Heft 4/2023 - Lektüre
Sich ein Bild von der Welt zu machen, stellt eine Syntheseleistung dar, die uns in dem Maße überfordert, wie die Welt immer komplexer wird. Den theoretischen oder politischen Optionen einer Vereinfachung durch Einnahme eines Standpunkts, der alles auf einen einfachen Nenner bringt, korrespondieren zwar auch Bilder, die Entsprechendes leisten wollen, aber hier wie dort gibt es viele davon, und sie stehen zueinander in Konkurrenz. Die „Sicht von oben“ beansprucht demgegenüber eine überlegene Perspektive, und sie verspricht einen neutralen Standpunkt, der sich auf technische Voraussetzungen gründet.
Heute sind wir mittels Smartphones alle in der Lage, diesen Blick von oben bis ins Detail zu nutzen – jedenfalls was die Geografie oder das Wetter betrifft. Aber nicht nur deshalb lohnt sich ein genauerer Blick auf die Entstehungsgeschichte dieses Zugangs zur Welt und seine subjektiven und objektiven Implikationen.
Den Knotenpunkt der Studie von Vera Tollmann bildet das Video Powers of Ten (Charles und Ray Eames [Office], made for IBM, 1968/77). In ihm wird erstmals das Prinzip der kontinuierlichen Skalierung (in Zehnerpotenzen) auf den gesamten bekannten Bereich des Universums angewandt: Es erlaubt eine visuelle Wanderung vom stellaren Weltraum bis zu den Elementarteilchen. Das Video startet den Blick von oben mit einer quadratischen Picknickdecke, zoomt in den Körper einer darauf liegenden Person bis in die Dimensionen von Zellen und Atomen, um dann in Gegenrichtung den Blick in den Himmel und in das System der Galaxien zu wenden und schließlich wieder „hinunter“ zu der vertrauten Picknickdecke zu steigen. Es gibt bei diesem Zoom ein paar Ungereimtheiten, vor allem hatten zur Entstehungszeit die bildgebenden Verfahren in manchen Bereichen noch Lücken, sodass sich die beiden Designer*innen mit malerischen Mitteln und fototechnischen Tricks behelfen mussten, was ihrer Euphorie angesichts der Pionierleistung durchaus entgegenkam.
Was damit in anschaulicher Form als Triumph der technischen Möglichkeiten gefeiert wurde, war allerdings nicht nur Zeichen für die allgemeinen Fortschritte der Menschheit, sondern auch Manifestation eines wissenschaftspolitischen Programms, das im Zusammenhang mit geostrategischen Anstrengungen der USA stand. Diese hatten die Bedeutung technologischer Forschung erkannt und boten insbesondere nach dem „Sputnik-Schock“ riesige Summen zu deren Förderung auf. Nicht erst heute wissen wir, dass diese Art von Fortschritt erhebliche Schattenseiten hat, über die weder die erfolgreiche Mondlandung 1969 noch die vielen anderen Innovationen hinwegtäuschen können, die mit diesem Wissensschub verbunden sind.
Bildpolitik spielt dabei keine bloße Nebenrolle, sondern hat maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung. Das jedenfalls ist der tragende Gedanke dieses Buches, der sich durch ein verzweigtes Netzwerk von Theorien, Berichten und Kommentaren arbeitet. Die Bandbreite reicht von philosophischen Bezugspunkten wie Hannah Arendt und Donna Haraway über zahlreiche Lektüren medientheoretischer Art bis hin zu Erfahrungsberichten, wie zum Beispiel von einem Pionier des Ballonflugs, der bis in die Stratosphäre aufgestiegen und dann mit einem Fallschirm wieder gelandet ist.
Ohne die erreichten Leistungen schmälern zu wollen, geht es Tollmann darum, die Umgebungseffekte ernst zu nehmen, die diese Entwicklung von Anfang an begleitet haben. Während das hegemoniale Narrativ vom überlegenen Überblick auch verlangte, die abenteuerlichen Seiten seiner eigenen Realisierung weitgehend auszublenden, mehrten sich die Stimmen, die darin den verführerischen Ausdruck einer autoritären Machtkonzeption erkannten, und all das verteidigten, was in ihm abgewertet wurde oder ihm zum Opfer fiel.
In verschiedenen Kapiteln verwebt das Buch zahlreiche Zitate verschiedenster Autor*innen zu einem Gegenmodell – auch gerade der Konzeption von Wissen, die hier auf dem Spiel steht. Darin wird kein Standpunkt absolut gesetzt, sondern nach der Breite und den Falten jener Erfahrungs- und Gestaltungsräume gefragt, die von dem besagten technologischen Paradigma ignoriert oder marginalisiert werden.
Nicht zufällig spielt in diesem Gegenmodell Kunst eine maßgebliche Rolle. Denn wie schon das Ausgangsbeispiel deutlich werden lässt, gehen hier Anschaulichkeit und Begeisterung eine starke Verbindung mit dem Begriff der Wirklichkeit ein. Es waren auch nicht zuletzt Künstler*innen, die sich im Fahrwasser staatlicher Förderung der Veranschaulichung wissenschaftlicher Errungenschaften verschrieben und zu deren Faszination beitrugen. Und es waren und sind ebenfalls Künstler*innen, die Kritik an den Voraussetzungen und Ausgrenzungen jener hegemonialen Bilder üben, deren spektakuläre Attraktivität hinterfragen und konterkarieren oder ihre inhärenten Angstmechanismen aufdecken. Der Gegenblick ist nicht zuletzt ein Blick in die sozialen und materiellen Voraussetzungen der vermeintlich überlegenen Sicht. Sie als Ergebnis kollektiver gesellschaftlicher Leistungen nachzuzeichnen, bedeutet auch, die Verdinglichung dieses Blickes zu dekonstruieren; es kann eine Praxis sein, mit Sichtweisen politisch umzugehen.