Heft 4/2023 - Imperiale Gewalt


Gewalt und mineralische Solidarität

Gespräch mit Denise Ferreira da Silva und Arjuna Neuman über ihren Film Ancestral Clouds Ancestral Claims

Christian Höller


2016 haben sich die Philosophin Denise Ferreira da Silva und der Filmemacher Arjuna Neuman zusammengetan, um fortan „elementares Kino“ zu machen. Seither befasst sich die von ihnen sogenannte Filmreihe mit den klassischen Elementen Wasser, Feuer, Luft etc., um einen grundlegenden Perspektivenwechsel zu veranschaulichen: weg von subjektzentrierten, „humanen“ Sichtweisen, hin zu einem politisch-ethischen Sensorium, das auf der Untertrennbarkeit alles Materielle und „Elementaren“ aufbaut. Darin sind Ferreira da Silvas bisherige Auseinandersetzungen mit Rassismus und unbezahlbarer Schuld1 ebenso kongenial aufgehoben wie visuelle Ansätze materieller bzw. „mineralischer“ Verwicklungen. Im Gespräch erläutern sie dies am Beispiel ihres neuesten Films, der anhand des Elements Luft/Wind/Wolken ein kritisches Vokabularium in Sachen imperialer Gewalt ausbreitet.

Christian Höller: Der Film Ancestral Clouds Ancestral Claims (2023) zielt auf eine Art doppelte Artikulation ab: Zunächst geht es um die Untersuchung eines der klassischen griechischen Elemente, nämlich Luft, anhand von Manifestationen wie Wind oder Wolken. Auf einer zweiten Ebene sehen wir eine Politisierung dieses physikalischen Elements, indem auf bestimmte historische Ansprüche verwiesen wird – „anzestrale Forderungen“, die auf Basis dieser elementaren Ebene erhoben werden. Können Sie erläutern, warum die Politik von einer so grundlegenden Ebene ausgehen soll?

Denise Ferreira da Silva: Es geht hier nicht so sehr um eine doppelte Artikulation als um eine Art Ineinssetzung – von „Ansprüchen“ und „Wolken“. Wir schlagen vor, die Forderungen derjenigen, die kolonialer und rassistischer Gewalt ausgesetzt waren, als Forderungen zu betrachten, die nicht kompatibel mit dem ist, was uns die Geschichte üblicherweise vermittelt. Anstatt historisch lesen wir diese Ansprüche als zeitlos – zeitlos wie die Elemente, sowohl die klassisch-griechischen als auch Elementarteilchen, die kosmisch und quantenhaft sind und jenseits der Grenzen der Zeit liegen.

Arjuna Neuman: Man kann es auch so ausdrücken, dass die Politik in ihrer menschlich-kulturellen Form die längste Zeit von der Umwelt abgekoppelt war. Wir versuchen von einer Position auszugehen, von der aus diese grundsätzliche Trennung nicht als selbstverständlich angesehen wird.

Höller: Der Film hat mehrere erzählerische bzw. dokumentarische Ebenen. Eine davon ist eine literarische Geschichte, die von Figuren namens „Common Winds“, „Omer“ und anderen erzählt wird – ein mündlicher Reisebericht, der verschiedene Geografien und Landschaften durchläuft, von der Sahara bis zur Atacama-Wüste. Dazu gibt es eine umfangreiche visuelle Kartierung verschiedener Abschnitte der Atacama-Wüste. Was hat Sie dazu bewogen, diese beiden Ebenen zu kombinieren – die Dokumentation eines ganz besonderen Ortes und eine Geschichte, die sich über verschiedene Kontinente und Kulturen erstreckt?

Neuman: Wir haben Luft bzw. Wind als zentrales Element für diesen Film hergenommen, und eine unserer Hauptfragen lautete: Was transportiert der Wind? Was ist in einer Wolke enthalten? Dazu gehören Staub, Verschmutzung, Mikrobiologie und Bakterien, aber auch Poesie, Ideen oder Fragmente von Geschichten, und wir haben darüber nachgedacht, wie diese Art von Wissen den Pazifik hinauf und hinunter reist, von Chile bis Vancouver und darüber hinaus. Der Film konzentriert sich hauptsächlich auf Chile, aber wir haben uns vorzustellen versucht, wie Sätze, Gedichte oder Fragmente, die man im Vorbeigehen hört, vom Wind aufgefangen werden. Dem wollten wir nachgehen, doch nicht in Form einer linearen Erzählung. Es ist eher eine Zusammenstellung von Begegnungen, von denen einige tatsächlich stattgefunden haben und einige semifiktional sind … im Sinne dessen, „was der Wind trägt“.

Ferreira da Silva: Der Film ist eine Komposition, die es uns erlaubt, jene prinzipielle Untrennbarkeit hervorzuheben, die für die Machart unserer Filme durch bzw. mit den Elementen charakteristisch ist. „Common Winds“ sind die Winde über dem Pazifik, aber auch die Winde über dem Atlantik: Irgendwann landet der Staub aus der Sahara, der durch das Amazonas-Gebiet zieht, in den Anden. Um das zu verdeutlichen, wählen wir unterschiedliche Formen des Erzählens: Wir beginnen an einem bestimmten Ort und verwenden alles Weitere wie eine Art Nebel oder Sandsturm, der sich auf andere Orte zubewegt.

Höller: Der Film zeigt nicht nur das, was in den letzten Jahren im Hinblick auf die Atacama-Wüste bekannt geworden ist, nämlich die aggressiven Verfahren der Lithium- oder Kupfergewinnung, das massive „Terraforming“, das dort stattfindet. Vielmehr wird auch auf andere, nicht so gut dokumentierte Schichten hingewiesen, nämlich die riesigen Teleskope zur Weltraumbeobachtung, die dort stationiert sind, oder dass viele Opfer des Pinochet-Regimes dort begraben sind. Wir sehen Bilder von riesigen Friedhöfen, von unmarkierten Gräbern und andere Motive, die als menschliche Überreste gedeutet werden könnten. Wie sind diese verschiedenen Geschichten – die extraktivistische, die astrophysikalische und die politische/diktatorische – miteinander verknüpft? Oder sind sie nur zufällig in demselben Gebiet kopräsent?

Ferreira da Silva: Was man in all unseren Filmen sieht, ist genau diese konstitutive Verbindung zwischen Extraktivismus und politischer Gewalt – politische Gewalt, die sehr allgemein und global betrachtet werden kann, angefangen von der kolonialen Eroberung über totalitäre Regime, Diktaturen und Faschismus bis hin zu Polizeibrutalität und so fort. Die Atacama-Wüste und auch ALMA2 stehen für die konsequente Abhängigkeit bzw. Ausrichtung des Kapitals auf den Bergbau, nicht nur was die Ressourcen im Boden betrifft, sondern auch das, was draußen im Kosmos existiert. Das verweist auch auf die Korrespondenz des Elements Luft mit Wissen, mit Technologie bzw. der Art und Weise, wie verschiedene Arten von Räumen beschrieben werden können.

Neuman: In einem früheren Film haben wir uns mit einem Quarzkristall beschäftigt, der zu den frühesten Objekten gehört, die gesammelt und angehäuft wurden. Er ist zudem eines der wenigen Objekte in der Natur, die eine geradlinige Symmetrie aufweisen, woraus sich zweierlei ableiten lässt: der Beginn der Akkumulation und die Anfänge des geometrisch-rationalen Denkens (und damit verbunden die vielen optischen Metaphern als definierendes Merkmal des Wissens). Dies war unser Ausgangspunkt: ALMA als die eine Seite eines Kristalls zu betrachten und die Ressourcengewinnung als die andere.
In dem großen Loch, das der Film zeigt, wurde übrigens ein unmarkiertes Grab gefunden. Es gibt viele Gräber, die noch gar nicht gefunden wurden, und viele Angehörige von Opfern des Pinochet-Regimes sind immer noch auf der Suche. Das Grab, das wir zeigen, liegt in der Nähe des Pazifiks, wo während des Pinochet-Regimes Leichen abgeladen wurden. Dieses spezielle Grab ist zugänglich, es gibt dort eine Gedenkstätte mit den Namen aller Verstorbenen. Unmarkierte Gräber sind ein wiederkehrendes Thema in unseren Filmen: von versunkenen Sklavenschiffen wie in unserem ersten Film Serpent Rain (2016) bis hin zu Soot Breath – Corpus Infinitum (2020), worin wir ein unmarkiertes Grab aus dem Völkermord in Indonesien zeigen.

Höller: Luftaufnahmen mit Drohnen waren notwendig, um diese riesigen Gebiete abzubilden?

Neuman: Ich denke, wenn man einen Film über Wind macht, ist es sinnvoll, die Perspektive des Windes einzunehmen. Aber auch, um die Weite der Lithiumminen zu sehen, braucht man diesen Blickwinkel. Wenn man am Boden ist, sieht man nur riesige Salzhaufen. Man bekommt zwar ein Gefühl für die Ausmaße, aber man kann sie nicht wirklich erkennen, solange man das Ganze nicht aus 300 Metern Höhe überblickt.

Höller: Um auf das Thema Gewalt zurückzukommen: Glauben Sie, dass die verschiedenen Gewaltszenarien, die der Film aufzeigt – Extraktivismus, politische Unterdrückung und Vernichtung von Regimegegner*innen, die weitverbreitete Gewalt gegen Migrant*innen –, alle auf dieselbe Denkweise rückführbar sind? Oder haben wir es hier mit unterschiedlichen Existenzbereichen zu tun?

Ferreira da Silva: Der Film ermöglicht es uns, die Art von Visualität zu erkunden, die für diese Denkweise zentral ist. Die raffinierteste Formulierung, die ich dafür habe, lautet: „Annahmen über die Trennbarkeit durcheinanderbringen“ – dasjenige, was für die Art von Wissen notwendig war, die ich zuvor erwähnt habe: Symmetrie, Unterscheidbarkeit usw. Der Film kann das, weil Bilder nicht nur unser Wissen und Denken ansprechen, sondern uns auch auf eine bestimmte Weise fühlen lassen. Durch dieses Moment des „Denkens/Fühlens“ lässt sich das traditionelle Konzept des Ästhetischen, das stark auf Sensibilität beruht, verschieben bzw. über den Haufen werfen.

Neuman: Ich denke, dass hier nicht nur eine Denkweise oder Ideologie im Spiel ist. Das Beispiel des Kristalls ist ein möglicher Weg, um dieses Denken zu umreißen, aber es ist nicht der einzige. Die Art und Weise, wie der Kapitalismus in verschiedenen Teilen der Welt Gewalt ausübt, lässt sich nicht auf eine einzige Geisteshaltung reduzieren. Wir haben es hier mit einem komplexeren Sachverhalt zu tun.

Höller: Es gibt Kapitelüberschriften in dem Film, die in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich sind, nämlich dahingehend, verschiedene Arten von Gewalt unter einem Begriff zu subsumieren. So sticht etwa das Konzept der „Opferzone“ hervor, das auch als Bezeichnung für die Ödnis des „rassifizierten neoliberalen Kapitalozäns“ verstanden werden kann. Geht es hier darum, dem Unbenennbaren einen Namen zu geben?

Neuman: „Opferzone“ ist eigentlich eine offizielle Bezeichnung. Sie wird von der chilenischen Regierung verwendet, um Gebiete zu bezeichnen, die in Ödland verwandelt werden können. Ich glaube, in den meisten Staaten gibt es solche Territorien, entweder innerhalb des Landes oder in ehemaligen Kolonien, die dafür vorgesehen sind, völlig ausgelaugt zu werden.

Ferreira da Silva: Ich weiß nicht, ob es hier wirklich um Benennung geht, denn diese impliziert immer ein Gefühl der Begrenzung, und genau das versuchen wir zu vermeiden. Die Titel, die wir verwenden, ermöglichen es uns, dasjenige hervorzuheben, was an vielen verschiedenen Orten vorhanden ist, ansonsten aber nicht wahrgenommen wird – es sei denn, wir kommen mit ganz bestimmten Beschreibungen daher. Sie benennen keine konkreten Orte, sondern sind allgemeiner gehalten.

Höller: Was ich nicht ganz nachvollziehen konnte, ist die Idee bzw. Kapitelüberschrift der „unsterblichen Anhäufung“ (immortal accumulation), mit dem Untertitel „was die Geier sehen“. Die Bilder, die damit einhergehen, zeigen Ruinen, riesige Wasserleitungen, Geysire usw., während wir auf dem Soundtrack Geschichten über Telefondrähte aus Kupfer und indigene Mythen über Flamingofedern hören. Worauf zielt „immortal accumulation“ genau ab?

Neuman: Es gibt eine Passage in dem Film, in der wir über den Bergbau sprechen und wo es heißt: „Kupfer ist für Schaltkreise, Salz ist für vereiste Straßen“ etc. – und am Ende dann: „Die Seele ist für die Nachwelt.“ Dies ist eine Replik auf den berühmten Ausspruch von Margaret Thatcher, der lautete: „Die Wirtschaft ist nur die Methode, das Ziel ist es, die Seele zu verändern.“ Die Verbindung zwischen dem neoliberalen Kapitalismus und der Produktion von Subjektivität ist jene Sphäre, in der eine mehrfache Akkumulation möglich wird, bis hin zu dem Punkt, wo wir erkennen, dass wir dermaßen erschöpft sind, weil uns ständig etwas entzogen (extrahiert) wird. Sobald die Seele selbst zum Bergwerk wird, befinden wir uns in ernsthaften Schwierigkeiten.

Höller: Ein Gegenkonzept zum „rassifizierten neoliberalen Kapitalozän“ könnte die Idee der „mineralischen Solidarität“ (mineral solidarity) sein, so der Titel des abschließenden Filmkapitels. Dieser Begriff scheint nicht so sehr auf das irdische Territorium bezogen zu sein, sondern mehr auf den „Halt des Windes“ – das, was die Wolken und der Wind tragen, ein „migrantisches Ökosystem“, wie die Stimme im Film erklärt. Was genau ist es, das die Wolken tragen, jenseits von möglicher Verwüstung oder dem Inbegriff der Klimakatastrophe?

Neuman: Wir haben hier zwei Formulierungen, die auf dasselbe hinauslaufen. Wenn man an die Atomwolke als Prototyp der Klimakatastrophe denkt, dann ist dies etwas, wovor man sich sehr fürchten muss. Gleichzeitig ist die Wolke derjenige Ort, an dem unsere Sinne am meisten verschwimmen, weil wir sie nicht wirklich sehen, nur schmecken oder auf der Haut spüren können. Wir haben hier eine sinnliche Erfahrung der Ununterscheidbarkeit, und ich denke, das könnte eine mögliche Bedeutung von Solidarität sein – eine sinnliche Solidarität, sowohl innerhalb von uns selbst als auch über die Menschen hinaus. Die andere Idee ist die von toten Sklav*innen, Marxist*innen oder Dissident*innen, deren materielle Reste in die Wolke aufsteigen und dort auf kosmischen Staub, Sternenstaub, Plastik, Mikroplastik, Bakterien usw. treffen. Die Wolke bildet eine Art wirbelndes, wanderndes Ökosystem, das ein anderes Modell der Solidarität impliziert – angelehnt an traditionelle Vorstellungen, aber aus einer erweiterten planetarischen bzw. interplanetarischen Perspektive gedacht.

Ferreira da Silva: Auf der einen Seite haben wir die „mineralische Solidarität“, die eine andere Art von politischer Positionierung impliziert – eine, die sich weder auf Hierarchien noch auf Erlösung oder Errettung bezieht. Sie beruft sich auch nicht auf moralische Unterscheidungen, die jede Art von kollektiver/kollaborativer Arbeit global unmöglich machen. Auf der anderen Seite gibt es einen Deskriptor für unsere Existenz, den wir „elementare Sozialität“ nennen können und der die gleiche Art von Verbindung signalisiert. Die „mineralische Solidarität“ wäre also die ethisch-politische Grundlage, während die „elementare Sozialität“ die onto-existenzielle Beschreibung dieses Bildes ist, über das wir hier spekulieren, inspiriert von der Luft. Die beiden ergeben zusammen die vollständige Beschreibung einer elementar angelegten politischen Position.

Höller: Ganz am Ende des Filmes sehen wir nicht nur Wolken aus winzigen, mineralischen Partikeln, die bestimmte Cluster und Formen bilden, sondern auch die schemenhaften Gestalten von Schwarzen auf einem Sklavenschiff, das den Ozean überquert. In gewisser Weise knüpft dies an Serpent Rain an, worin Bilder eines norwegischen Sklavenschiffs auftauchen. Welche „anzestralen Ansprüche“ halten Sie in diesem Zusammenhang für legitim, sofern man die Geschichte und die anhaltenden Folgen der Sklaverei bedenkt? Geht es um bloße Anerkennung, um materielle Wiedergutmachung oder um eine radikalere Umwälzung des bestehenden (westlichen, zumeist noch liberalen) Systems?

Ferreira da Silva: Das ist genau die Arbeit, die geleistet werden muss, und sie erfordert eine radikale Neuausrichtung unserer gesamten Vorstellungskraft und damit auch unserer Sensibilität und unseres Denkens. Der „Anspruch“ sollte nicht als ein anthropologischer, biologischer, historischer oder universeller verstanden werden, sondern als ein elementarer, das heißt als Anspruch, der die Untrennbarkeit von allem voraussetzt, nicht nur von dem, was menschlich ist, sondern auch von allem Nicht-Menschlichen. Die Forderungen, die unter heutigen Bedingungen erhoben werden, können leicht als irreführend verstanden werden: Wenn zum Beispiel in den USA Reparationsforderungen im Hinblick auf die Sklaverei gestellt werden, lautet die Antwort in der Regel: „Warum sollten wir euch etwas zurückzahlen? Wir haben niemanden versklavt.“ Oder wenn Forderungen nach der Anerkennung von indigenem Land erhoben werden, heißt es schnell: „Warum sollte das Land euch gehören? Ihr habt es ja nicht kultiviert.“ Hier haben wir es mit zwei Arten von Unterscheidung zu tun, der biologischen und der historischen. Aber wenn Forderungen nach Wiedergutmachung für die Versklavung oder der Rückgabe von indigenem Land oder auch Gegenständen, die sich heute in europäischen Museen befinden, als anzestrale Ansprüche erkannt werden, dann muss auch die Untrennbarkeit zwischen denen, die diese Ansprüche erheben, und den Dingen, die hier und jetzt, da draußen, existieren, anerkannt werden. Und zwar nicht nur der materiellen Dinge, sondern allem, was durch Extraktion, ursprüngliche Vertreibung und Enteignung möglich geworden ist. Es handelt sich hier also um eine Forderung nach der Wiederherstellung von allem – ein Mandat, das sowohl eine absolute Notwendigkeit als auch eine absolute Unmöglichkeit darstellt. Sobald dieser inhärente Widerspruch, der jeden Versuch, dieses Mandat zu erfüllen, als unzureichend und mangelhaft erscheinen lässt, zur Grundlage von Handlungen und Entscheidungen im Umgang mit kolonialer und rassistischer Gewalt wird, wird sich auch der Begriff der Gerechtigkeit radikal verändern. Gerechtigkeit wird dann nicht mehr auf der Grundlage eines formalen (transzendentalen oder gar universellen) Prinzips verstanden. Stattdessen würde Gerechtigkeit endlich als materiell angesehen werden, in dem Sinne, dass anerkannt wird, wie alles und jede*r zutiefst involviert ist, sprich untrennbar verbunden auf der Ebene unserer elementaren (quantischen/kosmischen) Zusammensetzung.

Höller: Eine entscheidende Rolle in Bezug auf Ihre filmische Praxis spielt das westliche philosophische Konzept des „Ich bin“ (das auf Descartes bzw. Kants „transzendentale Apperzeption“ des Selbst zurückgeht). Ihrer anhaltenden und substanziellen Kritik zufolge hat dieses Konzept maßgeblich dazu beigetragen, das freie, liberale westliche Selbst von allem abzugrenzen, was es umgibt, und damit auch von Lebensformen oder „Nicht-Leben“, die in der Regel als weniger wertvoll angesehen werden. Glauben Sie, dass alle Formen epistemischer, aber auch rassistischer und imperialistischer Gewalt letztlich auf diese Gründungsidee des vermeintlich „transparenten, sich selbstbestätigenden Ich“ zurückgeführt werden können? Ist sie die Wurzel allen Übels?

Ferreira da Silva: Ich denke, die Wurzel allen Übels ist das, was es dieser Figur ermöglicht hat, unsere Existenz so lange und so effizient zu beherrschen. Aber wir sollten diesen Ausdruck nicht wirklich verwenden, denn das entspricht nicht meiner Denkungsart. Was Sie beschreiben, erklärt natürlich die gewalttätige Dimension unseres Denkens, und worauf dies beruht, ist etwas, das ich Linearität nenne: eine Linearität, die metaphysisch ist (im Sinne von Jacques Derridas Metaphysik der Präsenz). Mit Linearität meine ich die Linie im doppelten Sinne – die Linie, die das Gefühl vermittelt, dass etwas gegenwärtig ist und gegenwärtig bleibt, und die Linie, die den Eindruck schafft, dass etwas von seiner Umgebung bzw. etwas anderem abgetrennt oder unterschieden ist. In gewisser Weise entspricht dies Kants Postulat von Raum und Zeit als reinen Anschauungsformen.

Höller: Anknüpfend an den Begriff der Linearität scheinen Sie der Idee des historischen Fortschritts (oder der unilinearen Zeit) höchst skeptisch gegenüberzustehen. Es ist „alles Anfang“ und zugleich „alles Ende“, wie es im Film heißt, aber Zeit als eine Art Kontinuum zwischen Anfang und Ende gibt es nicht. Wie können wir zu irgendeiner Art von Fortschritt gelangen (zum Beispiel zur Überwindung des Rassismus), wenn diese elementare Bewegung – von etwas Schlimmerem hin zu etwas Besserem – negiert wird?

Neuman: Die Überwindung des Rassismus ist etwas, das bereits existiert. Es gibt keinen Zeitplan dafür. Die Idee des Fortschritts oder die Idee der messianischen Zeit bzw. der Wiederkehr oder Revolution, die sie impliziert, dieses Moment der Transformation – all das hat in gewisser Weise zu einer „unsterblichen Akkumulation“ geführt. Die Seele oder Christus oder die Revolution oder wie immer man es nennen mag, all das ist so etwas wie eine baumelnde Karotte, auf die wir uns immer schneller zuzubewegen scheinen, die aber nie wirklich zutage tritt, oder wenn, dann nur stückweise. Generell halte ich die Idee des Fortschritts als Weg zu etwas Besserem für ziemlich gefährlich ... oder zumindest bislang ineffektiv.

Ferreira da Silva: Auf der aktuellen São Paulo Biennale zeige ich eine Installation mit dem Titel The Metaphysics of the Elements – Fire: The Studio. Sie besteht aus einem Atelier, das zeigt, wie das Ende der Welt überall und immer wieder passiert. Wie Arjuna sagt, gibt es bereits alles, was wir brauchen, um die Gewalt zu stoppen – es ist dies kein Ort, an den man sich erst herantasten muss. Was wir tun müssen, ist, es einfach hier und jetzt zu realisieren – aber anders als bisher: das „Ende der Welt“ an all diesen Orten herbeiführen, in all unseren Gesten, in jeder Entscheidung, die wir treffen.

Höller: Ein wichtiger Gedanke, der in dem Film auftaucht, betrifft das „in aller Deutlichkeit Verborgene“ [something hidden in plain sight]. Die Art von Solidarität über verschiedene Seinsregionen und elementare Bereiche hinweg, auf die Sie abzielen, wird so umrissen – als etwas, das bereits existiert, das wir aber nicht richtig sehen oder zum Wohle der Allgemeinheit realisieren können. Gleichzeitig scheint der Begriff auch auf viele andere, nicht so positive Prozesse zuzutreffen, wie die lange katastrophale Geschichte rassistischer Diskriminierung oder die Klimakatastrophe, die sich ebenfalls „offenkundig im Verborgenen“ abspielt.

Neuman: Wir meinen beides. Ich denke, die nicht gekennzeichneten Gräber sind ein gutes Beispiel dafür, was im Neoliberalismus „offenkundig im Verborgenen liegt“ – von Offshore-Banking über Maquiladoras und Black-Ops bis hin zu verschwundenen Menschen und allen Arten von politischer Gewalt, die unterhalb der Schwelle des Legalen liegt, jedoch oft staatlich sanktioniert ist. Was offenkundig im Verborgenen geschieht, ist hochgradig gewalttätig. Aber gleichzeitig enthält das, was sich im Verborgenen abspielt, auch ein Potenzial der Wiedergutmachung – mineralische Solidarität und elementare Sozialität.

Ferreira da Silva: Das Bild, das wir heute vom politischen Subjekt haben – was als Subjektivität empfunden wird –, ist das eines Kollektivs, das eine bestimmte Identität hat und dessen soziale Bedingungen aus einer bestimmten Geschichte der Unterwerfung resultieren. Die Forderungen einer unterworfenen Gruppe können demzufolge nur aus ihrer soziohistorischen Besonderheit heraus verstanden werden, die auch ihre Identität als eigenständiges Kollektiv begründet. Vor diesem Hintergrund machen Forderungen, die auf der Basis von „mineralischer Solidarität“ oder „elementarer Sozialität“ erhoben werden, offenkundig keinen Sinn, oder? Schließlich gibt es hier keine Trennlinie, keine Identitätslinie, keine (kontinuierliche) Linie der Geschichte oder des (heterogenen) Rasters, das die Gesellschaft darstellt. Unter dem Gesichtspunkt der mineralischen Solidarität verschiebt sich diese soziale und historische Besonderheit, die als natürliche Grundlage der eigentlichen ethisch-politischen Subjektivität angesehen wird, und erfährt eine Dezentrierung. Das „Verborgene“ bezieht sich folglich nicht so sehr auf das, was existiert, sondern auf die Weise, wie wir dem, was existiert und geschieht, einen Sinn geben; wie wir es beschreiben, die Verbindungen, die dadurch möglich werden. Alles ist hier elementar (im Sinne von mineralisch) miteinander verflochten, wir achten nur nicht darauf.

Die Ausstellung Ancestral Clouds Ancestral Claims ist bis 17. März 2024 in der Kunsthalle Wien Karlsplatz zu sehen.

 

 

[1] Vgl. Denise Ferreira da Silva, Toward a Global Idea of Race. University of Minnesota Press 2007 sowie dies., Unpayable Debt. Sternberg Press 2022.
[2] Das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) ist ein internationales Radioteleskop-Observatorium in den nordchilenischen Anden.