Heft 4/2023


Imperiale Gewalt

Editorial


Ein zerschmetterter Kronleuchter, die röhrenförmigen Glasteile bruchstückhaft auf dem Boden verstreut. Das Coverbild der vorliegenden Ausgabe steht sinnbildlich für den Themenkomplex imperiale bzw. militärische Gewalt, der auch Kunst und Kultur weltweit in verstärktem Maße ausgesetzt sind. Die Geschichte hinter dem Bild ist eine komplexere, nachzulesen hier.1 Dennoch kommt in dieser Installation des ukrainischen Kollektivs DE NE DE, ausgestellt auf der diesjährigen Kyjiw Biennale, viel von dem zum Tragen, was diese Ausgabe ursprünglich motiviert hat: die rohe Gewalt, mit der kriegerische Auseinandersetzungen an allen möglichen Schauplätzen über ziviles Leben hereinbrechen; die Unweigerlichkeit, mit der auch kulturelle Zusammenhänge (und Artefakte!) dieser Vehemenz unterliegen; und schließlich der Verweis darauf, dass künstlerische Bestrebungen stets mehr dem Verbindenden und Kooperativen als dem Trennenden verpflichtet sind. All das findet sich aktuell zunehmend infrage gestellt. All dem wollen wir uns trotzdem – im Glauben an eine potenzielle, gemeinschaftsstiftende Gewaltlosigkeit – stellen.
Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass die Hoffnung auf eine weltpolitische Befriedung, wie sie mit dem Ende des Kalten Krieges aufkam, verfrüht, um nicht zu sagen: vergebens war. Dies betraf auch das kulturelle Feld: So schien es mit der Etablierung der neuen Weltordnung ab 1989, als seien Kunst und Kultur keiner unmittelbaren Bedrohung mehr durch staatliche Gewalt ausgesetzt. Zwar bedeutete die Auflösung des bipolaren Weltsystems keineswegs das Ende politischer Krisen oder gewalttätiger Konfrontationen; doch im kulturellen Milieu dominierte ab diesem Zeitpunkt überwiegend die Perspektive eines weitgehend friedvollen Miteinanders. Gab es gegenteilige Bekundungen in der Kunst – und diese existierten in den letzten 30 Jahren zuhauf –, so rührten sie vornehmlich von ehemals kolonialen oder nicht zur Ruhe kommenden lokalen Konfliktherden her. Nichtsdestotrotz sah sich die künstlerische und kulturelle Praxis in einer Art sicherem, geschütztem Hafen, dem derlei Gewalt nicht wirklich etwas anhaben konnte.
Spätestens die russische Invasion in der Ukraine hat alle eines Besseren belehrt. Mit einem Mal sind auch kulturelle Angelegenheiten, speziell im ukrainischen und russischen Kontext, aber auch darüber hinaus, wieder tief in den Bannkreis militärischer bzw. obrigkeitsstaatlicher Gewalt verstrickt. Propagandistische Ummantelung und exzessive Strafandrohungen sind die offensichtlichsten Varianten, in denen Kunst und ziviles Leben die Auswirkungen imperialer Machenschaften zu spüren bekommen.
Die vorliegende Ausgabe möchte die größere Gemengelage hinter diesem Aufbranden imperialer Gewalt ausloten. Waren kriegerische Bestrebungen womöglich die ganze Zeit über auf subtiler Ebene präsent, während man sich kulturell in einer durch und durch pazifistischen Sphäre wähnte? Lassen sich aus anderen globalen Zusammenhängen aufschlussreiche Lehren ziehen, inwiefern sich künstlerische Praxis stets mit Gewalt konfrontiert sieht bzw. diese zu unterlaufen versucht? Und schließlich: Welche Widerstandsmodelle sind aktuell tragfähig, wenn es darum geht, den neoimperialen Umtrieben der Gegenwart die Stirn zu bieten?
All dem geht dieses Heft unter Einbindung internationalistischer Perspektiven nach. So legt die US-amerikanische Historikerin Lauren Benton in ihrem Beitrag dar, auf welche Weise in unterschiedlichsten geschichtlichen Zusammenhängen die Sphäre des Häuslichen und Privaten immer schon von Gewaltfaktoren bestimmt war. Bentons düsterer Befund wird von den Ausführungen des Sozialwissenschaftlers Fazil Moradi gestützt, der eine kulturelle Dimension imperialer Feldzüge beleuchtet, die bis in die Gegenwart nachwirkt: jene der Beutekunst bzw. dessen, was Moradi „katastrophische Kunst“ nennt – kulturelle Produktion, der die gewaltvollen Spuren ihrer Herkunft und Verbreitung unabdingbar eingeschrieben sind.
Dass damit nicht das letzte Wort gesprochen sein muss, unterstreichen künstlerische Ansätze, die sich kolonialen Schemata zu widersetzen suchen. So erläutert Macarena Gómez-Barris, welche Grundkonstituenten eine dekoloniale Kunst, zumal aus indigenen Kontexten, zentral kennzeichnen. Gómez-Barris streicht diesbezüglich das Momentum von „unter-“ bzw. „abgetauchten Perspektiven“ hervor, das im künstlerischen Widerstand gegen imperiales Machtstreben häufig anzutreffen ist. Auf die elementare Ebene des Mineralischen und Partikelhaften versuchen Denise Ferreira da Silva und Arjuna Neuman diese Perspektive zurückzuverfolgen. Wie sie im Gespräch über ihre neue Filmarbeit betonen, muss die Suche – und die Gegenwehr gegen jegliche unterdrückende Gewalt – einer Form von „mineralischer Solidarität“ gelten: dem Streben nach Verbundenheit mit allen möglichen uns umgebenden, menschlichen wie nicht-menschlichen, Lebensformen.
Neben der Oberflächlichkeit der italienischen Gedenkkultur an den Faschismus (Olga Bubich) erfährt die Komplexität des Russland-Ukraine-Verhältnisses spezielle Beachtung hier. So widmen sich mehrere Bildbeiträge – etwa von Anna Engelhardt/Mark Cinkevich, Yarema Malashchuk/Rōman Khimey oder dem erwähnten DE NE DE-Kollektiv – verschiedenen Ebenen des Krieges. Auch wird die Art von kultureller Komplizenschaft, die sich über die Jahre in Russland hinsichtlich es Putin-Regimes ausgebildet hat, einer kritischen Betrachtung unterzogen (Herwig G. Höller). Ievgeniia Gubkina rekapituliert am Beispiel von Odessa, und der zunehmenden Kriegsschäden dort, welche Art von „imperialistischer Sprache“ die lokale Architektur geprägt hat. Thematisiert wird von Gubkina auch, welche Gefühlslagen die Sprache des Oppressors miterzeugt. Was wieder zurück zu dem zerschlagenen Luster führt, dessen Scherben vielleicht auch Splitter des Widerstands gegen jegliche Form von imperialer Gewalt sind.

1 https://www.springerin.at/2023/4/impressum/