Lodz. Ich fuhr nach Lodz, um Late Style, eine große Retrospektive Henryk Stazewskis, zu sehen. Der Titel der Ausstellung stammt von einem Essay Edward Saids, der diesen Spätstil eines Künstlers oder einer Künstlerin als befreit von Erwartungen des honorigen Publikums, der Kunsthändler*innen, Politiker*innen, Kritiker*innen, Familien und Klüngel – und nicht zuletzt befreit vom Festklammern an Stilen – beschrieb. Der Spätstil zeichne sich durch eine „Distanzierung“ aus. Mit dem frivolen Grinsen des Genies, mit langer Lebenserfahrung und einem wiederentdeckten kindlichen Mut zum Experiment breche man die Konvention. Es ist der Stil aller Stile, stilvoll inkohärent, ein Geist, der mit der Pfeife in der Hand die Stiege herabsteigt – wenngleich man genau weiß, dass es keine Pfeife ist. In der Broschüre des Museums zitieren die Kuratoren der Ausstellung David Crowley und Daniel Muzyczuk Saids aphoristische Definition: „Spätstil ist [...] das, was geschieht, wenn die Kunst gerade nicht vor der Wirklichkeit abdankt.“
Im Jahr 1929 indes gründete der damals 34-jährige Stazewski gemeinsam mit anderen die Gruppe a.r. (awangarda rzeczywista oder auf Deutsch: Wirkliche Avantgarde), die der Kunst eine aktive Rolle in der Gesellschaft geben wollte. Die Überzeugung, Kunst könne vom Leben gewinnen und lernen, war auch der pädagogische Kern des Vorhabens, eine internationale Sammlung moderner Kunst zu gründen. Dank Bemühungen von den Künstler*innen Władysław Strzemiński, Katarzyna Kobro und Henryk Stazewski sowie den Dichtern Julian Przyboś und Jan Brzękowski konnte diese Sammlung erstmals 1931 im Julian und Kazimierz Bartoszewicz Museum für Geschichte und Kunst in Lodz gezeigt werden und sie wächst bis heute stetig weiter.
In Late Style macht Stazewski den Eindruck eines Künstlers, der nicht am Fließband stand und Meisterwerke produzierte, sondern geduldig arbeitete, gelassen und heiter blieb, mit vielen befreundet war und im Austausch stand. Er nahm am Leben teil, gründete Künstlerkollektive und Gruppen mit, organisierte Ausstellungen, schrieb, händigte Notizen an Ausstellungsbesucher*innen aus, hielt Vorträge und schuf Kunst im öffentlichen Raum. Die Ausstellung zeigt, dass er dabei immer zeitgenössisch blieb – eben weil er nie in die Zeit gehörte und immer ein wenig abseits stand. So erscheint sein einziges monumentales, wenngleich ephemeres Projekt für das Sympozjum Plastyczne (Kunstsymposium) in Wrocław mit dem Titel Kompozycja pionowa nieograniczona/Unbegrenzte Vertikalkomposition, die aus farbigen, sich schneidenden und im Nachthimmel verschwindenden Lichtstrahlen bestand, wie ein queerer Take auf den Lichtdom Albert Speers.
Late Style ist in Episoden aufgeteilt, die Stażewskis Beziehungen zur Nachkriegskunst nachempfinden. Er starb ein Jahr vor dem Übergang vom sozialistischen System zur kapitalistischen Wirtschaft und verortete sich selbst manchmal in den Spiegeln der Neoavantgarde – in der kinetischen Kunst, im Minimalismus, in den akademischen Spekulationen der Konzeptkünstler*innen, in der visuellen Poesie.
Die Ausstellung mäandriert entlang der Künstlerfreundschaften Stażewskis, wodurch sich die Karte eines Archipels aus wechselnden Konstellationen von Künstler*innen ergibt, deren Werke nun neben seinen gezeigt werden. Maria Ewa Lunkiewicz-Rogoyska (1895–1967) ist mit fünf seltenen und kaum ausgestellten Kompositionen aus der Sammlung des Museums dabei, Maria Stangret-Kantor (1929–2020) mit dem wunderlich schönen Blue Sky/Niebieskie niebo (1970), regensammelnde Metallrinnen unter gesprayten Wolken auf himmelblauem Hintergrund, und Barbara Kozłowska (1940–2008), deren Aktion Wyznaczanie linii granicznej/Festlegung der Grenzlinie in rotem Pigment auf Sand anlässlich des Künstler*innensymposiums 8. Plener w Osiekach/8. Open Air in Osieki 1979 entstand. Dazu kommen Krzysztof Niemczyk (1938–94), der schon bei der Eröffnung der Ausstellung Stażewskis 1969 in der Galerie Foksal brillierte, Edward Krasiński, der von 1970 bis zu seinem Tod 1988 mit Stażewski eine Atelierwohnung in Warschau teilte, Zbigniew Gostomski, Krzysztof Wodiczko, Krzysztof Jurkiewicz, Andrzej Partum, Ryszard Waśko, Zbigniew Warpechowski und viele mehr.
In seiner großmütigen Art freundete sich Stażewski, der 1966 die Galerie Foksal mitgegründet hatte, später auch mit der so genannten Pseudoavantgarde an – eine abwertende Bezeichnung, die Wiesław Borowski von ebenjener Galerie 1975 in einem Artikel desselben Titels in der staatlich finanzierten Zeitschrift Kultura prägte, wo er alle Künstler*innen, die nicht in der Foksal ausstellten, pauschal als bloße Nachahmer*innen der „wahren“ (Neo-)Avantgarde schalt. Die Ausstellung im Kunstmuseum erinnert an diesen allmählichen politischen Seitenwechsel, zeigt sie doch Schätze wie das von Stażewski gestaltete Cover eines Gedichtbands von Andrzej Partum sowie Werke, die er im Czyszczenie dywanów (dt. Teppichreinigung), einem Off-Space in Lodz, zeigte, der während des Kriegsrechts 1982 ein paar Monate lang von Adam Paczkowski und Radosław Sowiak betrieben wurde.
In Late Style erscheint Stażewski als Projektionsfläche für vieles, auch für die Rolle der fixen Vaterfigur, die nicht wirklich zu ihm passte, wiewohl er sie irgendwie annahm, spielte und – veräppelte. Er blieb eben wirklich über: von den Mitgliedern der a.r.-Gruppe war Kobro 1951 verstorben, Strzemiński 1952, Przybos 1970 und Brzekowski 1987 (in Paris). Stażewski hatte sie alle überlebt. 1956 malte er seine eigenen Kompositionen, die offenbar im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren, noch einmal nach. Eine Wiederholung also oder eine Überarbeitung? Oder vielleicht – als Postmoderner avant la lettre – das Ausfüllen einer historischen Lücke durch Apokryphen einer modernen Vorgeschichte?
In einem der letzten Räume stehen zwei Modelle aus dem Jahr 1976 für ein „Zimmer für einen Psychiater [...], das zur Heilung von Kranken beiträgt“. Zur selben Zeit schuf Stazewski auch die Skizze für einen ähnlichen Raum auf Papier, der rein immateriell sein sollte, als bestünde er nur aus Farben. Stażewski beschäftigte sich mit der Wirkung, die Farben auf psychisch Kranke ausüben. Ganz im Geiste der avantgardistischen Idee, Kunst mit der Alltagsrealität zu verschmelzen und zu dieser Idee gleichzeitig auf ironische Distanz zu gehen, aber auch im Einklang mit den antipsychiatrischen Tendenzen seiner Zeit entwarf Stazewski Räume mit Rechtecken, die hellblau grundiert und durch dünne vertikale Linien in Rosa, Lila, Violett und Grün unterteilt waren. In diesen kleinen Räumen erklingt bis heute leise die Musik der Farben.
Übersetzt von Thomas Raab