Heft 4/2023 - Artscribe


titre provisoire (Kollaboration von Cathleen Schuster und Marcel Dickhage) – A cold case or happiness

6. August 2023 bis 24. September 2023
Halle für Kunst Lüneburg / Lüneburg

Text: Vera Tollmann


Lüneburg. Los Angeles? Los Angeles ist ein überdetermininierter Drehort. Das Publikum hat die Filmstadt vielfach in Filmen gesehen. Zuletzt in Greta Gerwigs Barbie. Da diente Los Angeles als Hintergrund und Bühne für „the real world“ und wurde zum Abziehbild – durch einen Abschnitt von Fun-Place Venice Beach, einer generischen Headquarter-Architektur, einer typischen Highschool. Neben unzähligen in Los Angeles spielenden Filmen zeigte L.A. plays itself (2004) in einem fast dreistündigen dokumentarischen Zusammenschnitt Filmszenen, wilde Actionszenen, selbstverständliche Autoszenen, düstere Crime Scenes und zwischenmenschliche Dramen, um über die urbanen, architektonischen Veränderungen nachzudenken, die Gegenstand von kulturgeschichtlichen Büchern wie Norman Kleins History of Forgetting waren. Ganze Viertel wie Bunker Hill verschwanden und wurden zum Baugrund für postmoderne Kolosse wie das verspiegelte Westin Bonaventure, die für eine neue Ordnung von Stadt, Konsum und Subjekten sorgen wollten. Was früher einmal als Fake, unauthentisch oder als modern liberal galt, wurde von immer neuen Versionen des Künstlichen wie Modernen überholt. Nebenbei kritisiert L.A. plays itself Regieversuche europäischer Auteurs, die nicht mit der amerikanischen Kultur und insbesondere Los Angeles aufs Engste vertraut sind, als touristisch und ins Cartoonhafte tendierend.
Wie kann nun unter den beschriebenen Bedingungen etwa ein Künstlerpaar aus Berlin getarnt mit einem französischen Künstlernamen, titre provisoire, in dieser Stadt filmen und erzählen, sie anders erscheinen lassen als in den bekannten Filmbildern? Insbesondere dann, wenn letztlich die genannten Motive – Autofahren, Architekturikonen, Highways – möglichst ohne Americanisms auskommen sollen? In der Gegenwartskunst wurde es, was Los Angeles betrifft, zuletzt ruhiger, banaler. Chris Kraus kommentiert bei den in Video Green1 versammelten, über die Jahre entstandenen Ausstellungsbesprechungen und Künstlerporträts nebenbei ihre Eindrücke von Los Angeles und rückt das Bild zurecht, etwa wenn sie schreibt, dass es nicht die bekannten Architekturikonen oberhalb vom berühmten Mulholland Drive sind, die sie aus ihrem Autofenster sieht. „As anyone who’s lived here any length of time knows, there is hardly any architecture in Los Angeles.“ Stattdessen sind es „miles and miles of low-rise stucco apartment complexes.“ Genau dieses Häusermeer filmen Dickhage und Schuster aus einem schwarzen Mietwagen. In ihrer Videoarbeit, die während einer Residency im Schindler-Haus entstand, bedeutet Autofahren nicht mehr Mobilität und Freiheit, sondern deutet vor allem auf den Verbrauch fossiler Brennstoffe, Luftverschmutzung und Stau hin. Mit solchen Szenen gelingt es Schuster und Dickhage, die urbane Kulisse und ihre drei Darsteller*innen zu inszenieren, sodass die Bilder nicht abgenutzt, sondern sowohl subjektiv sinnlich als auch nachdenklich erscheinen. In einer 20-minütigen Handlungsabfolge mit dem andeutungsreichen Titel A cold case or happiness spielen sie auf die Frage nach einem glücklichen Leben in Zeiten multipler Krisen der Gegenwart (und deren Ursachen) an: die Immobilienkrise, das Anthropozän oder Kapitalozän. Sie deuten zaghaft Widerstände und Momente von Solidarität an.
Verhandelt wird mit Worten und mit Körpern, die gesellschaftliche Probleme und gemeinschaftliche Erfahrungen in den Vordergrund rücken. Wenn in der Moderne etwa Rudolph Schindlers Entwurf einer „kooperativen Behausung für zwei junge Paare“ als progressiver Wohnentwurf galt, bewegt sich das Denken heute in immaterielle queere Räume des Zusammenlebens. Der skeptische Blick, den Dickhage und Schuster auf die Visionen der Moderne werfen, zeigt sich in Bildausschnitten, die nicht den von Fotografen wie Julius Shulman etablierten Bildmotiven folgen. In einer Szene parkt das Auto im Hof der Mackey Apartments aus den 1930er-Jahren. Die drei Darsteller*innen sprechen ihre Texte zwar wie Gesprächsbeiträge, jedoch repräsentieren sie keine individuellen Sprecherpositionen, sondern wie im postdramatischen Theater ist es ein fortlaufender Text, den die Subjekte gemeinsam entwickeln.
In der Halle für Kunst Lüneburg, die seit 20 Jahren in einer ehemaligen Maschinenfabrik untergebracht ist, könnte der Unterschied zu Schindlers Wohnhäusern nicht größer sein. Die dortigen Inszenierungen von Natur – der Garten, die Sichtachsen aus den Innenräumen im Fitzpatrick-Leland-Haus am Mulholland Drive – spielen hier keine Rolle. Für die Ausstellungsbesucher*innen stehen kühle Hocker aus Metall bereit. Mit der Materialwahl spielen sie auf den „cold case“ an, wie Max Weber die stählerne Architekturgehäuse einmal kritisch versinnlichte. In der Schlussszene nehmen die Darsteller*innen an einem Konferenztisch Platz und verhandeln anhand abstrahierter Karten die Aufteilung von Räumen, wie sie in der Globalisierung vielfach ausgrenzend passiert. Ihre Referenzen aus kritischer Theorie und Affekttheorie ziehen sich subtil durch Bild und Text. Etwa taucht das Westin Bonaventure auf, das im Inneren einen ortsunspezifischen „postmodernen Hyperraum“ umschließt, über den Fredric Jameson schrieb. Um sich jenseits solcher Architektur, die kollektiv erlebt werden sollte und zu vereinzelnden, dislozierenden Erfahrungen führte, wieder zu sammeln, ziehen sie das Bewegungsrepertoire aus dem zeitgenössischen Tanz – choreografierten Bewegungen und improvisierten spontanen Moves, die auf die Bewegungen der anderen Körper reagieren.

 

 

[1] Chris Kraus, Video Green. Los Angeles Art and the Triumph of Nothingness. Semiotext(e) 2004.