Heft 4/2023 - Lektüre
Als ich Oswald Wiener das erste Mal live sah, um 1990, promotete er sein Buch Probleme der Künstlichen Intelligenz aus dem Merve Verlag mit einem Vortrag in der vollbesetzten Aula der Städelschule in Frankfurt. In der ersten Reihe saßen die bekannten Professoren, Hermann Nitsch schlief irgendwann ein. Die Rede hatte nichts mit Kunst zu tun, aber auch wenig mit den KI-Debatten von heute. Dennoch war es für Wiener selbstverständlich, eine Kunstschulaula mit Themen aus den Kognitionswissenschaften, der Mathematik, der Kybernetik und der Linguistik zu behelligen, von denen niemand dort einen Schimmer hatte. Wurde Wiener, der selbst in diesen Feldern ein Autodidakt war und erst im Berliner Exil mit Mitte 30 ein Mathematikstudium begonnen hatte, von der Fachwelt ignoriert, zu einer Kunstuni- und Selberdenkerszene abgedrängt, die weder sein Vokabular noch seine Erkenntnisabsichten verstand? Doch in dem neuesten, von drei „Schülern“ herausgegebenen und mitverfassten posthumen Band mit Texten, Interviews und einem Glossar, Oswald Wieners Theorie des Denkens, zeigt sich ganz lässig, auch dank autobiografischer Bemerkungen Wieners, dass und wie im starken Sinne künstlerische und ästhetisch-theoretische Probleme ihn direkt zur Frage nach dem Bau des Bewusstseins führten. Es gab keinen Bruch nach der Verbesserung von Mitteleuropa, sondern eine Kontinuität.
Dass Wiener sich eigentlich schon immer damit beschäftigt hat, wie Kognition jenseits „sprachlicher Krücken“ funktioniert, hängt also genau damit zusammen, dass Kunst beansprucht, eine besondere, hervorgehobene Sorte von Bewusstseinsvorgängen auszulösen oder von diesen hervorgebracht worden zu sein. Kunst wird so zum Kardinalproblem des menschlichen Narzissmus, keine Maschine zu sein und auch von keiner ersetzt werden zu können. Wieners Antwort auf diesen uralten Verdacht war es, sich gewissermaßen mit dem Feind, in diesem Fall mit dem in den 1950er-Jahren popularisierten Behaviorismus, zu identifizieren und zu überprüfen, ob die Gegenseite möglicherweise recht hatte: Ja, Maschinenmodelle können auch anspruchsvolle Tätigkeiten des Bewusstseins wie Musikhören oder Musizieren repräsentieren. Doch natürlich waren die Lösungen nicht nur des Behaviorismus viel zu schlicht; Wiener rechnet eigentlich allen Kandidat*innen vor, dass und wie sie keine haltbaren Vorschläge hinkriegen. Leute wie Max Bense und Abraham Moles, die seinerzeit eine mathematische Ästhetik betreiben wollten, haben ihn „geärgert“: Sie hatten ein viel zu simples Bild von ästhetischen Vorgängen.
Andererseits wollte er auch den Humanisten und Anthropophilen nicht den Gefallen tun, die menschliche Kreativität wieder dem Reich des Unberechenbaren zurückzugeben. Die von ihm gegen jeden epistemologischen Mainstream immer wieder proklamierte Methode der Selbstbeobachtung sollte Ergebnisse hervorbringen, die alle geläufigen Gewohnheiten subjektphilosophischer und ichpsychologischer Verständnisse hinter sich lassen würden. Sie war eine Synthese aus einem aggressiven, die Alltagsvorstellungen vor allem von Kreativität negierenden Maschinendenken und Komplexitätsstolz: gegen humanistische Einzigartigkeitsillusionen (des Individuums wie der Gattung), aber mit den Mitteln einer intelligenten Beobachtung durch ausgerechnet jene Menschen. Am abstrakten und theoretizistischen Gipfel menschlicher Intellektualität warten Erkenntnisse, die auf angemessenem Niveau auf das mathematisch-naturwissenschaftlich Berechenbare genau dieses menschlichen Erkennens verweisen können.
Dieses Programm hörten lange Zeit vor allem Künstler*innen, mit denen Wiener sich umgab. Er war ein charismatischer, zugewandter, dann wieder strenger Charakter, der Leute stundenlang fesselnd unterhalten, aber auch vorführen und ins Bockshorn jagen konnte. Martin Kippenberger und Dieter Roth etwa saßen an seinen Tischen, raumbeherrschende Charismatiker wie er selbst, jedoch auch Maria Lassnig. Sie hörten ihm gerne zu, so wie er ihnen, aber ich nehme nicht an, dass sie sich inhaltlich für seine Theorien interessierten oder sie verstehen konnten. Trotzdem waren gerade sie in ihren ausgefeilten, auch exzentrischen Individualismen für ihn anregender als ein kognitiver Normalfall. Vielleicht verhält sich ja diese Kommunikation unter Charismatiker*innen zur Argumentation wie Selbstbeobachtung zur Messung.
Leute vom Fach, die dann doch auf Wiener reagierten, in meiner Erinnerung etwa eine Gruppe mit unter anderem Vilém Flusser und Friedrich Kittler im Wissenschaftszentrum NRW, waren beeindruckt, blieben aber ungläubig. Das hat sich in den letzten 20 Jahren vor seinem Tod geändert. Thomas Eder und Tomas Raab, zwei der Herausgeber des vorliegenden Bandes, haben schon 2015 bei Suhrkamp einen Reader zu Oswald Wieners Denkpsychologie vorgelegt, an dem auch Michael Schwarz, der dritte Herausgeber, bereits maßgeblich beteiligt war. Alle drei haben sich in Wieners eigensinnige Nomenklatur eingearbeitet und diskutieren informiert (man kann auch sagen: initiiert) dessen Programm. Im Gegenzug hatte auch Wiener seinen suprematistischen Ton abgelegt, mit dem er früher, wenn auch pointiert und heiter, anzudeuten pflegte, sich von Idioten umgeben zu sehen. Es ist anregend zu verfolgen, wie die früher ins Solipsistische lappende und auch vom Verfasser dieser Zeilen seit Jahren nie ganz verstandene „Denkpsychologie“ in Dialoge gebracht wird und auf Verständnisfragen tatsächlich handgreiflich erklärende Antworten hervorbringt. Eine Outsider-Science wird anschlussfähig, vielleicht zulasten ihres künstlerisch-performativen Anteils.