Wien. Der Vers No Feeling Is Final1 als Titel einer Ausstellung, die Werke aus und um die Skopje Solidarity Collection präsentiert, ist ein immanentes Signal, dass das Verständnis von Solidarität als poietisches Prinzip2 hier von einer Betonung der Beziehungen geprägt ist, einem „Geflecht der Angewiesenheiten von Menschen untereinander“, wie Norbert Elias es formulierte.
Basierend auf einer historisch-materialistischen Perspektive erforschen diese von ihm sogenannten Figurationen, die als markante Wegweiser durch die räumlichen und konzeptionellen Dimensionen der Kunstwerke führen, Solidarität, Erinnerung und Transformation im Kontext des Wiederaufbaus von Skopje nach dem Erdbeben von 1963. Die Stadt in der damaligen jugoslawischen Republik Mazedonien wurde von einem so verheerenden Erdbeben heimgesucht, dass seine Folgen – erstmals in der Geschichte – weltweit in den TV-Nachrichten ausgestrahlt wurden und einen Akt internationaler Aufmerksamkeit und Solidarität auslösten – eine „beispiellose Übung in der von der UN koordinierten Hilfe und blockübergreifenden internationalen Zusammenarbeit“3.
Während internationale Akteur*innen den Wiederaufbau, die neue Stadtplanung und die Bereitstellung humanitärer Hilfe für Skopje vorantrieben, versammelten sich Künstler*innen aus aller Welt, um Kunstwerke für die spontane Einrichtung des Museums für zeitgenössische Kunst in Skopje (MoCA) zu spenden.
Die Sammlung, die Werke des internationalen Modernismus umfasst, verzichtete damit auf das herkömmliche Sammlermodell, das auf dem Kauf, dem Besitz und der Kuratierung von Objekten beruht. Sie ist „im Widerspruch zur Notwendigkeit des Kapitals für seine Formierung und im Widerspruch zu den Marktbeziehungen im Bereich der Kultur geschaffen worden, da die Künstler*innen selbst Spender waren“. Zu diesen gehörten unter anderem Alfred Hrdlicka, Christo & Jeanne-Claude, Boško Kućanski, Pablo Picasso, Aneta Svetieva.
Im Fokus der Ausstellung steht eine kritische Betrachtung der Solidarität als kreativer Gestalterin zeitgenössischer sozialer, architektonischer und künstlerischer Realitäten. Dies erfolgt im Kontext der wiederholten historischen Zerstörung der Stadt und den politischen Nachwirkungen, welche die Bewegung der Blockfreien, die neoliberale Rekonstruktion Skopjes sowie die Überreste des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs mit thematisiert.
Ein Zitat des ersten Direktors des MoCA, Boris Petkovski, lädt prominent in den Ausstellungsraum ein und fasst das Wesen des kuratorischen Vorhabens zusammen: „Das MoCa ist ein Denkmal [...] der Solidarität [...] eine aktive Kraft, die ästhetische, politische, religiöse und rassische Grenzen überschreitet.“
Die Ausstellung nutzt die Szenerie einer postjugoslawischen Landschaft, um die Machbarkeit, Dringlichkeit und Relevanz von sozialer Regeneration, kultureller Wiederbelebung, kollektivem Wiederaufbau, von Kunstsammlung und Solidarität in einem zeitgenössischen Kontext zu untersuchen. Sie wirkt wie eine Hommage an die Strategie der kollektiven Eigenständigkeit4 der Blockfreien, die heute nicht mehr vorherrscht.
Indem vier Künstler*innen und ein Duo eingeladen wurden, nicht nur ihre eigenen Werke zu präsentieren, sondern auch Werke aus der Sammlung auszuwählen und zu kuratieren, fördert die Ausstellung das Potenzial, neue Solidaritäten zu schmieden und bestehende neu zu interpretieren – besonders durch die Beiträge von Siniša Ilić und Barbi Marković.
Darüber hinaus ist das kuratorische Vorhaben selbst ein Versuch, kritisch über das Potenzial solidarischer Aktionen zum Abbau der im Kolonialismus verwurzelten Machtverhältnisse nachzudenken. Ein zeitgenössisches Bild der čarsija von Skopje der Wiener Fotografin Elfie Semotan wird etwa dem Brief des österreichischen Generals Johann Norbert Piccolomini an Kaiser Leopold I. aus dem 17. Jahrhundert gegenübergestellt, in dem er das rege kulturelle Leben in Skopje lobt und erklärt, warum er die Stadt „wenn auch nicht gerne, in Asche verwandeln musste“5. Dieser Antagonismus wird durch Semotans Bilder der zeitgenössischen Stadtlandschaft von Skopje vor den starren Wänden der Kunsthalle noch verstärkt. Der Abschnitt „Context“ bietet eine architektonische Darstellung des zeitgenössischen Skopje und Archivmaterial über Wiederaufbauarchitekten wie die First Archi Brigade, die das Projekt Skopje 2014 kritisierten. Calovski und Ivanoska thematisieren neben der Bekämpfung der Kolonialität im musealen Kontext Oskar Hansens experimentellen Vorschlag für eine „Offene Form“ des MoCA. Dabei verdeutlichen die Künstler*innen sowohl die Komplexität der Interaktionen als auch die Bruchstellen, an denen Solidarität entstehen kann oder nicht.
Nicht zuletzt steht auch die Politik des Sammelns im Mittelpunkt, wobei untersucht wird, wie die Praxis des Sammelns durch verschiedene Ansätze Solidarität fördern kann. Die Ausstellung selbst ist als kollaboratives Forschungsprojekt konzipiert. Den Künstler*innen wurden drei entscheidende Fragen gestellt6 und die Antworten auf diese Fragen spiegeln sich in der Gestaltung der Ausstellung wider. Gülsün Karamustafa betont humorvoll den Objektwert, indem sie gefälschte Kreideumrisse um die Objekte legt, als wären sie Teil eines Tatort-Spiels. Iman Issa problematisiert den Objektwert und die Kontextualisierung, sie konzentriert sich auf geometrische Werke und harmoniert so mit Calovski und Ivanoskas Beitrag. Die Ausstellung eröffnet mit einem bewegenden Ausschnitt aus Skopje ’63, der Solidaritätsbilder einfängt. Dies dient als eindringliche Erinnerung an die gegenwärtige Realität eines fehlenden humanitären Einsatzes angesichts der anhaltenden schweren Katastrophen, während sich die geopolitischen Platten, die während des Kalten Krieges entstanden sind, erneut zu verschieben beginnen.
Vor diesem düsteren und rigiden Hintergrund, vor dem Räume für Demonstrationen der Solidarität erheblich eingeschränkt sind, vermittelt die Ausstellung auf eindringliche Weise die politische Dringlichkeit, mit der sie die Immanenz der Solidarität als Prinzip fordert, um strukturelle Bedingungen neben den kulturellen Maximen der Gegenwart anzugehen.
[1] Aus Rainer Maria Rilkes Gedicht Geh an die Grenzen deiner Sehnsucht, 1905.
[2] Chakkalakal, Silvy, Figuration als Poiesis. Macht, Differenz und Ungleichheit in der figurationalen Kulturanalyse, in: Peter Hinrichs/Martina Röthl/Manfred Seifert (Hg.), Theoretische Reflexionen – Perspektiven der Europäischen Ethnologie. Berlin: REIMER, (135–152.) 2021.
[3] Mira Gakjina, Vorwort, Ausstellungskatalog, 2023, S. 7.
[4] Ljubica Spasovska, Building a Better World? Construction, Labour Mobility and the Pursuit of Collective Self-Reliance in the „Global South“, 1950–1990, in: Labor History, 59 (3), 2018, S. 1–21.
[5] Zitiert nach Jovan Popovski, Skopje 63–83. Ljubljana: Partizanska knjiga: Beograd OOUR 1983, S. 51.
[6] „Wie ist Ihre Sicht auf Solidarität in der heutigen Welt, wie verbinden Sie die ausgewählten Werke mit Ihrer eigenen Praxis und welche Eindrücke haben Sie vom MoCA Skopje und ihrer Sammlung?“