Heft 4/2023 - Artscribe


Humans and Demons

21. September 2023 bis 15. Oktober 2023
steirischer herbst 23 / Graz

Text: Eva Scharrer


Graz. In seinem Buch vom Lachen und Vergessen (1979) beschreibt Milan Kundera das Leben als Koexistenz „engelhafter“ und „dämonischer“ Elemente – wobei Engel und Dämonen sich primär dadurch unterscheiden, dass sie über unterschiedliche Dinge lachen. Angesichts der globalen Krisen, humanitären Katastrophen und dem Wiedererstarken totalitärer Systeme gehe es auch bei Humans and Demons nicht um Polarisierung zwischen Gut und Böse, sondern eher um „Status quo und Böse“ – so Intendantin Ekaterina Degot in ihrer Eröffnungsrede –, um die „Grauzonen“ jenseits moralischer Urteile, das Dilemma, zwischen zwei Übeln das Erträglichere wählen zu müssen.
Der heurige steirische herbst ist die sechste Ausgabe unter der Intendanz der in Russland geborenen Kuratorin und die zweite im Angesicht des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Wie in den vorausgegangenen Jahren nehmen Degot und ihr Team auf das aktuelle politische Klima mit einer Art analoger Hyperfiktion Bezug. Neben Performances, Konzerten und Parallelprogrammen entwickeln sich die Narrative wie ein Fortsetzungsroman in vier über die Stadt verteilten Ausstellungen, in denen „kuratorische Interventionen“ jeweils komplexe Charaktere evozieren, deren Wege Graz kreuzten – oder hier endeten.
So kreist das Kapitel Demon Radio in einem ehemaligen Callcenter im Villenviertel Mariatrost um die höchst ambivalente Figur des Dietrich Schulz-Köhn (1912–99). Der später als Dr. Jazz bekannte Radiomoderator war in den 1930er-Jahren Mitglied des Hot Club de France – seine Begeisterung für Jazz und Hot Swing hielt ihn jedoch nicht davon ab, als überzeugter Nazi der SA und NSDAP beizutreten; genauso wenig hinderte das Verbot der „Negermusik“ unter den Nationalsozialisten ihn daran, sich während des Zweiten Weltkriegs als Oberstleutnant der Luftwaffe in Paris mit Django Reinhardt und Schwarzen Musikern fotografieren zu lassen. Archiv und Plattensammlung der 1969 von ihm in Graz gegründeten Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung bilden den Kontext für Werke, die um das komplexe Verhältnis von Macht, Erinnerung und akustischen Impulsen kreisen – etwa Anton Kats The Cemetery of Melodies Alive (2023), eine auditive Suche nach einer Kindheit in der ukrainischen Stadt Cherson, oder Dani Gals Film Dark Continent (2023), der eine Fallstudie Frantz Fanons aus dessen antikolonialem Schlüsselwerk Schwarze Haut, weiße Masken (1952) nachstellt: Ein Analytiker geht den psychischen Störungen einer jungen weißen Französin nach, die vom Klang afrikanischer Trommeln verfolgt wird. Die rassistische Phobie entpuppt sich als Erbe der kolonialen Imagination, stand doch das Trommeln in den französischen Kolonien unter Verdacht, Signale der Rebellion zu übertragen. In der Videoinstallation Rehearsing Azaad Hind Radio (2018) von Zuleikha Chaudhari – brillant inszeniert in einer spiegelnden Glaskabine, die den Sender für nationalistische indische Propaganda evoziert, der sich im Zweiten Weltkrieg in Berlin befand – stellen Schauspieler Subhash Chandra Bose dar, einen militanten Anführer der indischen Dekolonisation, der mit Nazi-Deutschland und dem imperialistischen Japan kollaborierte. Boses glühende Radiopropaganda ist versetzt mit kritischen Kommentaren zum Nationalismus – das Publikum ist gezwungen, zu differenzieren, während es mit der eigenen Reflexion konfrontiert ist.
Das Forum Stadtpark wurde zur Villa Perpetuum Mobile, der fiktiven Residenz des Physikers, Dichters und zeitweiligen Psychiatriepatienten Stefan Marinov (1931–97), der in seiner Heimat Bulgarien erfolglos gegen die kommunistische Herrschaft rebellierte, Einsteins Relativitätstheorie infrage stellte und zeitlebens an der Entwicklung eines Perpetuum mobile arbeitete. In Graz gründete er das Institute of Fundamental Physics – nach dem Scheitern seiner Experimente stürzte er sich in den Tod. Marinovs Nachlass ist eingebettet in künstlerische Inszenierungen, etwa von Alice Creischer, Vadim Fishkin und Pedro Gómez-Egaña, die sich mit esoterischer Physik, alternativen Energien und gescheiterten Utopien auseinandersetzen. In Michael Stevensons pneumatischer Installation Strategic-Level Spiritual Warfare (2014–23) entscheiden computerspielende KI-Bots darüber, in welche Richtung sich zwei Türen „wie von Geisterhand“ öffnen – ein Schwellenmoment gefühlter Ohnmacht gegenüber dem unsichtbaren Bösen.
Um Geister einer gescheiterten Moderne geht es in Church of Ruined Modernity im barocken Minoritenkloster, wo KI-generierte Fotografien die nach Brasilien emigrierte abstrakte Malerin Mira Schendel (1919–88) auferstehen lassen. Wegen ihrer jüdischen Herkunft unternahm Schendel 1944 eine undokumentierte Reise nach Graz, um an Ausreisepapiere zu gelangen. Während Meg Stuart, Maria Loboda und Andreas Fogarasi Versatzstücke modernistischer Architekturen durch Tanz, Skulptur und Assemblage verarbeiten, erzählt Dana Kavelina in ihrem expressionistisch-surrealen Animationsfilm The Lemberg Machine (2023) mit Puppen die Geschichte der Pogrome in der westukrainischen Stadt Lwiw. Zu Beginn erwachen vier Figuren eines stalinistischen „Monuments der Völkerfreundschaft“ zum Leben und beginnen, auf Ukrainisch, Polnisch, Jiddisch und Russisch zu streiten. Vier Jahre arbeitete Kavelina an dem Film, wiederholt unterbrochen durch die politischen Ereignisse, die den ursprünglichen Plot untergruben.
Die aus Angst vor NS-Verfolgung nachträglich manipulierte Postkarte einer Friedensdemonstration von 1925 lieferte schließlich die Inspiration für die versunkene Welt von Submarine Frieda in einem leerstehenden Supermarkt im Stadtteil Gries.
Die spekulative Beschwörung historisch ambivalenter Figuren und Momente vor und nach WWII stellt die These auf, dass wir das 20. Jahrhundert nie verlassen haben, was sich angesichts der aktuell wütenden Kriege traurig bestätigt. In den klugen Inszenierungen von Humans and Demons findet sich jedoch immer auch Humor – ein dämonisches Lachen, vielleicht, und doch menschlich.