„Tatsächlich bedeutet Auschwitz nicht nur das Versagen von zweitausend Jahren christlicher Zivilisation, sondern auch die Niederlage des Verstands, der versucht, einen wahrhaftigen Sinn in der Geschichte zu finden.“
Elie Wiesel, Holocaust-Überlebender
„Dunkle Zeiten bergen große Chancen.“
Wayne Barrett, amerikanischer Journalist
„Orgoglio italiano – una patria da amare e difendere“, hieß es auf einem großen Plakat anlässlich einer Rede von Georgia Meloni bei einer Demonstration auf der Piazza San Giovanni im Oktober 2019: „Italienischer Stolz – eine Heimat zum Lieben und Verteidigen“. Die Menschenmenge, die die Rednerin begeistert begrüßte, schien entzückt und stolz auf die Vorsitzende der Fratelli d’Italia einer nationalkonservativen, neofaschistischen Partei. Drei Jahre später sollte Meloni Ministerpräsidentin werden und als erste italienische Frau in diesem Amt in die Geschichte eingehen. Aber kann man darauf wirklich stolz sein?
Meloni ist eine charismatische, wenn nicht sogar hysterische Rednerin, und es mangelt bei ihrer Wortwahl nicht an einer übersteigerten emotionalen Rhetorik mit groben Übertreibungen, reißerischen Slogans und Anschuldigungen, die sich gleichermaßen gegen parteiinterne Widersacher*innen wie imaginäre Feind*innen richten, welche sie in Personen unterschiedlicher Religions- und Geschlechterzugehörigkeit zu erkennen vermeint. Getreu der von der faschistischen Politik der 1930er-Jahre etablierten Tradition fördert sie eine strikte Trennung zwischen „wir“ und „denen“ – eine Taktik, die Jason Stanley als typisches Mittel der Meinungsmanipulation faschistischer Politik entlarvt hat.
Stanley, der diese Trennung in seinem bahnbrechenden Buch How Fascism Works (2018) als „verräterischstes Symptom faschistischer Politik“ beschreibt, führt weiter aus: „Es geht darum, eine Bevölkerung in ein ‚Wir‘ und ein ‚Die‘ zu spalten, sich auf ethnische, religiöse oder rassische Unterschiede zu berufen und diese Spaltung zu nutzen, um eine Ideologie zu formen und letztendlich Politik zu machen. Alle Mechanismen der faschistischen Politik wirken daran mit, diese Unterscheidung zu erzeugen oder zu festigen. […] Während die Angst vor ‚denen‘ wächst, wird das ‚wir‘ gleichbedeutend mit Tugend und Rechtschaffenheit. Die Gefahren faschistischer Politik liegen in der besonderen Art und Weise, wie Teile der Bevölkerung entmenschlicht werden. Durch die Ausgrenzung dieser Gruppen schränkt sie die Empathiefähigkeit der anderen Bürger*innen ein […].“1
In den öffentlichen Ansprachen von Meloni und Salvini (seit 2022 Vizepräsident des Ministerrats) werden die Etiketten unverhohlen verteilt. Auf der einen Seite „wir“ Christ*innen, die Nachkommen des glorreichen römischen Reiches, die Hüter*innen der wahren Werte der „natürlichen Familie“, bereit, „gegen die Islamisierung Europas zu kämpfen“, auf der anderen „die“ Migrant*innen, Muslim*innen, LGBT.
Die Assoziationen, die führende italienische Politiker*innen im kollektiven Bewusstsein wecken wollen, sind absurd. Noch vor ein paar Jahren trauerte die Welt um den zweijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi,2 der mit seiner kurdischen Mutter und seinem Bruder auf der Suche nach Rettung inmitten der europäischen Flüchtlingskrise im Mittelmeer ertrank. Waren er und die anderen 12.000 Asylsuchenden,3 die auf tragische Weise ihr Leben verloren, wirklich „eine Bedrohung für Christen weltweit“? Wie kann es sein, dass Menschen – im 21. Jahrhundert, nur 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus – erneut nach ihrem Glauben oder ihrer Nationalität beurteilt werden? Haben wir das nicht längst durchdiskutiert – und den zu hohen Preis für die Lektion in Sachen Menschlichkeit bezahlt, die jetzt wieder vergessen zu sein scheint?
Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen bin ich nach Triest gereist, um mir die Gedenkkultur und -praxis der Geburtsstätte des Faschismus anzuschauen – des Regimes, das letztlich den Tod von mindestens 382.000 Äthiopier*innen, über 80.000 Libyer*innen, 28.000 Albaner*innen, 11.000 Griech*innen, etwa 10.000 Juden und Jüdinnen, 6.400 Slowen*innen und Angehörigen anderer Volksgruppen in Istrien verursacht hat. Die genaue Zahl der Opfer ist jedoch schwer zu beziffern: Viele weitere Menschen starben an den indirekten Folgen der Militäraktionen zur Befriedigung der territorialen Interessen Mussolinis. Allein in Griechenland löste die italienische Besatzung eine Hungersnot aus, der schließlich 300.000 Zivilist*innen zum Opfer fielen.4
Dass ich mich für Triest entschied, lag an den Informationen zur Risiera San Sabba – einem Ort, der meist im Zusammenhang mit faschistischen Konzentrationslagern in Italien erwähnt wird. Eine ehemalige Reismühle in der Hauptstadt der Region Friaul-Julisch Venetien wurde während des Zweiten Weltkriegs zum Konzentrations- und Transitlager für die Inhaftierung und Hinrichtung politischer Gefangener sowie zahlreicher Juden und Jüdinnen. Hier kamen 3.000 bis 5.000 Gefangene zu Tode. 1975 wurde San Sabba zu einer Gedenkstätte mit einem kleinen Museum.
Als ich das düstere rote Backsteingebäude erreiche, das im starken Kontrast zur hellen Augustsonne steht, fällt mir sogleich seine Lage auf. Im Gegensatz zu Dachau in Deutschland oder Mauthausen in Österreich ist San Sabba mit öffentlichen Verkehrsmitteln leicht zu erreichen – direkt vom lebhaften Stadtzentrum aus, das heutzutage von ausländischen Tourist*innen bevölkert wird, die hier flanieren und Aperol-Cocktails oder Pizza bestellen. Das berüchtigtste Konzentrationslager Italiens befand sich auch damals genau im Zentrum der Stadt – und der Rauch aus dem Schornstein seines Krematoriums war wahrscheinlich schon von Weitem sichtbar. Diese Nähe macht nachdenklich. Wussten die Italiener*innen von den Morden und Folterungen, die in nur 30 Fahrminuten Entfernung von ihrem Alltag stattfanden?
Eine Antwort darauf findet sich in der bescheidenen Museumsausstellung: Im Vorführraum zeigt ein Video einen historischen Moment: Am 18. September 1938 kündigte Mussolini in einer Rede5 an die Bewohner*innen Triests auf der Piazza Unità d’Italia das Inkrafttreten judenfeindlicher „Rassengesetze“ an und berief sich dabei auf die Notwendigkeit eines „klaren, strengen Rassenbewusstseins, das nicht nur Unterschiede festlegt, sondern auch legitime Überlegenheiten“. Jüdinnen und Juden als „unversöhnliche Feinde“ des Faschismus bezeichnend, ordnete der Duce die Einführung von Maßnahmen an, die die jüdische Bevölkerung zu einer Vielzahl diskriminierender Praktiken verurteilen und später Tausende das Leben kosten sollten.
Das Video zeigt ein Panorama der 12.000 Quadratmeter großen, dicht mit einer fröhlich applaudierenden Menschenmenge bevölkerten Piazza. Sie wussten mit Sicherheit Bescheid. Sie hatten Mussolini gewählt. So, wie 2022 Giorgia Meloni und ihre Partei gewählt wurden. Der Audioguide, den ich erwerbe, um mich in der Risiera zurechtzufinden, ist größtenteils dem Lob der zeitgenössischen Bildhauer*innen und Architekt*innen gewidmet, die für die Gestaltung der Gedenkstätte verantwortlich waren – ein großer Saal, in dem einst Gefangene festgehalten wurden, ist jetzt Habitat für lärmige Tauben und Fledermäuse. Ich würde lieber darauf verzichten, Vergleiche für den jämmerlichen Zustand dieses historischen Monuments von weltweiter Bedeutung anzuführen. Ich sehe hier nichts als Vernachlässigung und Amnesie.
„Erinnerung ist sinnvoll, wenn sie die Gegenwart und uns selbst hinterfragt, unsere Haltung angesichts von Ungerechtigkeiten“, folgert Maria Teresa Sega, die sich in ihrem Buch Il Banco Vuoto (Die leere Bank) mit jüdischen Schulen nach der Einführung der italienischen Rassengesetze 1938 bis 1943 auseinandersetzt. Im Bewusstsein der Notwendigkeit, die Erinnerung sowohl an ruhmreiche Taten wie auch an die Fehler der Vorfahr*innen zu pflegen, erinnert Sega an die Worte eines anderen prominenten italienischen Schriftstellers, des jüdischen Holocaust-Überlebenden Primo Levi: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Es kann geschehen, und es kann überall geschehen.“
Vor diesem Hintergrund erscheint der Aufstieg des Faschismus in Italien sogar logisch – fast ein ganzes Jahrhundert des Schweigens trägt nun traurige Früchte und entwickelt sich zu etwas, das Jason Stanley vorsichtig als „gefährliche Situation“ bezeichnet: etwas, dessen man sich schämen sollte, anstatt darauf stolz zu sein. Meloni behauptet, ihre Partei würde „europäische Sicherheit garantieren“, aber Europa braucht keine Sicherheit vor Migrant*innen oder Schwulen. Intoleranz, Aggression und Hass gegenüber dem „Anderssein“ – vage von denen definiert, die an der Macht sind – führen uns zurück in eine beängstigende Vergangenheit, von der wir so sehr hofften, wir hätten sie hinter uns gelassen.
In ihrer kürzlich erschienen Biografie Mein Großvater hätte mich erschossen erzählt Jennifer Teege, die Enkelin des NS-Kommandanten Amon Göth, in bitterem Ton, wie sie auf die Geschichte ihrer Großmutter stieß, einer Frau, die das sadistische Monster, das für die Tode Hunderter Gefangener im Konzentrationslager Płaszów verantwortlich war, leidenschaftlich geliebt hatte. Wie konnte sie sein krankes Wesen so ignorieren? „Sie hat die Opfer nie richtig gesehen“, schlussfolgert Teege. „Sie ist mit geschlossenen Augen durchs Leben gegangen.“6
Wie konnte es geschehen, dass die Italiener*innen, die 2022 Meloni und 2008, 2001 und 1994 Berlusconi wählten, ihre Lektion nicht gelernt haben? Was hinderte sie daran, ihre Augen für die historische Realität der faschistischen Vergangenheit zu öffnen, die die Partei Fratelli d’Italia mit ihrer Rhetorik vom ruhmreichen kulturellen Vermächtnis und vom Nationalstolz des Landes zu verschleiern versucht? Eine Erklärung liegt in der Bedeutung von Erinnerungskultur, in dem Versäumnis, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeitig dafür gesorgt zu haben, dass eine Auseinandersetzung mit dem Tod unschuldiger Menschen stattfindet, die Verantwortung dafür übernommen wird und die Schuldigen bestraft werden. Wir wissen von einer ganzen Reihe faschistischer italienischer Krimineller, die der Justiz aus unterschiedlichen Gründen entgehen konnten. Einige haben es sogar geschafft, bis in die jüngste Zeit hinein und ohne jegliche Scham eine glänzende Karriere in einem öffentlichen Amt hinzulegen.
Erinnern wir uns beispielsweise an den Fall Rodolfo Graziani – einen italienischen General, der für die Durchführung von Massenvernichtungen durch Giftgas und Chemiewaffen in der Zeit der italienischen Besatzung Afrikas als Kolonialmacht Berühmtheit erlangte. Obwohl Graziani auf der Liste der italienischen Kriegsverbrecher*innen stand und zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde, verbrachte er nur vier Monate im Gefängnis. 1953 wurde der „Schlächter von Fezzan“, wie ihn die arabische Welt wegen seines brutalen Vorgehens in Libyen nannten, zum Ehrenpräsidenten der neofaschistischen italienischen Partei Movimento Sociale Italiano ernannt. 2012 wurde an Grazianis Grab ein großes Monument mit den Inschriften „Vaterland“ und „Ehre“ sowie ein Gedenkpark errichtet – ein Projekt, das Italiens Staatskasse 127.000 Euro gekostet haben soll.7
Graziani ist nur einer von zahlreichen italienischen Kriegsverbrecher*innen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs straffrei ausgingen. Mario Roatta, verantwortlich für die Unterdrückung des antifaschistischen Widerstands im besetzten Jugoslawien, die ethnische Säuberung der von Slowen*innen bewohnten Regionen und die Deportation von 25.000 Personen in verschiedene italienische Konzentrationslager, lebte unter Francos Schutz in Spanien, bevor seine lebenslange Haftstrafe 1948 vom italienischen Kassationsgerichtshof aufgehoben wurde. Nach seiner Rückkehr lebte er bis zu seinem Tod unbehelligt in Rom und schrieb Bücher über Faschismus. Renzo Montagna, ein faschistischer General und Polizeichef, verbrachte keinen einzigen Tag im Gefängnis und wurde 1947 begnadigt. So konnte er aus dem Exil zurückkehren und 1978 friedlich in Italien sterben. Eine weitere wichtige Persönlichkeit, die begnadigt wurde, war Renato Ricci – Mussolinis Generalkommandant und Unternehmensminister. Er wurde 1954 Vizepräsident der Vereinigung der ehemaligen Kämpfer für die Italienische Sozialrepublik (ein von NS-Deutschland und Mussolini geführter Marionettenstaat, der von 1943 bis 1945 in Nord- und Teilen von Mittelitalien bestand).
„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“, lautet ein Satz, der dem griechischen Tragödiendichter Aischylos zugeschrieben wird – eine im Hinblick auf die falschen Erinnerungen an Italiens faschistische Vergangenheit nur zu aktuelle, traurige Schlussfolgerung. Europa wurde 1945 vom Faschismus befreit, doch scheint es, als sei der Krieg gegen diese Ideologie noch immer nicht vorbei. Er hat lediglich den Schauplatz gewechselt – hin zu dem des kollektiven Gedächtnisses. Monster werden als Intellektuelle gepriesen und durch Auszeichnungen geehrt, Opfer hingegen bleiben unbetrauert,8 und die historische Gerechtigkeit wird pervertiert. Während der von Meloni geleitete Ministerrat einen Anfang 2023 vorgelegten Gesetzesentwurf wieder zurücknahm, mit dem der 20-jährige Rückstand im Völkerrecht aufgeholt werden sollte, nennen Medien weltweit die kulturelle Amnesie Italiens ein „historisches Paradoxon“: „Es ist ein historisches Paradoxon für das Land, in dem das Rom-Statut, Vertragsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, unterzeichnet wurde: Italien hat noch immer keine völkerrechtlichen Verbrechen in sein Strafgesetzbuch aufgenommen und kann noch immer kein universelles Recht sprechen. Und eine Verbesserung scheint nicht in Sicht.“9
Während sie über die faschistischen Verbrechen kein Wort verlieren, scheuen sich Meloni und ihre politischen Verbündeten jedoch nicht, die Worte „Genozid“ und „Holocaust“ in einem anderen Kontext zu verwenden. „Qui nella primavera del 1945 fu consumato un orrendo olocausto“ (Hier fand im Frühjahr 1945 ein entsetzlicher Holocaust statt), lautet die Inschrift auf einem Gedenkstein, der 2004 an der historischen Gedenkstätte Foiba di Basovizza errichtet wurde – ein weiterer Schauplatz aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs im Umkreis von Triest, den zu besuchen mir von Einheimischen nachdrücklich empfohlen wurde. Bei dem „entsetzlichen Holocaust“ handelt es sich um ein Massaker, das hier während der kurzen jugoslawischen Besatzung der Gegend stattfand – ein sensibles und noch unzureichend untersuchtes Thema. Nirgendwo an diesem gepflegten, frisch gestrichenen Denkmal wird erwähnt, dass die meisten Opfer der faschistischen politischen Allianz angehörten und nicht unbedingt italienische Staatsangehörige waren – militärische und politische Faktoren, die der ausgeübten Gewalt zugrunde liegen, werden „bequem“ übersehen.
In dem Versuch, ein Gegennarrativ zu schaffen und Faschist*innen als Opfer von Kommunist*innen darzustellen, instrumentalisieren rechte Parteien die Erinnerung an eine umstrittene Episode der Geschichte, um ihre eigene Agenda voranzubringen: die der nationalen Identität und des Patriotismus. Das klingt natürlich besser als die „unbequemen“ Wahrheiten von faktischen Genoziden, ethnischen Säuberungen und Massenmorden, die vom eigenen faschistischen Regime begangen wurden.
Dabei hat Mussolini seine Absicht, Hitlers Beispiel zu folgen und Italien zur „reinen weißen Nation“ zu machen, nie verhehlt. In seiner Rede im Februar 1922 in Pula sagte er ganz offen: „Im Umgang mit einer solchen Rasse wie der – unterlegenen und barbarischen – slawischen dürfen wir nicht zur Politik der Karotte, sondern müssen zum Stock greifen … Wir sollten keine Angst vor neuen Opfern haben … Die italienische Grenze sollte über den Brenner-Pass, den Monte Nevoso und das Dinarische Gebirge verlaufen … Ich würde sagen, wir können problemlos 500.000 barbarische Slaven für 50.000 Italiener opfern …“ Diese und weitere Reden des italienischen Führers sind offen zugänglich, ebenso wie verschiedene visuelle Dokumentationen der begangenen Verbrechen. Warum werden die Begriffe „Genozid“ und „Erinnerung“ von Meloni und ihren Verbündeten nicht dort verwendet, wo sie moralisch hingehören? Warum erleben wir statt Gerechtigkeit angesichts dieser Tragödien noch immer eine „Verschwörung des Schweigens“, wie der italienische Gelehrte Eric Gobetti, Autor des Buches E’ allora le foibe? (Und was ist mit dem Foibe-Massaker?), die derzeitige populäre Herangehensweise beschreibt.10
Der „Gedenktag“, der 2004 von Melonis Vorgänger Silvio Berlusconi eingeführt wurde, ehrt die „italienischen Exilanten und die Opfer des Foibe-Massakers“, gleichzeitig wird jedoch kein Wort über die Zigtausenden getöteten Äthiopier*innen, Libyer*innen, Albaner*innen, Griech*innen, Juden und Jüdinnen, Slowen*innen und Kroat*innen verloren. Im Kampf um die kollektive Erinnerung konstruieren die Neofaschist*innen anhand ihrer eigenen Wahrheiten ein demagogisches Alibi und verwandeln die beschämende Vergangenheit in ein Fake-Argument.
Wenn sich die „verbrecherische Vergangenheit“ nicht wiederholen soll, „sollte in der Gesellschaft zunächst ein Konsens darüber hergestellt werden“, sagt der Gedächtnisforscher Nikolai Epplée.11 Dieser Schritt erfordert jedoch eine gewaltige moralische, intellektuelle und emotionale Anstrengung. Noch dazu ist eine derart geeinte Gesellschaft stets schwieriger zu handhaben. Im Hinblick auf die Methode zur Aufarbeitung der traumatischen Vergangenheit betont der Wissenschaftler die zentrale Rolle der Akzeptanz – nicht in dem Sinne, dass die Vergangenheit gerechtfertigt oder an ihr festgehalten wird, sondern als „Bereitschaft, allen schwer anzunehmenden Tatsachen und Umständen ins Auge zu schauen“.
„Das Gegenteil von Akzeptanz der Vergangenheit ist nicht ihre Verurteilung, sondern ihre Abwehr. Sie verdammt die Einzelnen und die Gesellschaft zu einer Existenz, die, wie Jan Tomasz Gross es ausdrückt, ‚von Angst vor Entdeckung durchsetzt‘ ist. Die Abwehr kann in der Praxis verschiedene Formen annehmen – vom Beschönigen, also der Nichtanerkennung oder Rechtfertigung der Verbrechen, bis zur unkritischen und pauschalen Dämonisierung. Beides sind Spielarten einer ideologischen Geschichtsauffassung. Die tatsächliche Aufarbeitung zielt hingegen darauf, von Ideologisierung möglichst ganz abzusehen und sich um eine sachliche und konkrete Sicht auf die Ereignisse der Vergangenheit zu bemühen. Beide Formen der Vergangenheitsabwehr, Beschönigung und Dämonisierung, laufen letztlich auf die Weigerung hinaus, die eigentliche Arbeit des Übernehmens von Verantwortung zu leisten“, schreibt Epplée in seinem bahnbrechenden Buch Die unbequeme Vergangenheit zur Soziologie und Psychologie des kollektiven Gedächtnisses.12
„Verantwortung“ ist ein schweres Wort, das viele heutzutage nur ungern verwenden. Die Strategie, „eine neue Seite aufzuschlagen“, erscheint mir beliebter – und populistischer. Ein Leben zu leben, wie es Jennifer Teeges Großmutter, die Frau des NS-Kommandanten, tat, ohne Verantwortung zu übernehmen – „mit geschlossenen Augen“ –, ist ein Leben, das ich als gestohlen, sinnlos, leer bezeichnen würde. Ein Leben, das sich als der Erinnerung unfähig erweist, wird auch nicht erinnert werden. Ein Land, das sich für die Amnesie entscheidet, wird nichts hinterlassen, auf das es stolz sein könnte.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/How_Fascism_Works
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Death_of_Alan_Kurdi
[3] Vgl. https://www.statista.com/statistics/1082077/deaths-of-migrants-in-the-mediterranean-sea/
[4] Vgl. Shelley Baranowski, Nazi Empire. German Colonialism and Imperialism from Bismarck to Hitler. Cambridge University Press 2011.
[5] https://www.youtube.com/watch?v=IsoQdrnKDK4&ab_channel=ArchivioLuceCinecitt%C3%A0
[6] Jennifer Teege, Mein Großvater hätte mich erschießen lassen. Reinbek bei Hamburg 2014, S. 124.
[7] https://www.bbc.com/news/world-europe-19267099
[8] https://newafricanmagazine.com/20904/
[9] https://www.justiceinfo.net/en/115500-italy-sticks-20-year-gap-international-crimes.html
[10] https://jacobin.com/2021/04/italy-memorial-day-exiles-foibe-fascism-partisan-yugoslav-resistance
[11] Vgl. Nikolai Epplée, Die unbequeme Vergangenheit. Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo. Frankfurt am Main 2023.
[12] Ebd.