Heft 4/2023 - Lektüre



Shintaro Miyazaki:

Digitalität tanzen! Über Computing & Commoning

Bielefeld (transcript Verlag) 2022 , S. 74 , EUR 14

Text: Christoph Chwatal


Die digitalen Infrastrukturen, die unser soziales und politisches Leben strukturieren, sind, so die unstrittige Diagnose von Shintaro Miyazakis Digitalität tanzen!, „Eigentum und Instrument anti-kooperativer, proprietärer, extraktiver, asozialer und profitorientierter Netzwerke“. In seinem kürzlich auch auf Englisch1 erschienenen Buch arbeitet der Medien- und Kulturwissenschaftler Miyazaki zwei Stoßrichtungen aus, wie wir den „Zumutungen“ des Digitalen begegnen können. Diese Machtgefüge kontrastiert Miyazaki im ersten Teil des Buches („Ko-Operativität“) mit einer der Digitalität immanenten Theorie der Kooperation. Darauf aufbauend hält der zweite Teil („Kontra-Tanz“) eine Reihe an Vorschlägen für „alternative Rhythmen“ bereit.
Miyazakis „Algorythmen“ – eine Wortschöpfung von ihm – treten in der Figur des Tanzes auf. Denn die bestehenden Verhältnisse müssen sowohl affektiv als auch diskursiv hinterfragt werden: mittels „simulativ-modellierenden, maschinell-fiktiven, imaginierenden, träumenden und entwerfenden Operativitäten“. Der Clou ist hierbei, das kollektive Tanzen nicht bloß dem „ungeselligen“ Digitalen entgegenzustellen. Vielmehr begreift er das „Komputieren als Kernaktivität des Digitalen“ etymologisch und praxeologisch über dessen inhärenten Gemeinschaftsaspekt. Parallel dazu entwickelt Miyazaki einen „vorausschauend gestalterisch-experimentell[en]“ Tanzbegriff. Die von ihm vorgeschlagenen „Präfigurationsübungen“ leiten kreative, adaptive und befreiende Akte an. Dies lässt etwa an den von dem brasilianischen Pädagogen Paolo Freire inspirierten Regisseur Augusto Boal denken, dessen Theater als Probe – als „rehearsal for the revolution“ – zu verstehen war. Miyazakis Vorschlag kann auch mit Begriffen wie „Preenactment“ und „Training“2 in Verbindung gebracht werden, was die Verschaltung verschiedener diskursiver und institutioneller Felder noch weiter befördern würde.
Ansätze aus Medienwissenschaft, Tanzwissenschaft, politischer Philosophie, Affekttheorie, Black Studies, Neurowissenschaft und Computerpädagogik machen das Buch auch methodisch-theoretisch zu einer wertvollen Ressource. Neben dem Tanz ist der Begriff der „kommOnistischen Kooperativität“ als „sozio-mediale Praktik“ Dreh- und Angelpunkt des Buches. Den Begriff „Kommonismus“ entlehnt er von Stefan Meretz und Simon Sutterlütti bzw. der Open-Source-Bewegung des frühen Millenniums. Ein Beispiel dafür bietet „Oekonux“, ein im Zuge der Wizards-of-OS-Konferenz 1999 in Berlin entstandenes Projekt zu den ökonomisch-politischen Potenzialen freier Software, an dem auch der Informatiker Meretz, der später zusammen mit dem Soziologen Sutterlütti Kapitalismus aufheben (2018) publizierte, beteiligt war. Ausgehend davon verdeutlicht sich Miyazakis Fokus auf das „Solidarisch-Gemeinschaftliche“, wenngleich stellenweise detailliertere historische Rahmenbedingungen herausgearbeitet werden könnten – etwa im Hinblick auf die linksalternative Projektekultur der 1970er- und 1980er-Jahre, die heute durchaus (wieder) als Referenzpunkt antikapitalistischer Gegenerzählungen dienen könnte. Trotz der dem Umfang des Buches geschuldeten Zuspitzungen argumentiert Miyazaki souverän, wie eine „sich selbstorganisierende Planwirtschaft“ dem anhaltenden Diebstahl an den Commons entgegentreten kann.
Zentral für Miyazakis Ansatz ist das Modellieren – etwa Formen des agent-based modeling – als kritische Praxis. Er schreibt: „Die Anwendung von Computermodellen im Rahmen einer kommOnistischen Kooperativität müsste gewissermaßen ähnlich wie die lernend-adaptive Perzeption-Aktion bei Säugetieren und Menschen operieren.“ Unter Zuhilfenahme von Autor*innen wie McKenzie Wark und Wendy Hui Kyong Chun argumentiert er für „echte Geselligkeit“ jenseits der algorithmischen Soziabilität vermeintlich sozialer Medien, die Ähnlichkeit valorisieren und Andersartigkeit ersticken. Daraus ergeben sich auch Verbindungen zu generelleren „organisatorischen Prozessen“, was eine breitere Relevanz von Digitalität tanzen anklingen lässt. Etwa wenn Miyazaki das „Anlernen eines solidarischen Tanzens“ jenseits von „revolutionären Zuckungen“ fordert – ein Verweis auf Debatten, wie soziale Bewegungen längerfristigen Wandel hervorbringen können?
Das zugängliche, lehrreiche und vielfältig anknüpfungsfähige Buch gibt sich diesbezüglich nicht mit vereinzelten „Brüchen“ zufrieden. Vielmehr beginnen sich die von Miyazaki skizzierten Interventionen erst in der Verflechtung mit anderen Commons tatsächlich zu entfalten, sozusagen von der einzelnen Rechenoperation hin zum Globalen. Daran anknüpfend müsste ein stärkerer Fokus auf politische Organisationsformen gelegt werden, um Miyazakis Ansatz zu konkretisieren und komplementieren. Zu nennen wäre hier etwa Geert Lovinks und Ned Rossiters Begriff der „organized networks“3 und deren Argumentation für „strong links“ (anstatt die „weak ties“ der sozialen Medien einfach hinzunehmen). Darauf aufbauend müssten wohl auch politischer Aktivismus, Recht-auf-Stadt-Bewegungen und Teile der Kunstwelt neu beleuchtet werden, um zu sehen, inwiefern die Animation konkreter „Präfigurationsübungen“ und die weitere Ausdifferenzierung einer „kommOnistischen Kooperativität“ einen breiteren Prozess bedingen können. An möglichen Tanzpartner*innen herrscht jedenfalls kein Mangel.

1 Shintaro Miyazaki, Counter-Dancing Digitality. On Commoning and Computation. Lüneburg (meson press) 2023; beide Publikationen sind über Open Access frei verfügbar.
2 Siehe etwa Christoph Chwatal, Versammlung und Commoning: Formen und Formate des Trainierens für die Zukunft, in: springerin 2/2020, S. 40–45.
3 Geert Lovink/Ned Rossiter, Organization after Social Media. Colchester/New York/Port Watson (Minor Compositions) 2018.