
[7] Vgl. Alistair Woodward et al., Climate change and health: on the latest IPCC report, in: The Lancet, Band 383, 2014, S. 1183–1189.
[8] Die aktuellen Notlagen können als „wicked problem“ (vgl. Karl Popper, Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge. London 1963; Horst Rittel/Melvin M. Webber, Dilemmas in a General Theory of Planning, in: Policy Sciences, Band 4(2), 1973, S. 155–169) bezeichnet werden, „weil das Wissen über die Auswirkungen und die gegenseitigen Abhängigkeiten unvollständig ist, weil in unterschiedlichen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebenen tätige Akteur*innen beteiligt sind, weil alle möglichen Maßnahmen ungewisse Auswirkungen haben und weil sie mit anderen Problemen in komplexen und weitgehend unkontrollierbaren Systemen verflochten sind“ (Per Morten Schiefloe, The Corona crisis: a wicked problem, in: Scandinavian Journal of Public Health, 2021, Band 49: 5–8, hier S. 5).
[9] Jonathan Sterne bezieht sich in seinem Argument, die Sound Studies seien eine stets im Entstehen begriffene und nie wirklich entstandene Disziplin, auf den Text „Is There a Field Called Sound Culture Studies? And Does It Matter?“ von Michelle Hilmes (vgl. Jonathan Sterne (Hg.), The Sound Studies Reader. New York 2012, S. 3.).
[10] Hier beziehe ich mich auf Dylan Robinsons Hungry Listening, in dem dieser zwischen den Hörpositionalitäten von Siedler*innen und Indigenen unterscheidet und die Idee und Charakteristik des „Siedlerhörens“ als hungrig bezeichnet, da dieses „der Erfassung und Gewissheit von Informationen den Vorrang gibt vor dem affektiven Fühlen, Timbre, Touch und der Textur des Klangs“ (vgl. Dylan Robinson, Hungry Listening: Resonant Theory for Indigenous Sound Studies. Minneapolis 2020, S. 38). Einen weiteren Bezugspunkt bildet T. J. Demos’ Against the Anthropocene, worin dieser sich für die „genauere und politisch ermächtigende Bezeichnung“ ‚Kapitalozän‘ ausspricht und die essentialisierende Einstufung des Menschen in einen einzigen Typus kritisiert; demgegenüber leugne der Begriff ‚Anthropozän‘ die durch Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus verursachten Asymmetrien und Ausgrenzungen und mache eine nuanciertere Bewertung der Schuldhaftigkeit unmöglich (vgl. T. J. Demos, Against the Anthropocene, Visual Culture and Environment Today. Berlin 2012, S. 54).
[11] Vgl. Glen Aikenhead, Border Crossing into the Subculture of Science, in: Studies in Science Education, 1996, Band 27, S. 1–52, hier S. 2.