Frankfurt am Main. Die mit Glasröhren verbundenen Glaskuben ziehen das Publikum unwider-stehlich an. In ihrem Inneren krabbeln Ameisen, zerschneiden Blätter, legen Pilzgärten an. Was fasziniert uns so? Es ist die Lebendigkeit, die kollektive Systematik des wirkenden Prozesses. Ameisen sind bekannt für ihre Schwarmintelligenz; hier kann man beobachten, wie jede Ameise ihren Teil dazu beiträgt. Stundenlang möchte man staunen: über die Präzision des Ablaufs, die Fresskammern oder Abfallhaufen – ausgeschiedene organische Reste, die so gar nichts mit unseren toxischen Müllhaufen zu tun haben.
Dieses vom Zoo Frankfurt für die Ausstellung erarbeitete Exponat macht deutlich, um was es der von Franziska Nori (FKV) in Zusammenarbeit mit Katrin Böhning-Gaese (Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum) kuratierten Ausstellung Bending the Curve. Wissen, Handeln, [Für]Sorge für Biodiversität geht: Sie versammelt interdisziplinäres Wissen und stellt es wie Kunst aus. Und so sind auch die gleich daneben von der Decke abgehängten, fragil wirkenden Skulpturen einfach eine Auswahl von Zinnabgüssen, die der US-amerikanische Verhaltensökologe Walter R. Tschinkel von Ameisenbauten machte. „Immer wieder präsentiert der Frankfurter Kunstverein in seinen Ausstellungen wissenschaftliche Präparate und Kunst-werke in gemeinsamen Räumen“, heißt es im Begleitheft zur Ausstellung. „Sowohl Kunst als auch Wissenschaft können Erkenntnisse und Ideen durch materielle Manifestationen sinnlich erfahrbar machen.“ Genau, möchte man hinzufügen; ästhetische Momente affizieren; sie können Freude und Leidenschaft auslösen und Erkenntnis beflügeln. Deswegen operieren auch die Wissenschaften – bewusst oder nicht – ästhetisch.
Mit einer Vielfalt an ästhetisch-kuratorischen Mitteln versucht die Ausstellung, die schwindende Biodiversität darstell- und verhandelbar zu machen sowie Möglichkeiten aufzuzeigen, wie der Prozess des Verlusts von Welt gestoppt werden könnte: Das ist Bending the Curve – „die Kurve biegen“, was so viel bedeutet wie die zugrunde liegenden Voraussetzungen eines Problems zu beheben, zu verändern, –, was den rasanten Abwärtstrend wissenschaftlich belegt. Riesige Kur-ven sind an die Wand des Treppenhauses gemalt; daneben eine sich durch die Stockwerke zie-hende Wand, auf der zehn Vorschläge zum Umbiegen formuliert sind. Dass ein paar Forderun-gen nicht die dringlichsten scheinen und weitere für sich selbst ergänzt werden müssen, macht die Gebote sympathisch. Ihr Subtext: Ein Umbau ist möglich, jeder Versuch zählt. Bereits gibt es Möglichkeiten des Recyclings von Baustoffen oder der Herstellung von Plastik aus zellulo-sehaltigen Abfallprodukten, wie ausgestellte Warenmuster demonstrieren. Dass diese innovati-ven Verfahren an der Schwelle zum Markteintritt stehen oder von jungen Unternehmen bereits heute realisiert werden, macht deutlich, dass sich Dinge ändern können, solange sie sich rentie-ren.
Im ersten Stock beeindruckt das freundliche Raumambiente des mexikanischen Künstlers Fernando Laposse. Sowohl die pinkfarbene Hängematte als auch die witzigen hundeartigen Sessel aus Sisal, die Agaven und die Wanddekoration aus Maisblättern künden davon, dass auch Naturmaterialien schick sind. Darüber hinaus „erzählen“ sie aber auch die Geschichten ihrer De/Kolonialisierung. So gab es einst unzählige Sorten von Mais, bevor er globalisiert und vereinheitlicht wurde. Um für Agrobiodiversität zu kämpfen, entwickelte Laposse in Zusam-menarbeit mit der indigenen Mixtekengemeinde das Projekt TOTOMOXTLE. Der Künstler, der weiße Mann, nutzt seine Privilegien, um sich gemeinsam mit lokalen Bäuer*innen zu sorgen und Sorge zu tragen. Diese haben sicher nicht auf ihn gewartet, aber sie haben wohl auch keine andere Wahl, als Allianzen zu bilden mit Menschen, die ähnliche Anliegen haben. Auch das ist, folgen wir dem Ausstellungstitel, Wissen, Handeln, [Für]Sorge für Biodiversität.
Eine weitere raumgreifende Installation aus Naturfasern – Algen – liefert die in Helsinki tätige Künstlerin und Designerin Julia Lohmann. Das mehrteilige Gebilde beherbergt eine Art Atelier, im dem die Experimente der Künstlerin mit Seetang – ihr Departement of Seaweed – ausgestellt sind. Und das Publikum lässt sich bezaubern, riecht, tastet und kommt mit anderen ins Gespräch. Auch dieses Projekt überzeugt durch seine Sorgfalt und Liebe zu den Details. Im gleichen Ausstellungsraum befinden sich die großformatigen Blumenbilder von Alexandra Daisy Ginsberg, die auf den ersten Blick etwas steril wirken. Das Überraschende: Die Bilder – die Farben der Blumen, ihre Perspektive, der Grad ihrer Auflösung und der Punkt ihres Ver-schwimmens – sind aus der Perspektive unterschiedlicher Bestäuber, wie Bienen, Schmetterlin-gen oder Käfern gestaltet. Viele von ihnen sehen beispielsweise kein Rot, dafür den UV-Bereich, den das menschliche Auge nicht wahrnimmt. Die Bilder nehmen solche nicht-menschlichen Perspektiven ein. Ihr Design wird durch einen Algorithmus ermöglicht – den Pollinator-Pathmaker –, den die Künstlerin in Zusammenarbeit mit einem AI-Experten entwarf. Damit kann man auf der Website https://pollinator.art selbst Gärten entwerfen – Gärten, nicht nach menschlichem Geschmack gestaltet, sondern wie sie sich Bestäuber wünschten: mit Blu-men, deren Blüten viele verschiedene Formen aufweisen, damit möglichst viele verschiedene Rüssel daran nippen können. Dass Ginsberg dies maschinell durchzieht, erscheint so gesehen konsequent: Sie tut dies einerseits aus „Empathie“, das heißt in der Maschinensprache: Ein-schließung möglichst vieler Vorteile für Bestäuber, andererseits um konventionellen ästheti-schen Kriterien möglichst zu entkommen. Auch sagt die Arbeit an keiner Stelle, dass sie reale Blumenlandschaften ersetzen möchte. Im Gegenteil, sie fordert zum Säen und Pflanzen auf. Auch das: eine der vielen unvollkommenen Handlungen, die Kurve umzubiegen zu suchen.
Die Ausstellung mündet in eine raumgreifende Installation, das interaktive Projekt MYRIAD. Where we connect, welches in unterschiedlichen Formaten die mit Sensoren erfassten Migrati-onsrouten von Tieren körperlich erfahrbar macht: So kann man in einer 360-Grad-3D-Dokumentation mit Waldrappen aus einem Aufzuchtsprogramm über die Alpen ziehen, oder in einer VR-Experience der fiktiven Zukunft weiterer Waldrappen folgen. Bei beiden Arbeiten kommen mit Kohlezeichnungen verfertigte Landschaften ins Spiel, deren lebensfeindliches Schwarz-Weiß verstört. Diese Arbeiten setzen auf experimentelle Weise Storytelling, VR-Technology und eine interaktive Soundscape-Ecology ein; sie ermöglichen einzigartige Erfah-rungen wie Waldrappe- oder Polarfuchswerden. Leider stört ihr Gestus des Erklären- und Überzeugenwollens – zum Beispiel die allwissende Voice-over-Stimme in den Videos oder die etwas pathetische Rauminszenierung der Kohlemonolithen mit Textprojektionen – die Singulari-tät der Erfahrung. Doch das ist nichts gemessen am bravourösen Versuch, Biodiversität mit den Mitteln des Ästhetischen erklingen zu lassen.