Heft 4/2023 - Imperiale Gewalt


Die Restitution imperialer Beutekunst – eine Einladung zur Macht

Fazil Moradi


Ich halte es nicht für übertrieben, das menschliche Dasein als etwas zu betrachten, das inhärent inter- und transgenerational ist, räumliche Grenzen transzendiert und auf fürsorglichen bzw. kommunikativen Beziehungen basiert, die sich der aktuellen „rassifizierten“ und militarisierten Geografie sowie dem individualistischen Paradigma der imperial-neoliberalen Ordnung widersetzen. Eine Autobiografie kann in diesem Kontext nicht als Bestätigung eines einzelnen Selbst oder Lebens dienen.1 Wenn wir anerkennen, dass imperiale Gewalt bei der Ausgestaltung unserer Welt eine bedeutende Rolle gespielt hat, ist davon auszugehen, dass meine Erinnerungen und folglich mein Leben wie bei ganzen Völkern weltweit von ebendieser Gewalt geprägt sind.
Als Sozialwissenschaftler mit dem Fachgebiet Gewalt und Erinnerung der politischen Moderne habe ich mich dem Ziel verschrieben, in Verbundenheit und Zusammenarbeit mit anderen die Grenzen des Selbst zu transzendieren. Meine wissenschaftliche Forschung als Streben nach menschlichem Lernen und Wissen ist stets verknüpft mit Gastfreundschaft2 und hat mich zu einem endlosen Gastgeber gemacht wie auch zu einem Gefangenen der Erinnerungen an die politische Gewalt, die sich über Westeuropa, Ruanda, Südafrika, den Irak und den Iran erstreckt. Im Zuge dessen habe ich mich auch mit dem Vermächtnis der kolonialen Gewalt im Königreich Benin und dem Aschantireich auseinandergesetzt, die heute zum Staatsgebiet Nigerias bzw. Ghanas gehören. An der ghanaischen Küste kann man heute noch die Überreste imperialer Festungen bzw. die Ruinen des transatlantischen Menschenhandels betrachten.
In diesem Kontext finde ich mich zugleich als „Gastgeber“ von Erinnerungen an den imperialen Kolonialismus wieder wie als Geisel von quälenden Narrativen einer Vergangenheit, die unauflösbar mit einer noch unbekannten Zukunft verbunden ist. Unsere Autobiografien verheddern sich nicht nur mit anderen – vertrauten oder fremden – Biografien, auch von denen, die noch nicht geboren sind, sondern sie verdeutlichen uns auch die nicht endende Verantwortung für eine Erde, die in Trümmern liegt.
Quer durch die Geschichte, von den jahrhundertealten mesopotamischen Kaiserreichen bis zu den Imperien des 20. Jahrhunderts, begegnen wir dem stets gleichen politischen Vernichtungsprogramm, das bestehende Daseins- und Lebensformen, Lern- und Lebensweisen zerstört bzw. die unermessliche Komplexität der heterogenen Kulturen in ihrem Fadenkreuz ausplündert. Die Eroberung anderer Länder, die Zerstörung menschlicher Ökologie, sprich, des jeweiligen Volkes und seines Wissens, oder die Unterwerfung ganzer Kulturen und ihrer Geschichte, die sich oft in etwas manifestiert hat, das ich als „Katastrophenkunst“ (catastrophic art)3 bezeichne (mehr dazu später), waren wiederkehrende Projekte, die von imperialen Mächten eingesetzt wurden, und zwar lange vor dem Aufstieg jüngerer Imperien, darunter das arabisch-islamische, das der Kreuzzüge, Portugals, Spaniens, das Osmanische Reich, das französische und das britische Empire, das preußische, niederländische, belgische Kaiserreich oder das Imperium der Vereinigten Staaten von Amerika.
Ein bemerkenswertes historisches Beispiel dafür ist die Zerstörung der elamischen Stadt Susa, oder Shush, im heutigen Südwesten des Irans, durch das Assyrische Reich im 7. Jahrhundert v. Chr. Auch die Vernichtung der im heutigen Tunesien liegenden Stadt Karthago (Carthago delenda est – „Karthago muss zerstört werden“) durch das Römische Reich 149 v. Chr. trug sich auf ähnliche Weise zu.4
Und wo wir gerade von der Zerstörung des elamischen Susa reden: Der assyrische König Assurbanipal wird im 7. Jahrhundert v. Chr. mit den folgenden Worten zitiert: „Susa, die bedeutende heilige Stadt, Sitz ihrer Götter, Ort ihrer Mysterien, wurde von mir erobert. Ich betrat ihre Paläste, ich öffnete ihre Schatzkammern, wo sie Silber und Gold, Waren und Reichtümer gesammelt hatten ... Ich zerstörte den Tempelturm von Susa. Ich zerschmetterte seine glänzenden Kupferhörner. Ich machte die Tempel von Elam dem Erdboden gleich, versprengte ihre Götter und Göttinnen in alle Winde. Die Grabstätten ihrer alten und neuen Könige verwüstete ich, setzte ihre Gebeine der Sonne aus und brachte sie fort ins Land von Assur. Ich verwüstete die Provinzen von Elam, und auf ihrem Land säte ich Salz.“5
Das Gespenst imperialer Gewalt suchte die Region bereits vor Assurbanipals Aufstieg zur Macht heim und sollte auch während bzw. nach seiner Herrschaft nicht weichen. Von zentraler Bedeutung war dabei die Unterwerfung Ägyptens im Jahre 671 v. Chr. durch das Assyrische Reich, gekennzeichnet durch die Plünderung von Memphis unter der Herrschaft von König Asarhaddon. Damit kündigte sich die Expansion eines Reiches an, dessen Herrschaft von den südlichen Hoheitsgebieten Babyloniens bis zu den westlichen Gebieten Phöniziens und Ägyptens reichen sollte.6 Beispiele wie diese zeigen, dass es imperiale Mächte, die andere Kulturen systematisch zerstören, um die eigene Herrschaft zu festigen, schon seit Urzeiten gibt.
Im frühen 19. Jahrhundert bemächtigten sich die Imperialmächte mit sehr aggressiven Mitteln der Vermächtnisse und Ruinen mesopotamischer Reiche wie Assyrien, Babylonien und Akkad sowie afrikanischer und mesopotamischer Kulturen. Zu diesen Akten der Plünderung gehörten auch die fein säuberliche Ausgrabung, die Kategorisierung und der Abtransport dieser „altertümlichen“ Reiche, um sie im Herzen der expandierenden Imperien, die wir heute als Westeuropa kennen, wieder aufzubauen.
Die Nebukadnezar-Ziegel mit ihren kunstvollen Inschriften, die prächtigen Ziegelsteine des babylonischen Ischtar-Tors, die Ziegel des königlichen Palasts und die prachtvolle Prozessionsstraße – all das wurde in großer Zahl zusammengetragen, in eine Vielzahl von Holzkisten gepackt und auf eine außergewöhnliche transkontinentale Reise geschickt, die von Babylon aus über den Euphrat und durch drei Kontinente führte, bis sie schließlich in Berlin endete, der Hauptstadt des preußischen Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das von der prachtvollen Prozessionsstraße begleitete geisterhafte blaugelbe Ischtar-Tor sollte als tiefgründiges Symbol siegreicher Macht die Gründung und das Fortbestehen des Preußischen Kaiserreichs unterstreichen.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert weiteten das Britische, das Französische und das Deutsche Reich ihre erbarmungslosen Feldzüge, deren Ziel die Zerstörung und kulturelle Plünderung weiter Teile der Welt war, auf das Königreich Benin, das Aschantireich, das Königreich Dahomey und das Gebiet der heutigen Republik Kamerun aus. Die imperialen Angriffe richteten sich gegen das heterogene kulturelle Leben dieser Königreiche auf dem afrikanischen Kontinent sowie der ganzen Welt. Sie taten es den Eroberern der „altertümlichen“ Reiche gleich, trugen ihre Beute zusammen und verschifften sie in die Metropolen London, Paris und Berlin.

Kulturelle Plünderungen
Imperiale Gewalt zieht sich kontinuierlich durch das 20. und 21. Jahrhundert. Doch zusätzlich zur Umwandlung von Kulturerbestätten in neoliberale Profitziele und der damit einhergehenden Gefährdung des Erhalts von heterogenen Kulturen und ihrer Geschichte zeichnet sich auch die Gefahr der atomaren Auslöschung unseres Planeten ab. Wir dürfen nicht vergessen, dass moderne Staaten, vor allem solche mit imperialistischen Bestrebungen und Atomwaffen, immer noch eine Monopolstellung innehaben, wenn es um Gewalt, Krieg und Zerstörung geht. Sie besitzen die Macht, auf globaler Ebene Kriege und Zerstörung herbeizuführen. Während ich dies schreibe, herrscht in weiten Teilen der Welt politische Gewalt, unter anderem in Palästina, der Ukraine, im Sudan, in Burkina Faso, im Tschad, in Mali, im Niger, im Jemen, in Libyen, Bergkarabach, Syrien, im Irak, im Iran sowie gegen indigene Völker in Amerika, Skandinavien und Australien. Das Volk der Rohingya in Asien, der Kurd*innen in Syrien, dem Iran und der Türkei sowie zahllose staatenlose Migrant*innen, sie alle sind auf ihrer Suche nach Gastfreundschaft ins Kreuzfeuer der Gewalt geraten. Wer fragt, was mit jenen geschieht, die auf ihrer Suche eins werden mit den Weiten des Atlantiks, fragt zugleich nach dem Fortbestehen des imperialen Kolonialismus.
In ihrem Buch In the Wake geht Christina Sharpe den quälenden Erinnerungen von Völkern des afrikanischen Kontinents nach, die in der Zeit des „transatlantischen Menschenhandels“ gewaltsam in die unergründlichen Tiefen des Atlantischen Ozeans geworfen wurden. Sharpes engagierte Analyse zeigt: „Menschliches Blut ist salzig, und Natrium hat eine Verweildauer von 260 Millionen Jahren.“7 In diesem Kontext wird der Atlantische Ozean zum stummen Zeugen von imperialer kolonialer Gewalt bzw. von Akten der Zerstörung und Auslöschung. Als solcher steht er in einer unauflöslichen Verbindung zu den einst imperialen Museen in London, Berlin, Brüssel und Paris. Unter der Bezeichnung „Sammlungen“ oder „Objekte“ beherbergen zahllose andere Museen koloniale Gewalt und stellen diese zur Schau. Vom 19. bis zum späten 20. Jahrhundert wurden solche „Sammlungen und Objekte“ vom afrikanischen Kontinent als „primitive Kunst“ bezeichnet; dazu zählten sowohl makabre Relikte wie menschliche Schädel als auch kulturelle, politische und religiöse Artefakte oder Kunstwerke, die man von den oben genannten afrikanischen Königreichen und verschiedenen anderen Regionen quer durch den afrikanischen Kontinent hatte mitgehen lassen. So sind das Flachrelief, welches die Zerstörung des elamischen Susa durch das Assyrische Reich porträtiert, sowie die Bibliothek des Königs von Ninive derzeit im Britischen Museum in London zu sehen; die Siegesstele des Asarhaddon, welche seiner bereits erwähnten siegreichen Eroberung Ägyptens gedenkt, steht ebenfalls an prominenter Stelle: auf der Schwelle zur babylonischen Prozessionsstraße im Pergamonmuseum in Berlin. Die Hammurapi-Stele mit den Gesetzen König Hammurapis befindet sich im Louvre in Paris und die Büste der Nofretete im Neuen Museum in Berlin. Die kulturellen Plünderungen des 19. Jahrhunderts werfen bis heute ihre gespenstischen Schatten auf Staaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten, die Niederlande, Belgien und darüber hinaus.
Im Zeitalter des grenzenlosen neoliberalistischen Strebens nach Profit und der Umweltzerstörung sind imperiale Museen wie beispielsweise der Louvre in Paris, das British Museum in London sowie das Pergamonmuseum, das Neue Museum und das Humboldt Forum in Berlin keine einsamen Inseln. Sie haben sich vielmehr zu so etwas wie kleinen Kolonien unter dem Schutz imperialer Staatsbürokratien entwickelt, deren Bürokrat*innen als kafkasche Türhüter*innen fungieren, mit modernster Überwachungstechnologie, Sicherheitsdiensten und radikalen kapitalistischen Wirtschaftlichkeitsberechnungen. Diese Verstrickung weist nicht gerade auf einen historischen Wandel hin, der irgendwann zu Gerechtigkeit führt, sondern eher auf ein anhaltendes kolonialistisches Denken und eine ebensolche Politik und Praxis sowie auf Verbindungen zu historischen imperialistischen Stiftungen, die sich, wie bereits erwähnt, durch die Jahrhunderte hindurch gehalten haben.
Imperiale Museen beharren auf ihrem historischen Eigentumsrecht, wenn es um die imperialen Plünderungen von Kulturerbestätten, Artefakten und Kunstwerken als Wissenssystemen geht, die während des 19. und 20. Jahrhunderts in die imperialen Metropolen verschifft wurden. Diese historischen Plünderungen und die fortlaufenden Akte der museografischen Aneignung8 und Zurschaustellung als „Eigentum“ oder „Objekte“ sind das, was für mich Katastrophenkunst darstellt. Diese setzt sich damit auseinander, wie der Kolonialismus Raubkunst in Behältnisse präkolonialer Wissenssysteme und zugleich in Überlebende imperialer Wissensvernichtung – Epistemizid – verwandelt hat. Diese Akte der Zerstörung spielen sich auch weiterhin ab, wenn die betreffenden Kunstwerke gewaltsam ins Herz des Empire, die Metropolen, verbracht, auf Auktionen verkauft, in Privatsammlungen aufgenommen und von Ethnolog*innen, Kurator*innen und Museen kategorisiert, klassifiziert und ausgestellt werden. Die einst unter „ethnologisch“ oder „ethnografisch“ agierenden Museen haben sich umbenannt und tragen nun die Bezeichnung „Welt“ oder „Universal“ im Namen. Mit dieser Namensänderung versuchen sie nicht nur, historische Bemühungen um Restitution zu umgehen, sie leugnen damit sowohl ihre eigene koloniale Geschichte als auch die imperiale Vernichtung von Wissen, das sie weiterhin rechtlich für sich beanspruchen und als „Objekte“ ausstellen.
Katastrophenkunst zeigt, dass imperiale Plünderungen und die Politik der Restitution nicht in letzter Konsequenz zu verstehen sind, wenn nicht die imperiale Zerstörung von politischer und wirtschaftlicher Ordnung, von Wissenssystemen, Völkern und Lebensformen genaustens untersucht wird. In meiner Analyse dieser imperialistischen Vernichtungshandlungen hebe ich deren historische Wurzeln im 15. Jahrhundert hervor und zeige, wie sich in der aktuellen Politik der Restitution imperialer Plünderungen die Beständigkeit und anhaltende Rhetorik einstiger imperialer Staaten offenbaren.9
Der französische Präsident Emmanuel Macron hielt am 28. November 2017 an der Universität von Ouagadougou in Burkina Faso eine Rede, welche die Debatte über die Rückgabe kultureller „Artefakte“ oder „Objekte“ im 21. Jahrhundert nachhaltig beeinflusst hat, insbesondere in Frankreich und Deutschland. In seiner Rede verkündete Macron eine seiner obersten Prioritäten als Präsident: Es solle ermöglicht werden, dass das afrikanische Erbe sich frei zwischen Frankreich und Afrika bewegen kann, während gleichzeitig die Bedingungen dafür geschaffen werden, es vorübergehend oder auf Dauer an Afrika zurückzugeben.
2018 wurde der von Macron in Auftrag gegebene präsidentielle Bericht zur Restitution veröffentlicht. Der ursprünglich auf Französisch verfasste und später ins Englische übersetzte Bericht zirkulierte in Fachkreisen. Sowohl der Bericht als auch die Rede, die ich beide in meinem Aufsatz „Catastrophic Art“ untersuche, reflektieren einen imperialen Traum, der auf eine „zukünftige“ Kooperation zwischen Frankreich und Afrika abzielt und dabei klar zwischen Sub-Sahara-Afrika und Nordafrika unterscheidet. Darüber hinaus machen Rede und Bericht die französische Kolonialgeschichte zu einer Angelegenheit, die vor allem das französische Erbrecht, Museen, Kurator*innen und die Bürokratie betrifft.
Im Dezember 2022 hielt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, begleitet von einer Delegation, zu der unter anderem die Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Katja Keul, gehörten, im nigerianischen Abuja eine Rede. Zu der Delegation zählten außerdem der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, verschiedene Museumsdirektor*innen und 20 Beninbronzen aus unterschiedlichen deutschen Museen. Die Außenministerin fasste all das mit folgenden Worten zusammen: „Wir sind hier, um Fehler wiedergutzumachen.“ In ihrer Rede hieß es: „Daher freuen wir uns, den Bau eines Kunstpavillons im Edo-Staatsmuseum zu finanzieren und Sie [die Nigerianer*innen] einzuladen, die Bronzen dort auszustellen. Außerdem haben wir [der deutsche und der nigerianische Staat] vereinbart, dass einige Bronzen auf globale Wanderausstellungen gehen und einige von ihnen als Leihgaben in deutschen Museen bleiben – damit sie dort Ihre Geschichten und Ihre Geschichte erzählen. Entscheidend ist eins: Sie wissen, wo die Bronzen sind. Sie wissen, dass sie Nigeria gehören. Und Sie wissen, dass sie nach Hause kommen können.“10
Unter den 20 Beninbronzen befand sich ein „Schlüssel“: „Dieser Schlüssel ist ein Symbol. Er kann uns helfen, ein neues Kapitel in der Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern aufzuschließen“11, endet die Rede.
Diese Beispiele werfen ein Licht darauf, wie die Geschichte kolonialer Gewalt in der aktuellen Ausformung von Katastrophenkunst weiterhin erhalten bleibt. Der französische Präsident und die deutsche Außenministerin sind an separaten imperialen Träumen interessiert; gekleidet in die Rhetorik von „Zukunft“ und „Freundschaft“ verwandeln diese sich in Technologien, die jegliche Möglichkeit einer Öffnung gegenüber kolonialen Geschichten und Verpflichtungen, verbunden mit ethischer Verantwortung, verhindern. Die imperialen Träume beruhen auf etwas, das Stuart Hall „imaginative identifications“12 nennt. Diese imaginäre Identifikation gründet auf Differenz, die in der Folge in eine Einladung zur Macht umgewandelt wird – die Macht zu wissen, zu erobern, zu vernichten, zu enteignen, zu besitzen und zu beherrschen, sowie die Macht, den Imperialismus des 19. Jahrhunderts und die „weiße Vorherrschaft“ als die natürliche Ordnung der Dinge hinzustellen. Restitution als Einladung zur Macht wird so zu einem imperialen Versprechen: Beim kleinsten Anzeichen der Erinnerung an den Kolonialismus werden sie kommen, um ihr Wissen und ihre Dominanz zu behaupten. Bei diesem imperialen Versprechen gibt es keinen Raum für historische und ethische Verantwortlichkeiten oder kritische Vorstellungen bzw. Liebe.
In seinem Buch der Umarmungen schreibt Eduardo Galeano13 von einem einsamen Mann, der die meiste Zeit im Bett verbringt. Gerüchten zufolge ist in seinem Haus ein Schatz versteckt. Und so brechen eines Tages Diebe in sein Haus ein, durchsuchen alles und finden im Keller eine Truhe. Sie nehmen sie mit, finden beim Öffnen darin jedoch nichts als Briefe. Es sind die Liebesbriefe, die der alte Mann im Laufe seines langen Lebens erhalten hat. Die Diebe wollen die Briefe zuerst verbrennen, besinnen sich dann aber und beschließen, sie ihm zurückzugeben. Einen nach dem anderen. Jede Woche einen. Seitdem wartet der alte Mann jeden Montag um die Mittagszeit auf den Briefträger. Sobald er ihn erblickt, läuft er ihm entgegen. Der weiß Bescheid und hält den Brief schon in der Hand. Vor Freude über die Nachricht einer Frau, schlägt das Herz des alten Mannes so laut, dass sogar der heilige Petrus es hören kann.
Da Imperien von Natur aus auf Vernichtung aus sind und keinen Respekt für die Ethik der Liebe haben, lässt sich der radikale Kontrast zwischen den Dieben im Buch der Umarmungen und der imperialen Vernichtung von Wissen und Völkern, den Plünderungen und Diebstählen nur schwer leugnen. Die aktuelle Rhetorik der Restitution verweigert sich einer tiefgreifenden Wende in den historischen, politischen, museografischen und ethischen Beziehungen zur Katastrophenkunst, die in Museen auf der ganzen Welt weiterhin als Ansammlung lebloser „Objekte“ behandelt, etikettiert und zur Schau gestellt wird und sich tief in unsere Autobiografien hineinbohrt. Eine Restitution in Form von Liebesbriefen steht noch aus.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

[1] Fazil Moradi, In Search of Decolonised Political Futures, in: Anthropological Theory (erscheint 2023).
[2] Fazil Moradi, Being Human: Political Modernity and Hospitality in Kurdistan-Iraq. Newark 2024.
[3] Fazil Moradi, Catastrophic Art, in: Public Culture 34.2 (97) (2022), S. 243–264. Siehe auch Fazil Moradi, „Restitution“ of Looted African Art just Continues Colonial Policies – Much More is At Stake, in: The Conversation, 13. Oktober 2022; https://theconversation.com/restitution-of-looted-african-art-just-continues-colonial-policies-much-more-is-at-stake-191386.
[4] Vgl. Ben Kiernan, The First Genocide: Carthage, 146 BC. Thousand Oaks 2004, S. 27–39.
[5] Zitiert nach Paul Kriwaczek, Babylon: Mesopotamia and the Birth of Civilization. New York 2010.
[6] Sehe Eckart Frahm, Assyria: The Rise and Fall of the World’s First Empire. New York 2023.
[7] Vgl. Christina Sharpe, In the Wake: On Blackness and Being. Durham: 2016, S. 41.
[8] Dies muss auch die Aneignung der Beutekunst des Nationalsozialismus beinhalten. Vgl. Elizabeth Campbell, Claiming National Heritage: State Appropriation of Nazi Art Plunder in Postwar Western Europe, in: Journal of Contemporary History 55.4 (2020), S. 1–30.
[9] Vgl. Moradi, Catastrophic Art.
[10] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-der-bundesministerin-des-auswaertigen-annalena-baerbock--2155152
[11] Ebd.
[12] Stuart Hall, Random Thoughts Provoked by the Conference „Identities, Democracy, Culture and Communication in Southern Africa“, in: Critical Arts: A Journal of Cultural Studies 11.1–2 (1997), S. 1–16.
[13] Eduardo Galeano, Das Buch der Umarmungen: Geschichten, übersetzt von Erich Hackl. Zürich 1991.