Immer gesehen zu werden, unwiderruflich gesehen zu haben, etwas als wahr oder falsch zu präsentieren oder präsentiert zu bekommen – dies bildet die mediale Trias, die Eva & Franco Mattes in einer Art teilnehmenden Beobachtung des Feldes unermüdlich durchdeklinieren. Exemplarisch sind ihre präparierten Katzen nach dem Vorbild sogenannter LOLCat-Memes: Die Ceiling Cat beobachtet uns durch ein Loch in der Decke, während What Has Been Seen auf ein – oft um „cannot been unseen“ ergänztes –Meme zurückgeht, das ein schwarzes Tier mit angstvoll aufgerissenen Augen zeigt; die Half Cat wurde berühmt als digital manipulierte Darstellung einer dreibeinigen Katze. Das seltsam gestauchte Wesen empfing die Besucher*innen im Foyer des Frankfurter Kunstvereins zur Ausstellung Fake Views, die ältere und neuere Arbeiten der Mattes’ mit viraler Bildkraft versammelte. Tatsächlich folgen die Arbeiten einer memetischen Logik – was besonders deutlich mit Blick auf weitere, nicht in der Schau zu sehenden Arbeiten wird. Sie fungieren sozusagen als Reenactments ihrer selbst, die uns mit ähnlichen Ausgangskonzepten über Jahre hinweg thematisch und formal leicht variiert begegnen – doch wo verlaufen sie dabei hin, und wie treten sie auf uns zu?
Das Keyvisual von Fake Views zeigt eine auf dem Rücken liegende Person, deren Oberkörper unter dem Dach zweier aneinander montierter Bildschirme verborgen ist. Die Assoziation eines behelfsmäßigen Unterschlupfs stellt sich ein – aus den weit mehr als nur „vier Wänden“, als die uns mediale Bilder täglich umfangen, uns ein Gefühl von innen oder außen geben.
Die solchermaßen präsentierte Videoreihe BEFNOED (seit 2013) basiert auf Handlungsanweisungen, die Eva & Franco Mattes auf Crowdsourcing-Plattformen als Jobs vergeben, mit der Vorgabe, Videos dieser Aktion online zu stellen. Auf kaum bekannten Plattformen mit wenigen Views zirkulieren nun Bilder von Menschen, die an Autofelgen lecken oder Eimer über dem Kopf tragen. Im Ausstellungsraum sind die Videos so installiert, dass die Besucher*innen sich zwischen Screens zwängen, auf den Boden legen und gegenseitig hochheben müssen, um etwas zu sehen. Als Kunstbetrachter*innen sind wir In- und Outsider*innen zugleich in diesem Spiel.
Für die Zeitschrift Frieze, die stellvertretend eines der Bilder publizierte, realisierten die Mattes nach ähnlichem Prinzip 2017 eine Bildstrecke: Für A Civilized Society erging der Auftrag an zufällige Jobsuchende, vor der Bildschirmkamera mit selbstgewählten Slogans zu protestieren. Thematisch ganz verschiedene, teils konträre politische Ansichten werden nun auf der Webseite der Künstler*innen formal gleichberechtigt dokumentiert. Sie fungieren als „zivilisierte“ Bildoberflächen einer gesellschaftlichen Viel- und Gegenstimmigkeit; als partizipatives Projekt, das uns vor allem spüren lässt, welche Meinungen wir lieber nicht lesen wollen. Und wie präsent sie trotzdem sind. Die Arbeit funktioniert nicht nur viral, sie lässt sich ebenso infizieren, ist durchlässig auch für streitbare Inhalte.
Eine politisch sich zuspitzende Linie verläuft von den Portraits (2006–07) der „13 schönsten Avatare“, die Eva & Franco Mattes in Second Life anfertigten, zu der in Frankfurt erstmals gezeigten Arbeit Up Next (2023), die die Geschichte der iranischen Influencerin Sahar Tabar nachzeichnet. Über Instagram-Selfies inszenierte sich Sahar morbide schillernd zwischen Angelina Jolie und Corpse Bride. Offen blieb dabei, wie ernsthaft oder ironisch sie diesen „Idealen“ nacheiferte, ob sie sich gar plastischen OPs unterzogen habe und wenn ja, wie vielen, welche Effekte wiederum auf Photoshop, Make-up und Filter zurückzuführen seien. Was als medienreflexives Selbstexperiment der jungen Frau lesbar gewesen wäre, mündete in die Skandalisierung ihrer Person in der Presse und ihre Verhaftung, unter anderem wegen Blasphemie und Nicht-Einhaltung der Kleiderordnung. Als einzelne Slides präsentiert Up Next Bild-Text-Fragmente aus dem Medienhype um Sahar. Während die Avatar-Portraits humorvoll Selbstbildmodulationen zwischen Individualität und Stereotypie dokumentieren, erinnert Up Next daran, dass das – selbst fiktive – Verfolgen persönlicher (Schönheits-)Ideale auch mit sprachlicher und physischer Gewalt konfrontiert werden kann. Vor allem, wenn Frauen neue (digitale) Rollen für sich selber schreiben.
Die Grenze zwischen unerlaubten und erwünschten Bildern ist, kulturell und profitbedingt, fließend. Dies zeigt auch The Bots (2020): Grundlage der Videos sind Interviews mit Content-Moderator*innen für Social-Media-Firmen, die erzählen, nach welchen Regeln sie Beiträge entfernen, aber auch, welche Belastung die Flut an gewaltvollen, diskriminierenden Bildern darstellt – über die sie allerdings nicht sprechen dürfen. Ihre Berichte werden in The Bots daher von Schauspieler*innen performt.
Auch Eva & Franco Mattes bezahlten für Emily’s Video (2012) Freiwillige dafür, sich schockierende Inhalte anzusehen, die für uns, gewissermaßen Betrachter*innen zweiter Ordnung, unsichtbar bleiben. Wir sehen ihre mimischen Entgleisungen angesichts einer (ihnen angeblich vorgespielten) Videokompilation aus dem Darknet, während was sie sahen, unklar bleibt. Emily’s Video folgt dem Muster des Reaction-Videos und zeigt von konkreten Ursachen befreite, zum visuell Konsumierbaren selbst gewordene Mimik. Demgegenüber verweist The Bots auf die Langzeitfolgen eines kapitalistisch ausgebeuteten medialen Ausgesetztseins im Format des Make-up-Tutorials, das von User*innen in restriktiven Systemen gern als Tarnung verwendet wird, um sich zwischen Schminktipps politisch zu äußern. In beiden Fällen fungiert die Bildebene als ein die eigentlichen Inhalte verdeckende wie zugleich in ihrer Wirkweise entlarvende Oberfläche, durch die es hindurchzuhören und -zudenken gilt. So weit, so gut, so aufklärerisch?
Gleichzeitig hat die Ausstellungsarchitektur, wie sie uns im Frankfurter Kunstverein begegnete, Anteile eines Hindernisparcours. Sie baut Barrieren, zwingt uns in Körperhaltungen, hält auf Abstand, etwa durch Vergitterungen von Serverschränken und in Bühnenelemente eingebaute Screens. Dadurch passiert etwas Entscheidendes: Die Inhalte schwemmen auf uns zu. Sie gehen uns nahe, ohne dass wir uns ihnen aktiv nähern könnten. Es grüßen die drei ausgestopften Katzen.
Man könnte die Arbeiten als künstlerische Konfrontationstherapie für den kollektiven Mediengebrauch lesen, die uns auf physischer Ebene die Stimuli eines virtuellen Raumes präsentiert, der uns, so der Allgemeinplatz, längst entglitten ist. Eva & Franco Mattes demonstrieren, wie keine Idee immun ist, die in Kontakt mit anderen tritt und treten will. Die Arbeiten sind dort am stärksten, wo sich die vorgesehenen Platzhalter für Unkontrollierbares mit Inhalten füllen, die gefühlt knapp unter oder über der Schwelle des als Kunst bequem Rezipierbaren liegen. Mit Blick auf die Verläufe in der Werkentwicklung drehen die Künstler*innen beherzt am Regler zwischen Banalität und Brisanz. Dabei gelingt es, bestimmte (Social-Media-)Formate zu konturieren, aber auch, deren Fassungsvermögen auf die Probe zu stellen – die Grenzen dessen, was sich minimal oder maximal in sie hineingießen oder aus ihnen herausmoderieren lässt. In leichter Abweichung von sich selbst spiegeln die Arbeiten eine sich wandelnde Gesellschaft und ein diffundierendes Publikum. Dieses ist längst ein „prosumierendes“ geworden, dessen impulsive oder medienversierte Reaktionen, Kommentare, Statements, Reposts und Likes politisch häufig weitreichende Folgen implizieren. Eva & Franco Mattes teilen Reaktionen anonymer Dritter, die uns mal mehr, mal weniger berühren oder provozieren. Vielleicht geht es nicht primär darum, hinter diese Oberflächen zu blicken, sondern Reaktionen in ihren vielfältigen Formen aufzufangen und der Langeweile wie der Aufgeregtheit reflexiven Raum zu geben.
Fake Views war von 14. Juli bis 10. September 2023 im Frankfurter Kunstverein zu sehen; https://www.fkv.de/ausstellung/eva-franco-mattes/.