Zürich. Es wäre vielleicht zu naheliegend, die spiralähnliche Architektur der Ausstellung, die kleinformatige Malereien und Zeichnungen zeigt, als eine uns Betrachtende in eine andere Welt hineinziehende Bewegung zu verstehen. Und doch gleicht dieses kontemplative Abschreiten von Bild zu Bild einer Art Sog, der in die teils rätselhafte, poetische, sentimentale und widerständige Sprache der Autorin und Künstlerin Elene Chantladze (*1946, lebt in Tskaltubo, Georgien) einführt. In ihren Bildern folgt sie keiner linearen Erzählweise, sondern offeriert ein Nebeneinander von Szenen mit Menschen, Tieren und Landschaften, die dem Alltag, der Literatur und ihrer Imagination entnommen sind.
Einige der Arbeiten tragen den Titel Freies Zeichnen, was sogleich die Frage stellen lässt: „Frei wovon?“ Wie kann sich einem planerischen, vorausschauenden Malen entzogen und wie etwaige Erwartungen, das eigene ästhetische Urteil, aus dem Blickfeld genommen werden? Chantladze ist nicht daran gelegen, eine Antwort hierauf zu artikulieren, jedoch gibt sie Einblick in eine malerische Praxis, die etwas Unmittelbares, Intuitives, Spontanes, womöglich Unbedarftes zu übersetzen vermag. Das Malen und Zeichnen entwickelt sich aus ihrem Alltag heraus und ist in diesem als integraler Bestandteil im Sinne eines Nachdenkens und Erinnerns in Bildern angelegt. Sie malt im Bett, auf und mit teils unkonventionellen Materialien, die sie umgeben, wie Verpackungsmaterial von Bonbons und Schokolade, die Innenseite einer Schale, die Rückseite eines Schranks oder Kalenderblätter. Alle Bilder stehen somit im direkten Bezug zu ihrer Lebenswelt wie auch einem belastenden wirtschaftlichen Missstand, wenn sie Materialien aus lokalen Geschäften oder dem Krankenhaus in Tskaltubo sammelt, wo sie in den 1990ern arbeitete.
Chantladze experimentiert. Sie verschmiert Benzin, Marmelade und Saft, nutzt Farbstoffe von Gemüse und Obst, zerdrückt dazu Maulbeeren oder integriert direkt Rückstände auf Unterlagen, wie Schmutz oder Klebestreifenreste. So entsteht ein ungegenständlicher Hintergrund, aus welchem sie, sich orientierend an Mustern, wie sie in Kopien oder Werbefetzen zu finden sind, sowie den materiellen Gegebenheiten, Formen und Figuren mit Kugelschreiber, Bleistift oder Farbstiften ableitet. Hier folgt Chantladze einem uns aus dem Alltag bekannten wahrnehmungspsychologischen Phänomen, der Pareidolie, wenn sie beispielsweise Punkte zu einem stark stilisierten Gesicht vervollständigt. Dieses Sehen in Formen lässt aus dem Hintergrund Figuren und Szenen hervortreten, lässt Chantladze Widersprüchlichkeiten mühelos vereinen. Insbesondere dann, wenn sie Mensch und Tier aus ihrem dichotomen Verhältnis herausschält und sie einander näherkommen, miteinander sprechen und zuhören lässt. Neben figurativ-gegenständlichen und konturierten Bildteilen lassen sich zudem verschwommene, mehrfach überzeichnete Bildelemente explorieren. Was auf den allerersten und vielleicht unüberlegten Blick methodisch an die Ecriture automatique erinnern mag, entpuppt sich schnell als malerische Technik, die in einer konkreten Abfolge denkt, bewusst Erinnertes einbezieht und auf einem tiefen Vertrauen in den Prozess selbst fußt. Die Frage, ob es sich in den Bildern um fiktionalisierte, erträumte Zustände handelt, wird dabei zunehmend obsolet.
Chantladze erfasst und verknüpft Momente des Sorgetragens, (Sich-)Haltens, Zuhörens, Liebens und Schützens, aber auch des Aktiv-Handelns, Auftretens und Einstehens, was auch die politische und historische Dimension ihrer Arbeit nachvollziehen lässt. Ihre Darstellungen reflektieren und begleiten Prozesse eines sich nach wie vor in Transition befindlichen Georgiens, so beispielsweise die sozioökonomische Krise des Landes nach dem Zusammenbruch der UdSSR und den anhaltenden Konflikt im Kontext des Kaukasuskriegs 2008 zwischen Russland und Georgien. Teils verweisen Bildtitel auf politische Ereignisse, teils bleibt diese Konkretisierung aus, und ein so düsteres wie einnehmendes Gefühl der Beklommenheit und Perspektivlosigkeit entsteigt dem Bildraum.
Das Schreiben ist dem Malen gleichrangig in Chantladzes Praxis, was allein schon durch vermehrtes Auftreten von Schrift im Bildraum nachvollziehbar wird, doch auch insbesondere dann, wenn Geschichten über die Grenzen des physischen Bildgeschehens hinausragen: Neben deskriptiven Titeln oder Referenzen auf Literatur lassen sich direkte Aufforderungen wie „Protect the Rights of Children and Animals“ oder Bekenntnisse wie „We want peace“ finden. Die Hängung auf gleicher Höhe wie die Abstände rhythmisiert als fortlaufendes Band eine von Heterogenität gekennzeichnete Erzählung, die nicht enden kann und vielleicht wie eine Melodie nicht nur von der Künstlerin selbst, sondern von vielen Akteur*innen weitergetragen wird. Sie gibt eine sensible Ahnung, eine erkundende und reflektierende Übersetzung von dem, was da war und ist, aber auch noch kommen könnte.