„Die Zeit, die in unserer Vorstellung jedes Ding bemisst und für unsere Vorhaben oft nicht ausreicht, ist für die Natur endlos wie nichts. […] Das Ergebnis unserer gegenwärtigen Untersuchung ist daher, dass wir keine Spur eines Anfangs finden – keine Aussicht auf ein Ende.“1 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte der Geologe James Hutton das Konzept der Tiefenzeit und brach so mit biblischen Erzählungen des Lebens auf der Erde. 200 Jahre später wird in der Anthropozändebatte dem Menschen eine Kraft analog zu den die Erde formenden Prozessen auf der Ebene einer solchen Tiefenzeit attestiert und versucht, ihn in diese „endlose“ Zeit einzuordnen. Einschneidend für das Anthropozän ist die Great Acceleration ab Mitte des 20. Jahrhunderts: der plötzliche Anstieg von globaler Population und Konsumtion, die Nutzung von Plastik, der Einbruch landwirtschaftlicher Diversität; und auch: der Beginn des Informationszeitalters.
Die Künstlerin Agnes Fuchs greift diese Zeit besonders in Bezug zu Letzterem auf. Ihre jüngsten Ausstellungen Her Eyes Were Green im Wiener mumok und There Comes the Sun/ – Disaster and Desire im Kunstraum Engländerbau im liechtensteinischen Vaduz spannen den Bogen von Fragen der Technisierung und Informatisierung zur Verortung dergleichen in einer neuen geochronologischen Epoche.
Der Vaduzer Ausstellungstitel drückt den Wandel des Zeitgeists aus: vom Pop-Hit einer Ära voller Technikeuphorie und Expansionsstreben (The Beatles – Here Comes The Sun) hin zu Diskursen um die Klimakatastrophe und düsteren Fantasien technologischer Singularität – Begehren und Desaster liegen eng beieinander, zu Huttons endlos ausgedehnter Zeit gesellen sich menschengemachte Endzeitszenarien. Dabei zeigt sich im Begriff sogenannter „sociotechnical imaginaries“2, wie das Denken von Zeit und Technik in sich verzahnt ist. Die Vorstellung begehrenswerter, sprich: normativer Zukünfte ist meist verbunden mit kollektiven, institutionell stabilisierten Visionen sozialen Fortschritts und technischer Entwicklung. Demgegenüber wirft Fuchs einen „Blick zurück in die Zukunft“: Alte Ausgaben von GEO. Das neue Bild der Erde bilden die Sockel für Leinwände, die so zu „hybriden Formen“3 werden; die mediale Präsentation neuer Technologien wird zum Unterbau von Fuchs’ malerisch-konzeptueller Appropriation von Messkurven und Diagrammen.
„Sociotechnical imaginaries“ sind stark vom Anthropozän informiert. Dabei geschieht der Nachweis des Klimawandels als Symptom desgleichen mithilfe mathematischer Modelle, die Daten in einen Kontext stellen und ihn zu einem „kognitive[n] Konstrukt“4 machen, das solch (räumlich und zeitlich) große systemische Effekte erst denkbar macht. „Der Globus ist auf unserem Computer“, wie Gayatri C. Spivak in Bezug auf solche Prozesse des Austauschs, der Darstellung und Berechnung der Erde feststellt.5 Dieser angestrebten Kontrolle durch Berechenbarkeit eignet durchaus ein (historisch gewachsenes) koloniales Moment, doch zeigt sich daran sogleich auch das Spannungsfeld zwischen historischer Zeitskala und erdgeschichtlicher Tiefenzeit, wie es Dipesh Chakrabarty beschreibt.6 War es lange allein um eine Geschichtsschreibung menschlicher Kultur gegangen, wird die Erde nun abseits kultureller Eigenheiten der Menschen als ein System gedacht (effektiv etwa vom „Weltklimarat“ IPCC).
Die Bemühung solch berechnender Technologien wird zum Angriffspunkt von Fuchs’ künstlerischer Praxis. Fuchs interessiert sich für die technisierten Betrachtungsweisen der Welt und nimmt „Beobachtungen zweiter Ordnung“ vor: Es geht ihr nicht um die verwendete Technik selbst, sondern um die „Beobachtung eines Systems an Vermittlungen“7. Im langsamen Medium der Malerei eignet sie sich – oft aus ihrer eigens zusammengestellten Sammlung von Gebrauchsanweisungen – Diagramme, Graphen und Texte an.
In Fuchs’ Ausstellungen begegnet man Schau-, Malerei- und Messbildern. Dabei sind die Leinwände im mumok entsprechend ihrer Größe im Duktus eines wellenförmigen Graphen montiert; die schräg an die Wand gelehnten Bildträger erinnern an die Autorität technischer Schautafeln; ansteigende Kurven in der Vaduzer Schau an den exponentiell steigenden Ressourcenverbrauch. Die großformatig angelegte Abbildung einer Lochkarte (einem Grundbaustein der Vorgänger heutiger Computer) (Poem #4) deutet auf eine ermöglichende Bedingung dieser Kurven hin: die Verarbeitung großer Datenmengen. Denn neben ansteigenden Indikatoren hat auch das menschliche Wissen (über dieselben) zugenommen; in den 1970er-Jahren hat sich die Praxis der Klimamodellierung immer mehr verbreitet.8 Die Ubiquität von Computerprozessen (ein auf den Boden gemalter Schaltkreis durchzieht den Wiener Ausstellungsraum) produziert heute zusehends mehr Daten, welche nun immer umfassender analysiert werden können – auch, um das Erdsystem zu beeinflussen.9
So verändern Technologien die Wahrnehmung der Welt. Früher war an naturwissenschaftlich produzierte Weltmodelle selbst eine „Gebrauchsanweisung“ geknüpft, wie es Hans Blumenberg genannt hat – ein Weltbild, eine Erfassung von Möglichkeiten, Notwendigkeiten, Handlungszielen und eigenem Selbstverständnis. Eine naturwissenschaftliche „Totalvorstellung der empirischen Wirklichkeit“ bietet schließlich noch keinen „Erkenntniszusammenhang des Menschen für den Menschen“10. Blumenberg zufolge markierte allerdings schon der Beginn der Neuzeit einen „Weltbildverlust“, da sich das bis dahin etablierte monistische Weltbild plötzlich mit einer Pluralität konfrontiert sah und naturwissenschaftliche Modelle dessen Geltungsanspruch zusätzlich erodierten.
Das Anthropozän strapaziert dieses Spannungsverhältnis. Das gängige Modell der Welt ist heute ein Erdsystem, welches mithilfe der von Fuchs verhandelten Techniken erschlossen wird. Nun ist allerdings jegliches Systemdenken nicht nur „fundamentally hard for human beings“11, sondern es gibt darüber hinaus weder ein geschlossenes Weltbild noch eine Menschheit, die als solche adressiert werden könnte.12 Ungeachtet dessen werden künftige politische Aushandlungen zwangsläufig auch datenbasiert geführt werden. So wähnt sich ein Teil der Menschheit auf dem Weg zur technischen Steuerung des gesamten Erdsystems (Geo-Engineering). Als datenintensive Praxis ist dies sicher nur ein weiterer Schauplatz, auf den sich das Gefüge von Disaster and Desire als Pauspapier legt, und der sich mit einer Kunst befragen ließe, die Daten und ihre Mediatisierung thematisiert.
[1] James Hutton, zitiert bei Stephen J. Gould, Time’s arrow, time’s cycle: myth and metaphor in the discovery of geological time. HUP 1987, S. 64f. (eigene Übersetzung).
[2] Sheila Jasanoff/Sang-Hyun Kim, Dreamscapes of Modernity. Sociotechnical Imaginaries and the Fabrication of Power. University of Chicago Press 2015, S. 4.
[3] Gespräch mit der Künstlerin, 13. Oktober 2023.
[4] Matteo Pasquinelli, Das Auge des Algorithmus. Kognitives Anthropozän und die Entstehung des Weltgehirns, in: springerin, 4/2014, S. 24.
[5] Gayatri C. Spivak, Imperative zur Neuerfindung des Planeten. Imperatives to re-imagine the planet. Passagen 1999, S. 45.
[6] Dipesh Chakrabarty, The Climate of History: Four Theses, in: Critical Inquiry, Bd. 35, Nr. 2, Januar 2009, S. 197–222.
[7] Gespräch mit der Künstlerin, 13. Oktober 2023.
[8] Paul N. Edwards, >A Vast Machine. Computer Models, Climate Data, and the Politics of Global Warming. MIT Press 2010, S. XVI.
[9] Paul N. Edwards, Knowledge Infrastructures for the Anthropocene, in: The Anthropocene Review, Bd. 4, Nr. 1, April 2017, S. 34–43.
[10] Hans Blumenberg, Weltbilder und Weltmodelle, in: ders., Schriften zur Technik. Suhrkamp, S. 128f.
[11] Edwards, Knowledge Infrastructures for the Anthropocene, S. 40.
[12] Dipesh Chakrabarty, Planetary Humanities: Straddling the Decolonial/Postcolonial Divide, in: Daedalus, Bd. 151, Nr. 3, August 2022, S. 222–233, hier: S. 231.