Auch wenn die Gegenwart dringend Analysen benötigt, ihre Diagnostiker*innen haben es derzeit nicht leicht: Gerade noch waren die Pandemie und mit ihr der Einbruch von Tod und Sterblichkeit ins Alltagsleben an Unbegreiflichkeit kaum zu überbieten, schon wurde Covid-19 von der Brutalität des großflächigen russischen Angriffskriegs und seit dem 7. Oktober 2023 vom dramatischen Wiederaufflammen des Nahostkriegs eingeholt.
Den Ereignissen gemeinsam ist ein nicht vorstellbares Ausmaß an Tod, Zerstörung und Gewalt, das man in der westlichen Welt nicht nur hinter sich wähnte, sondern dessen Grauen man im 20. Jahrhundert auch schon vielfach aufgearbeitet hat. „Are war and pandemic the worst things that can happen to humankind?“ – diese Frage stellt sich Jacqueline Rose, Professorin für Geisteswissenschaften und Co-Direktorin des Birbeck Institute for the Humanities an der Universität London, in ihrem neuen Buch, wobei sie in der Beantwortung vor allem auf drei Vordenker*innen zurückgreift: Albert Camus, Sigmund Freud und Simone Weil, die sich intensiv Krieg und Krankheit beschäftigt haben.
Den ersten Aufsatz ihrer Essaysammlung The Plague. Living Death in Our Times widmet Rose Camus’ Die Pest. Sie beginnt ihn mit der Feststellung, dass parallel zur steigenden Anzahl von Covid-Erkrankten auch die Verkäufe des Romans in die Höhe schossen. Rose interessiert an den Zahlen vor allem das Zählen, das während der Pandemie in Ermangelung anderer Gegenstrategien die unterschiedlichsten Funktionen übernahm: „Counting is at once a scientific endeavour and a form of magical thinking. It can be a means of confronting and bracing the onslaught and, at the same time, a doomed gesture of omnipotence, a system for classifying and bundling the horror away.“ In Camus’ Roman werden ebenfalls die Toten gezählt – und bald die an der Pest Verstorbenen zudem von denen getrennt, die auch unter normalen Umständen gestorben wären. Eine Strategie, die bei Covid-19 auch Donald Trump und Jair Bolsonaro verfolgten, um die Zahlen zu manipulieren und somit Gegenmaßnahmen möglichst lange zu verhindern.
Boris Johnson ist im Kreise der von Rose angeklagten und analysierten Politiker (die Feministin behauptet, dass die Länder mit Staatschefinnen viel besser durch die Pandemie gekommen sind) nur ein weiterer, der die Schwere der Krankheit herunterspielte (sie führt Johnsons strikte Vermeidung jedes Anscheins von Angst in einer – wie sie selbst zugibt –„wilden Analyse“ auf seine depressive Mutter zurück). Dennoch wurde er selbst im Krankenhaus behandelt, während etwa Thomas Harvey, ein langjähriger Krankenpfleger im Dienst des National Health System, trotz mehrerer Anrufe bei einer Ambulanz, „nach Luft schnappend in seinem Badezimmer“ verstarb.
Angereichert mit solchen emotionsgeladenen Anekdoten (aus der Yellow Press?) macht sie aus ihrer Abneigung gegen Politiker wie Boris Johnson kein Geheimnis. Was dem Buch aber insgesamt mehr zugute kommt, ist, dass die belesene Literaturwissenschaftlerin, Freud-Kennerin und Simone-Weil-Exegetin ihre eigene Expertise – die literaturwissenschaftliche, postkoloniale und feministische Theorie – nicht auslässt: So geht es in Bezug auf Camus sowohl um eine zeitgenössische Kritik an dessen Roman („If fascism was a source of nature, then no one is to blame“) als auch um die aus heutiger Sicht fatale Unsichtbarkeit arabischer Menschen (Die Pest spielt in der algerischen Stadt Oran) bzw. die in einer patriarchal-frauenfeindlichen Tradition stehende Passivität seiner Frauenfiguren.
Der Essay „LIVING DEATH“ ist einem Anstieg von Zahlen gewidmet, die mit dieser Tradition in Zusammenhang stehen: den um 25 Prozent mehr Frauen, die sich ab 6. April 2020, dem Beginn des Lockdowns in England, bei der Hotline für häusliche Gewalt meldeten. Rose, die die Psychoanalyse bzw. das „Anerkennen der Komplexität des eigenen Herzens“ – wie sie im August 2023 in einem Interview mit The New Yorker sagte – als Rettung vor allen Übeln der Welt betrachtet, geht in dem Kapitel der transgenerationalen Weitergabe von seelischen Traumata nach. Dabei zitiert sie Julia Kristeva, die während der Pandemie die Beobachtung machte, dass die telefonischen Analysesitzungen, die die Stimme auf Distanz hielten, vielen Patient*innen halfen, plötzlich über „tiefe Formen der Erinnerung und des Leids“ zu sprechen.
So nachvollziehbar diese Beobachtung ist, so schwer ist es manchmal, ihren alles psychologisierenden Schlüssen zu folgen: dass Freud seine Theorie des Todestriebs im Anschluss an die Spanische Grippe entwickelte, ist nur einer davon. Im Kapitel „TO DIE ONE’S OWN DEATH“ widmet sie sich zunächst seinen Theorien zu Trauer und Sterben, um dann aus seinen Briefen zu schließen, dass der Tod seiner Lieblingstochter Sophie Halberstadt-Freud an der Spanischen Grippe der eigentliche Treiber der Psychoanalyse war: „Psychoanalysis begins with a mind in flight, a mind that cannot take the measure of its own pain.“
In einer Verquickung von umfassender Kenntnis, feministischer Haltung und „wilder Analyse“ werden Privates, Theorie und Politik auch bei Simone Weil verknüpft, der Theoretikerin des „Prinzips Gerechtigkeit“ (so der Weil-Verehrer Albert Camus). Man wünscht sich zuweilen, dass die Autorin Weils Familie weniger und ihren antiimperialistischen, antikolonialen und ökologischen Überlegungen mehr Platz eingeräumt hätte – schließlich hat das Nachdenken über planetare Gerechtigkeit auch für Rose Priorität: Zum Zeitpunkt ihres Schreibens wisse noch niemand, ob die Welt nach Covid auf den Klimawandel reagieren und erforderliche Maßnahmen ergreifen werde.
Sie tut es nicht, das wissen wir mittlerweile. Es sind aber gerade auch Stellen wie diese, die den Eindruck bestärken, dass die Welt inzwischen schon wieder eine ganz andere ist.