Heft 4/2023 - Imperiale Gewalt


Zunehmende Komplizenschaft

Zum Verhältnis von ukrainischer und russischer Kunstszene vor dem Ausbruch des Krieges

Herwig G. Höller


Vor dem 24. Februar 2022 hatten viele sowohl in Kyjiw als auch in Moskau nicht daran glauben wollen, dass Wladimir Putin tatsächlich einen Überfall der Ukraine anordnen und damit den größten europäischen Krieg seit 1945 vom Zaun brechen würde. Diese Fehleinschätzung betraf auch Vertreter*innen der Kunstszene in beiden Ländern, die lange Zeit miteinander kooperiert hatten. Erst seit der russischen Annexion der Krim im Frühjahr 2014 hatte diese Zusammenarbeit sukzessive abgenommen. Insbesondere auch weil Reisen beschwerlicher wurden und die Behörden beider Länder Staatsbürger*innen des jeweils anderen Landes mit Misstrauen begegneten.
Dabei hat die wirkungsmächtige Vorgeschichte der Invasion nicht erst 2014 begonnen, betroffen davon sind auch nicht allein ideologische Grundlagen oder politische Projekte. Vielmehr waren in der postsowjetischen Massenkultur Russlands zuvor schon revisionistische Töne angeschlagen und Ukrainer*innen als Feind*innen dargestellt worden, erstmals laut und deutlich im Jahr 2000: Wenige Tage nach Wladimir Putins erster Inauguration als Präsident hatte am 11. Mai 2000 mit Brat 2 („Bruder 2“) einer der erfolgreichsten russischen Actionfilme seine Kinopremiere in Moskau gefeiert. Er handelt vom nationalen Vorzeigehelden Danila Bagrow und seinem Bruder Wiktor, die einen von ukrainischen Mafiosi unterstützten Verbrecherboss in den USA bekämpfen. Im Film illustriert ein jüdischer Emigrant den Niedergang Russlands unter anderem mit dem Verlust der Krim an die Ukraine. Und Wiktor nennt einen ukrainisch sprechenden Verbrecher nur aufgrund seiner Sprache „benderowez“ – ein abwertender und nach 2014 häufig verwendeter Begriff, der ursprünglich auf Anhänger des Nationalistenführers Stepan Bandera (1909–59) bezogen war. Schließlich erschießt er den Ukrainer mit den Worten: „Ihr Schweine werdet noch für Sewastopol zur Rechenschaft gezogen werden!“
Die antiukrainischen Elemente des Filmes, der 2022 erneut regulär in russischen Kinos anlaufen sollte, waren zum damaligen Zeitpunkt unerwartet gekommen. Forderungen aus den 1990er-Jahren nach einer Rückgabe der seit 1954 zur ukrainischen Sowjetrepublik gehörenden Krim an Russland hatten zu diesem Zeitpunkt an Aktualität verloren. Und auch von einem gegen Ukrainer*innen gerichteten Nationalismus in Russland konnte zu diesem Zeitpunkt keine Rede sein, eher im Gegenteil: Die Bewohner*innen des südwestlichen Nachbarlands zeichneten sich laut Meinungsumfragen bei Russ*innen durch maximale Sympathiewerte aus.
Vieles in Brat 2 lässt sich im Kontext russischer Reaktionen auf NATO-Luftschläge gegen Restjugoslawien während des Kosovo-Krieges von 1999 verstehen. Der Regisseur Aleksey Balabanow legte mit seinem Film jedoch nahezu visionär und gleichzeitig ohne erkennbare kritische Distanz einen Vektor der russischen Politik offen, für den es eigentlich erst mit Reaktionen auf den als Orange Revolution bezeichneten Machtwechsel in der Ukraine 2004/05 wirkliche Anzeichen gab, der mit der Annexion der Krim und dem hybriden Krieg im Donbass 2014 deutlich wurde und der 2022 für Zehntausende Todesopfer sorgen sollte: Die Versuche Putins, die Ukraine unter Kontrolle zu halten oder zu bringen, sind nicht nur Teil der versuchten Restauration eines Imperiums, sondern auch zentrales Element einer Konfrontation mit dem Westen. Die Rede ist dabei von einer Auseinandersetzung, die stets mehr mit russischer Innenpolitik und dem Machterhalt als mit Geopolitik oder einer realen militärischen Bedrohung für Russland zu tun hatte.

Psycho-Methodologen
Anders als in Brat 2 spielte die Ukraine für die bildende Kunst Russlands und seine Institutionen indes nur eine nachrangige Rolle. Hatten in den letzten Jahren der Sowjetunion und Anfang der 1990er-Jahre etwa die Transavantgardist*innen aus der Kyjiwer Straße der Pariser Kommune noch fast als Teil der Kunstszene von Moskau gegolten, nahmen die Kontakte in der Folge deutlich ab.
Dauerhaft großes Interesse an der Kunst des Nachbarlands zeigten vor allem zwei Moskauer Galeristen: Wladimir Owtscharenko (Ridschina 1990–2018, Owtscharenko 2018–) konnte nicht nur die wahrscheinlich wichtigste Sammlung von Gemälden des führenden Pariser-Kommune-Vertreters Oleh Holossij (1965–93) zu dessen Lebzeiten anlegen, er kooperierte in der Folge auch mit ukrainischen Künstlern wie Wolodymyr Koschuchar, Maksym Mamsykow, Illja Tschitschkan, Serhij Sarwa oder Serhij Bratkow. Letzterer war im Herbst 2004 auch für jenes Plakat der Galerie verantwortlich, in dem sich Ridschina mit der Orangen Revolution in der Ukraine solidarisierte.
Ebenfalls seit den frühen 1990er-Jahren hatte sich auch der im moldawischen Chișinău geborene Galerist Marat Gelman mit der ukrainischen Szene beschäftigt. Seine 1990 in Moskau gegründete Galerie, die kurz nach ihrem Entstehen etwa den Odessaer Maler Oleksandr Rojtburg präsentierte, war zunächst scherzhaft auch als „ukrainische Mafia“ bezeichnet worden. Er stellte neben Künstlern der Pariser Kommune wie Oleksandr Hnylyzkyj, Arssen Sawadow, Wassyl Zaholow auch Angehörige der jüngeren Generation wie Schanna Kadyrowa aus, die als einzige Ukrainerin auch in Gelmans wichtigstem kuratorischen Projekt Russkoje bednoje („Russisches Armes“) (2008/09) vertreten war. Während eines Zwischenspiels als Direktor des Museums für zeitgenössische Kunst in Perm (2009–13) verantwortete Gelman 2010 mit der von Ekaterina Degot kuratierten Schau Jakschtscho (Ukrainisch: „wenn“) die wohl wichtigste Gruppenausstellung zeitgenössischer ukrainischer Kunst im postsowjetischen Russland.
Unter anderem mit Gelman werden aber auch „polittechnologische“ Aktivitäten in der Ukraine in Verbindung gebracht. Kurz nach der Machtübernahme durch den autoritären Putin, nachdem Wahlkämpfe in Russland an Relevanz verloren hatten, begannen sich russische „Polittechnolog*innen“ in größerer Zahl in der Ukraine zu engagieren. Oftmals blieb dabei unklar, ob die Auftraggeber*innen in Kyjiw oder Moskau saßen, durchwegs wurde die Ukraine in einem imperialen Sinn als Teil einer russischen Einflusszone behandelt.
So eröffnete Gelman im Herbst 2001 in Kyjiw eine von dem Künstler Rojtburd geleitete Filiale seiner Galerie. Während er in Moskau zwischen 2002 und 2004 offiziell als Vizedirektor des staatlich kontrollierten Fernsehsenders ORT/Perwyj kanal amtierte, agierte er in der Ukraine als dessen offizieller Vertreter. Gleichzeitig wurde ihm nachgesagt, im Parlamentswahlkampf 2002 für die Partei des späteren Putin-Vertrauten Wiktor Medwedtschuk gearbeitet zu haben. Gelman, der sich seit Mitte der 1990er-Jahre in politischen Kampagnen verdingt hatte und in diesem Rahmen auch Künstler*innen seiner Galerie Verdienstmöglichkeiten verschafft hatte, stritt eine Involviertheit in den Medwedtschuk-Wahlkampf seinerzeit ab.
Während der Galerist bei den Präsidentschaftswahlen 2004/05 keine Rolle spielte – seine Kyjiwer Filiale hatte im Sommer 2004 zugesperrt –, waren seinerzeit zahllose Kreative aus Russland im Zuge der Wahlauseinandersetzung aktiv. Im Zusammenhang mit einem geplanten Sprengstoffanschlag, der dem siegreichen Kandidaten Wiktor Juschtschenko hätte nützen sollen, nannten Ermittler einen „Antiquitätenhändler Dmitri“ als Auftragstäter. Dieser wäre für den im britischen Exil lebenden russischen Oligarchen und Putin-Gegner Boris Beresowski aktiv geworden. Der einzige bekannte Antiquitätenhändler aus Beresowskis Umfeld ist Dmitri Chankin, der mit seiner 2006 gegründete Galerie Triumf als relevante Größe der Moskauer zeitgenössischen Kunst gilt.
Aufseiten des Wahlverlierers Wiktor Janukowytsch waren indes als „Methodologen“ bezeichnete Anhänger einer vom sowjetischen Philosophen Georgi Schtschedrowizki (1929–94) gegründeten „Psychobewegung“ im Einsatz, darunter auch Timofej Sergejzew. Ursprünglich vom ukrainischen Oligarchen Wiktor Pintschuk, später Gründer der maßgeblichen Kyjiwer Kunstinstitution PinchukArtCentre, ins Land geholt, setzten die „Methodologen“ 2004 auch Künstler*innen ein, die Juschtschenko auf Flugblättern als Nazi, als Gegner traditioneller Moralvorstellungen oder als abgehobenen Bürokraten porträtierten. Insbesondere formulierte Sergejzew seinerzeit die wirkmächtige These von „drei Sorten von Ukrainer*innen“: Die Rede war von aus russischer Sicht verlorenen Ukrainer*innen im Westen des Landes, potenziell umerziehbaren Ukrainer*innen im Zentrum sowie prorussischen Ukrainer*innen im Osten und Süden.
Als Sergejzew Anfang April 2022 ein Manifest veröffentlichte, das nicht nur den russischen Überfall auf die Ukraine rechtfertigte, sondern auch die Zerstörung des ukrainischen Staates und eine von Repressionen begleitete Umerziehung von Millionen Ukrainer*innen verlangte, rückten die „drei Sorten“ in den Hintergrund. Wie Putin, der von diesen Thesen beeinflusst worden sein könnte, machte Sergejzew für negative Entwicklungen in der Ukraine einen „kollektiven Westen“ verantwortlich. Dieser habe den „ukrainischen Nazismus“ geplant, sei dessen Quelle und Sponsor.

Propagandaexpert*innen
Wie in der russischen Gesellschaft waren auch in der Kunstszene Sergejzews potenziell als Grundlage für Völkermord dienende Thesen vor 2022 kaum beachtet oder ernst genommen worden. Dies hatte insbesondere damit zu tun, dass Wahlkämpfe im postsowjetischen Russland auch von Künstler*innen mehrheitlich als etwas Karnevaleskes erachtet worden waren. Gerade diese Einschätzung erlaubte es teils prominenten Künstler*innen, dass sie fragwürdigen Wahlkampagnen ihre handwerklichen Fähigkeiten etwa unter Anleitung von Galerist Gelman bzw. für gute Bezahlung zur Verfügung stellen konnten.
Unterschätzt wurde auch die Bedeutung staatlicher Propaganda, deren zunehmend autoritärere, antiwestliche und auch militaristische Rhetorik lange Jahre vor allem als Schauspiel für minderbemittelte Landsleute interpretiert und eher ignoriert worden war. Die Botschaften aus dem Propaganda-TV wurden auch mithilfe von Ausstellungsprojekten kommuniziert, die der Staat vor allem nach 2014 für ein Massenpublikum konzipierte. Das betraf nicht nur große historische Ausstellungen wie Russland – meine Geschichte, womit der einflussreiche Bischof und Putin-Vertraute Tichon Schewkunow sein Land auf einen antiwestlichen Kurs einschwören wollte (2016), oder Russlands Atomkonzern Rosatom die sowjetische Atombombe abfeierte (2015).
Instrumentalisiert wurde aber auch bildende Kunst: Anlässlich des 80. Jubiläums von „Kriegskünstlerateliers“ richtete die Kulturabteilung des Verteidigungsministeriums 2015 in der Manege eine große Retrospektive aus. Zu sehen war unter anderem das 2009 in besten sowjetischen Traditionen entstandene Diorama Die Taufe der Soldaten des Fürsten Wladimir in Chersones der „patriotischen“ Künstlerstars Pawel Ryschenko und Aleksandr Samsonow, das die sakrale Bedeutung von Sewastopol unterstreichen sollte. Damit wurde implizit auch ein Gebietsanspruch artikuliert – die antike Stadt Chersones befand sich auf dem Gebiet des heutigen Sewastopol, das 2014 von Russland annektiert wurde.
Der Staat, insbesondere das Kulturministerium, engagierte zudem „zivile“ Expert*innen. Während sie sich diesbezüglich in ihrem eigenen Museum zurückhielt, kuratierte etwa die damalige Direktorin der Tretjakow-Galerie, Selfira Tregulowa, in der Manege zwei Großausstellungen: Romantischer Realismus. Sowjetische Malerei 1925–1945 (2016) verharmloste den sowjetischen Totalitarismus, Erinnerung der Generationen. Der Große Vaterländische Krieg in der bildenden Kunst (2019) konnte als ideologische Vorbereitung eines weiteren Krieges interpretiert werden.
Während sich freilich zahlreiche Künstler*innen explizit und selbst manche staatliche Kunstinstitutionen implizit gegen diesen Kurs aussprachen, nahm im Lauf der Jahre die Komplizenschaft mit Putins neoimperialer Politik merklich zu. Bereits im März 2014 hatten führende Kulturbürokrat*innen einen vom Kulturministerium lancierten offenen Brief unterzeichnet, in dem die Annexion der Krim begrüßt wurde. Als Unterzeichner*innen wurden unter anderem Irina Antonowa, Präsidentin des Puschkin-Museums in Moskau, Wladimir Gussew, Direktor des Russischen Museums in St. Petersburg, und als Privatperson auch der Direktor des Staatlichen Zentrums für zeitgenössische Kunst in Moskau, Michail Mindlin, angeführt.
Durch die Teilnahme am offiziösen Kunstfestival Tawrida, das seit 2015 mit Kreml-Unterstützung jeden Sommer auf der okkupierten Krim stattfindet, machten auch prominente Vertreter*innen der zeitgenössischen Kunst ihre Akzeptanz des Putin’schen Neoimperalismus deutlich: Tawrida beehrten Künstler*innen wie Juri Awwakumow, Pjotr Bystrow, Jegor Koschelew, Jelena Kowylina, Lew Jewsowitsch, Aleksandr Ponomarjow und Jewgeni Swjatski, Kurator*innen wie Anton Kotschurkin, Andrej Parschikow und Irina Saminskaja, Galerist*innen wie Dmitri Chankin, Jelena Kuprina-Ljachowitsch oder Juri Omeltschenko.
Doch auch private Institutionen akzeptierten zunehmend die Annexion. Als 2017 die vom Oligarchen Roman Abramowitsch und seiner damaligen Gattin Darja Schukowa gegründete Garage in Moskau eine erste Triennale für zeitgenössische russische Kunst ausrichtete, nahmen zwar keine auf der Krim residierende Künstler*innen selbst teil. Die Halbinsel fand sich aber auf einer Russland-Karte zum Projekt. Sie sei nach russischen Gesetzen offiziell Teil der Russischen Föderation, sagte damals Garage-Chef Anton Below. „Die Krim befindet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt in einer äußerst schwierigen Situation, sie sei aus dem künstlerischen Leben der Ukraine und von Russland ausgeschlossen“, begründete er.
Mehr als sechs Jahre später sorgte diese Positionierung der Garage für Protest: Die ukrainischen Künstlerinnen Dana Kavelina und Kateryna Lysovenko zogen im September 2023 Werke von einer Ausstellung im Berliner Schinkel-Pavillon zurück, die von der damaligen Ko-Kuratorin der Garage-Triennale, Katja Inosemzewa, kuratiert worden war.
Seinerzeit war dies kein größeres Problem gewesen, kooperierten selbst nach Bekanntwerden der besagten Russland-Karte einige ukrainische und viele Künstler*innen aus der Europäischen Union oder den USA weiterhin mit der Garage. Aber auch abseits dieser Institution fiel zwischen 2014 und 2022 eine Tendenz auf: Kurator*innen aus dem Westen vermieden bei wichtigen Projekten in Russland, Offensichtliches anzusprechen. Obwohl etwa die 6. Moskauer Biennale 2015 im Zentralpavillon des hochstalinistischen Ausstellungsgeländes WDNCh ausgetragen wurde, fand sich im Programm der Kurator*innen Bart De Baere, Defne Ayas und Nicolaus Schafhausen kein klarer Verweis auf den Kontext, in dem sie agierten. Dabei hätte es vor Ort genug Anlass zur kritischen und künstlerischen Reflexion gegeben. Das WDNCh galt nicht nur als zentraler Ort des sowjetischen Imperialismus, es war damals und ist weiterhin eines der klarsten Symbole für restaurative Tendenzen im Putin’schen Russland. Neben der Biennale-Schau befand sich damals eine fragwürdige antiwestliche Historienausstellung von Tichon Schewkunow, aber auch eine Freiluftschau russischer Waffentechnik, wo unter anderem ein Luftabwehrsystem vom Typ Buk-M1 präsentiert wurde. Dieses Kriegsgerät war im Jahr zuvor durch den Abschuss einer malaysischen Boeing über der Ostukraine auch international bekannt geworden.