Heft 4/2023 - Artscribe
London. Schlagwort einiger kuratorischer Konzepte ist derzeit das Thema Care (Sorge, Fürsorge) – erinnert sei an den Care Pavillon auf der diesjährigen Londoner Design Biennale oder an die Ausstellung YOYI! Care, Repair, Heal (2022) im Berliner Gropius Bau, Letztere thematisierte unter anderem den Umgang mit sensiblen Ökosystemen. Auch eine Gruppenausstellung in der Londoner Hayward Gallery verstand sich kürzlich als Aufruf, „gemeinsam zu erkunden, wie die (Für-)Sorge um unseren Planeten in politisches, spirituelles und ökologisches Handeln eingebettet ist“. Dear Earth: Art and Hope in a Time of Crisis wollte also ganz schön viel (derzeit Gängiges).
Konkret bezog sich die Sorge in Dear Earth – über drei Stockwerke verteilt, von einem Team um Hauskuratorin Rachel Thomas mit Werken von 15 Künstler*innen erarbeitet – auf eine Aussage der Künstlerin Otobong Nkanga: Care sei eine Form des Widerstands. In Nkangas eröffnend gezeigten Arbeiten lag dieser allerdings nur selten in Form direkter Aktion in der Luft. Da waren etwa die an magischen Realismus erinnernden Acrylzeichnungen, auf denen Verbundenheiten von Mensch und Erde dargestellt werden – etwa ein auf einer Scheibe schwebender einarmiger Torso, der aber wie mit beiden Händen zwei Fragmente der Erdoberfläche an einem Seil im Gleichgewicht hält. Da war der breite, großformatige Wandteppich mit bunten, figurativen Elementen, auf dem die Künstlerin unter anderem in weiß eingewebte Darstellungen nicht zuordenbarer geologischer Konturen mit einer ebenfalls eingewebten Darstellung der Milchstraße überblendet (einem Foto nachempfunden, allzu symbolisch aufgenommen 2011 während der Proteste auf dem Kairoer Tahrir-Platz). Oder da war eine Foto- und eine Videoarbeit In Pursuit of Bling, die den der Ausbeutung von Mineralien und Erzen zugrunde liegenden Fetisch der Schönheit in überhöhenden Bildern verdeutlichte.
Ebenfalls noch recht poetisch ermöglichte es eine Apparatur in Jenny Kendlers Außeninstallation Birds Watching, den skulpturalen Vergrößerungen der Augen von vom Aussterben bedrohter Vögel in stilisierter Vogelsprache gut zuzureden, während Andrea Bowers’ werbebunt blinkender Neonschriftzug schon eher (sachte) auf die Zwölf hauen wollte: Climate Change is Real! war eine solche Anti-Fake-News-Arbeit von 2017 (Trump) sechs heiße Sommer später nicht bloß historisch? Meinte man und dachte ans kommende Jahr (Trump?). Komplexer – und imminenter – stellte sich hingegen die Videoinstallation Grid (Palimi-ú) des irischen Dokumentarfotografen Richard Mosse von 2023 dar: Hier sprechen maskierte Dorfbewohner*innen aus dem Volk der Yanomami dringlichst in die Kamera und adressieren ihre entfernten Betrachter*innen direkt. Goldminenarbeiter vernichteten den Wald, die Kinder erkrankten, die Tiere starben: „We need your support to get them out of here!“, „Send your people soon!“, „I want Lula!“. Die Not aufseiten der hier Sprechenden ist unübersehbar, Grid (Palimi-ú) schaffte mehr als viele der in Dear Earth gezeigten Arbeiten zusammen. Wie viele Besucher*innen nach dem eindringlichen, künstlerisch gefilterten, zudem mit Lulas Wiederwahl nachträglicher gewordenen Aufruf tatsächlich in dieser Sache selbst tätig wurden (und wie), bleibt dabei natürlich offen. Allerdings: Wenn Sorge tatsächlich eine Form des Widerstands ist, müsste jener dann angesichts der globalen Situation in der gesamten Ausstellung nicht mindestens so radikal in Erscheinung treten wie in Mosses Arbeit?
Unweit in London und außerhalb der Kunst zeigte eine kleine Kabinettausstellung, was Dear Earth fehlte, um eine solche Stoßrichtung definieren zu können: ein Gedächtnis, ein Archiv, ein Korrektiv, einen Ort, an dem Sorgen auch jenseits von Büchern im Museumsshop historisch abgeglichen werden können, um Agenda zu gewinnen. Clothing this Naked Earth: Politics and the Planet in der Bibliothek der London School of Economics machte genau dies, in eigenem Recht. Kuratiert von Daniel Payne (LSE), dem Politökonomen Mitya Pearson und der Green Party Archives Group zeigte die Ausstellung aus Anlass der 50 Jahre zurückliegenden Gründung der jetzigen Green Party of England and Wales (damals PEOPLE, später The Ecology Party und The Green Party) eine Geschichte des (auch institutionalisierten) ökologischen Widerstands, aus der Ausstellungen zum Thema Care im Guten und Schlechten schöpfen könnten: Da waren Dokumente der braven Keep-Britain-Tidy-Kampagne (seit den 1950ern) mit gedruckten Müllvermeidungsanregungen für Schulen oder einem Foto mit stolz lachenden, offensichtlich müllsammelnden Frauen, da war der lila Hosenanzug aus der Zeit des ökofeministischen, antinuklearen Friedenscamps in Greenham Common (1980er) – eine Aktionsform, die in der medialen Erinnerung eher mit zivilem Widerstand und Festnahmen verbunden ist –, und schließlich waren da aktuelle Extinction-Rebellion-Plakate. Die Sammlung griff kurz, war allemal aufschlussreich bezüglich der Verästelungen der frühen ökologischen Klasse in Großbritannien, zeigte aber vor allem Widerstand als Objekt politischer Form – ein Aspekt, den Dear Earth in der Hayward Gallery kaum einlöste.