Heft 1/2024 - Netzteil


Critical Radio

Community-Building und Solidarität bei einem Medium mit niedriger Bandbreite

Sumugan Sivanesan


Als ich 2020, im ersten Jahr der weltweiten Coronapandemie, das Projekt fugitive radio1 ins Leben rief, schien es, als würden alle einen Podcast machen – ich fragte mich nur, wer zuhörte. Als „würde ein Radio in den Wald senden“, witzelte Sophea Lerner, Mitbegründerin der unabhängigen Radioplattform {openradio}2. Neugierig auf das soziale Miteinander, das sich im Kontext (experimenteller) Radiotechnologien entwickelt, machte fugitive radio eine Reihe von Live-Sendungen in Form von „Performanceradio“ für das Pixelache Helsinki Festival #BURN____2021.3 Seit 2021 produziert es den monatlichen Podcast fugitive frequency für die Radiocommunitys Colaboradio/Freie Radios Berlin-Brandenburg4 und Helsinki Open Waves5. Es ist auch aktiv bei Lumbung Radio/Station of Commons6, einer Plattform, die für die documenta fifteen (2022) geschaffen wurde, und πNode7, einer Community, die sich um ein Ad-hoc-Netz aus Radioinfrastrukturen in Frankreich gebildet hat. Weiterentwickelt wurden die gemeinschaftlichen Live-Sendungen von fugitive radio im Rahmen von Residenzen beim Helsinki International Artist Programme (2022), bei Lanchonete.org (São Paulo, 2022) und an der Jan van Eyck Academie (JvE) (2022–23).
Auf einer Versammlung während der documenta fifteen hieß es, Netzradio sei eine Art von „Low-Bandwidth-Aktivismus“, der in einem weitgehend privatisierten und kommerzialisierten World Wide Web Raum für sich beansprucht. Auch wenn dies zutreffen mag, sieht fugitive radio die entscheidende Front nicht gegenüber öffentlichen Websites. „Kritisches Radio“8 manifestiert sich vielmehr in den Formen der Organisation, des Kompetenzaustauschs und des Community-Building, die neben der Produktion von Inhalten stattfinden. Hack-Labs und Live-Sendungen vereinfachen den Austausch, das gemeinsame Lernen und wecken Begeisterung für alternative Gemeinschaften. Derartige Zusammenkünfte erfolgen zwar oft unter der Prämisse einer freien und offenen (Open-Source-)Kultur und der Förderung digitaler Commons, doch ist die Mikropolitik experimenteller Radioaktivitäten vor allem von Geselligkeit geprägt.

Gegenkultur
In meiner Zeit an der Jan van Eyck Academie meinte Charles Esche, Direktor des Van Abbemuseum, die Hinwendung zu Audio in Ausstellungen sei eine Reaktion auf den „visuellen Schwerpunkt in der bildenden Kunst“. Esche zufolge überwindet der Klang in dem Bereich, der traditionell der bildenden Kunst vorbehalten ist, die Separierung der Sinne, wie sie während der Moderne vielfach erfolgte, und der unterschiedlichen Disziplinen, wie sie von Kunstakademien und Konservatorien definiert werden. Wenn Ausstellungen Radio in Erscheinung treten lassen, wie kann damit eine Kritik konventioneller ästhetischer, intellektueller und institutioneller Praktiken geleistet werden?
„Instagram ist mein Portfolio“, äußerte ein bildender Künstler mir gegenüber einmal. In den 1990er-Jahren wurde das World Wide Web zur grafischen Benutzeroberfläche für das Internet. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien Anfang der 2000er-Jahre, insbesondere von Facebook, Instagram und aktuell TikTok, scheint es, als handle es sich bei einem Großteil der Netzkultur standardmäßig um visuelle Kultur. 2022 traf ich mich mit Coletivo Digital, einer noch immer aktiven Gruppe aus Brasilien, wie es sie nur noch selten gibt. Sie erinnert an den Optimismus in den Anfangszeiten des World Wide Web und vertritt die Ansicht, dass sich die emanzipatorischen und experimentellen Kräfte der offenen Kulturbewegungen im Netzradio vereinigt hätten. Und tatsächlich betrachte ich die gegenwärtigen (Netz-)Radiopraktiken als Gegenkultur zu den herrschenden „Ohne-Bilder-ist-es-nicht-passiert“-Verhältnissen in den sozialen Medien.
Das Motto „Make friends not art“, das bei der Übernahme der documenta fifteen (2022), auch bekannt als „lumbung one“, durch das in Jakarta ansässige Kollektiv ruangrupa zum Mem wurde, betont den Wert der sozialen Aspekte des Kunstschaffens gegenüber den kommerziellen. Damit wurde Freundschaft politisiert, denn sie bestimmt, welchen Gemeinschaften, Praktiken und Themen die infrastrukturelle Macht der Kunst zum Durchbruch verhilft. Dies war insofern bemerkenswert, als die Veranstaltung durch Hinweise auf Antisemitismus sowie rassistische und transphobe Angriffe erschüttert wurde, was zu Zensur, dem Rückzug von Beiträgen und dem Rücktritt der documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann führte. Nichtsdestotrotz haben sich die Verbliebenen solidarisiert, und Initiativen wie Lumbung Radio laufen weiter. Zahlreiche Organisationen haben seither angeregt, von Lumbung, womit ursprünglich eine indonesische Reisscheune gemeint ist, zu lernen („Learning from Lumbung“) und so die Zusammenlegung und Umverteilung von Ressourcen unter interlokalen Netzwerken und kollektiver Planung in den Vordergrund zu rücken.9 Meiner Ansicht nach wäre es auch klug, vom Humboldt Forum zu lernen.

Normalisierung
Von den Plänen, die Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst in Berlin in einem architektonischen Monument unterzubringen, das an den preußischen Imperialismus erinnert, hörte ich zum ersten Mal auf der Konferenz Postcolonial Justice 2014 an der Universität Potsdam.10 Auf Podiumsdiskussionen über die Rückgabe sensibler Objekte erfuhr ich von der Initiative des in Tansania geborenen Mnyaka Sururu Mboro, der sich für die Rückgabe menschlicher Überreste aus diesen Sammlungen einsetzt. Im Juli 2017 erklärte Bénédicte Savoy, eine auf Restitution und Provenienz spezialisierte Kunsthistorikerin, mit der folgenden Begründung ihren Rücktritt aus dem Expertenbeirat des Humboldt Forums: „Die Architektur signalisiert, dass man Geschichte rückgängig machen kann. Doch den Leuten, die um Rückgabe gestohlener Objekte bitten, erklärt man, Geschichte lasse sich nicht rückgängig machen.“11
Nach Savoys spektakulärem Abgang entbrannte eine hitzige Debatte über das koloniale Erbe Deutschlands. Zu den Gruppen, die gegen das Forum protestierten, gehörten No Humboldt 21, Decolonize Berlin Alliance, Africa Avenir und Barazani. Die Coalition of Cultural Workers against the Humboldt Forum (CCWAH), eine Initiative Kulturschaffender, die 2020 gegründet wurde, wandte sich gegen die Krönung des mit öffentlichen Mitteln errichteten Gebäudes am Standort des ehemaligen Parlaments der DDR mit einem privat finanzierten goldenen Reichsapfel samt Kreuz. Angesichts einer Inschrift, die fordert, dass „die Lebenden und die Toten bedingungslos vor Jesus niederknien“, wehrte sich das Bündnis gegen die Untermauerung der christlichen Vorherrschaft durch das Forum.12
Nach einer Reihe gestaffelter Eröffnungsveranstaltungen wurde das Humboldt Forum am 20. Juli 2021 als Raum für Kritik und Debatte eröffnet, um die problematischen Sammlungen diskursiv aufzuarbeiten. Während die CCWAH verkündete, sich „nicht beteiligen“ zu wollen, erklärten sich andere zur Mitarbeit mit dem Forum bereit – ich vermute, weil prekäre Künstler*innen es sich nicht leisten können, ein bezahltes Engagement abzulehnen, insbesondere nicht Migrant*innen, deren Visa von solchen Verträgen abhängen. Und tatsächlich heißt das Forum kritische Sichtweisen auf seine Sammlung durch People of Color willkommen, deren Beteiligung die Mittel der Wissensproduktion des Forums bestätigt und so die Wirkung ihrer Kritik neutralisiert. Aktivist*innen haben sich beschwert, das Forum habe sich ihre Sprache, ihre Methoden des Community-Building angeeignet und bei den Denker*innen, auf die sie sich beziehen, Arbeiten in Auftrag gegeben. Auf großen Druck kündigte das Forum 2022 ein Restitutionsabkommen mit Nigeria für die Rückgabe von mehr als 1.000 Objekten an, darunter zwei wertvolle Benin-Bronzen. Neulich erzählte mir eine befreundete Person, sie habe an einem kostenlosen HipHop-Tanzkurs im Forum teilgenommen, womit sich zeigt, dass einige ursprünglich ablehnend eingestellte Künstler*innen ihre Beziehung zum Forum trotz eines Restunbehagens normalisiert haben.

Solidarität
Selbst in der progressiven Hauptstadt Berlin ist es mit der Solidarität zwischen den verschiedenen Kreativszenen so eine Sache. Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Texts hatte der Krieg zwischen Israel und Palästina die Stadt, in der große Gemeinschaften leben, die mit diesem Konflikt in Verbindung stehen, entzweit. Der Künstler und Radiomacher Nathan Gray spricht diesbezüglich von „der neuen Berliner Mauer“.
Im Januar 2024 schlug der Berliner Senat eine Antidiskriminierungsklausel als Bedingung für die Kulturförderung vor. Mit seinem Schwerpunkt auf Antisemitismus zulasten anderer Formen von Rassismus, wie Islamophobie und Anti-Blackness, wählte der Senat kontroverserweise eine Definitionsgrundlage, wie sie von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) unterstützt wird, und ergänzte diese durch eine Erweiterung, die einen Zusammenhang herstellt zwischen der Verfolgung jüdischer Menschen und der Kritik an Israel. Viele sind besorgt angesichts dieser versuchten Einschränkung der freien Meinungsäußerung und des künstlerischen Ausdrucks, während die Kriege weltweit eskalieren, und es sind vor allem Palästinenser*innen, die zum Schweigen gebracht werden. Während jüdische Zionismus-Kritiker*innen sich die Frage stellen, ob es sich um Antisemitismus handelt, wenn sie wegen ihres Protests gegen den Krieg von der deutschen Polizei festgenommen werden, weisen jene, die aus Ländern stammen, in denen es die Regel ist, Palästina zu unterstützen, auf die Scheinheiligkeit der dekolonialen Interessen deutscher Institutionen hin. In der Folge hat ein Aufruf zum „Deutschland-Boykott“ („Strike Germany“) an Zugkraft gewonnen. Er erinnert an die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionskampagnen gegen Israel, die der Bundestag 2019 für antisemitisch erklärt hat, und fordert den Staat auf, „die künstlerische Freiheit zu schützen“, „den Kampf gegen Antisemitismus in den Mittelpunkt zu rücken“ und „strukturellen Rassismus zu bekämpfen“13.
Als ich 2017 nach Berlin zog, waren die Kurator*innen, die ich kennenlernte, bemüht, ihre Praktiken zu politisieren. Jetzt geben einige von ihnen zu, bewusst zu schweigen, womit sie zu einem Klima der Selbstzensur und des Antagonismus beitragen, das an die Stasi-Zeit in Ostdeutschland oder die McCarthy-Ära in den Vereinigten Staaten erinnert. Welche alternativen Plattformen für eine kritische Debatte gibt es angesichts des dramatischen Rückgangs von Räumen, die mehrere Perspektiven zulassen?
Während die deutschen Mainstreammedien die uneingeschränkte Unterstützung des Staats Israel durch Deutschland wiedergeben, liefert eine Gruppe von Künstler*innen und Intellektuellen Gegenerzählungen. Learning Palestine etwa hat in Zusammenarbeit mit dem in Bethlehem ansässigen Radio Alhara bisher zwei zwölfstündige Radioprogramme unter dem Namen Until Liberation I & II zusammengestellt.14 Radio Alhara, benannt nach dem arabischen Wort für Nachbarschaft, wurde 2020 von einem Kreis aus Freund*innen gegründet, die sich während der Pandemie isoliert hatten. Die enge persönliche Abstimmung untereinander und die niedrigen Betriebskosten ermöglichten es dem Sender, jenseits der „Zwänge sozialer Medien und kontrollierter Netzwerkunternehmen“ tätig zu sein, und eine globalisierte Kulturgemeinschaft begrüßte ihn als Forum, in dem ansonsten vielfach zum Schweigen gebrachten palästinensischen Stimmen – und Musik – Gehör verschafft wird. Seit der Erstausstrahlung im Oktober 2023 wurde Until Liberation auf mehreren sympathisierenden Plattformen, darunter Lumbung Radio, erneut ausgestrahlt – ein Zeichen für die (infra-)strukturelle Solidarität der beteiligten Radios.

(Un-)Optisch
An der Jan van Eyck Academie habe ich gelernt, dass die Optik ein wesentlicher Aspekt des Ausstellungsmachens ist – Ausstellungen müssen unabhängig von der jeweiligen Absicht „professionell“ aussehen. Ich vermute, dass die Kritik an fugitive radio in derartigen Zusammenhängen eben wegen seiner geringen Sichtbarkeit erfolgt – schließlich gibt es nichts zu sehen! Aber wer hört zu? Meine Freund*innen und Kolleg*innen versichern mir, dass sie online mit dabei sind, aber meiner Voraussicht nach wird das Vermächtnis von fugitive radio in seinen Veröffentlichung bestehen; es produziert Podcasts und gibt Zines heraus, die eine Spur von kritischer Radiopraxis in der zeitgenössischen Kunst hinterlassen.
Ich habe einige Gemeinsamkeiten zwischen den Macher*innen von experimentellem Radio und unabhängigen Herausgeber*innen von Kunstbüchern festgestellt (fugitive radio war bei einigen entsprechenden Messen dabei, darunter Under The Leaf, Helsinki (2022), The Fabulous Books Are Bridges, Rotterdam (2023), und Miss Read, Berlin (2023)). Vor Kurzem habe ich einen Kurator für Bücher-Events getroffen, der ein Exemplar des Buchs Erasing Palestine (2023) von Rebecca Ruth Gould dabei hatte, das sich mit der IHRA befasst. Als ich ihn fragte, ob es klug wäre, in Berlin mit diesem Buch gesehen zu werden, lachte er und meinte, in einer Buchauslage wäre das kein Problem, „aber wenn es sich um eine Ausstellung handeln würde ...“ Seine Antwort deutet darauf hin, dass es Sichtbarkeitsebenen gibt, die jeweils einer unterschiedlichen Prüfung und Zensur unterliegen. Denn wer liest heute noch Bücher?
Könnte Radio als „unoptische“ Praxis die Funktionen von Kunstinstitutionen als Instrumente der Kommerzialisierung von Kreativität und Durchsetzung staatlicher Interessen modulieren? Durch die Zusammenarbeit mit Community-basierten Plattformen fördert fugitive radio alternative soziale Medien. Dabei wird das Radio nicht als Massenmedium betrachtet, sondern vielmehr als Katalysator für das Zusammentreffen zum Diskutieren, Experimentieren und Spielen. Lässt sich mit critical radio die autoritäre Aufsicht und der performative Druck sozialer Medien umgehen, denen die professionalisierte Kunst unterliegt, etwa indem es die diskursiven Impulse der institutionellen Kunst aufgreift und reaktionsfähige Mikromedien schafft, die durch Mund-zu-Mund-Propaganda beworben und von Hand zu Hand verteilt werden?

 

Übersetzt von Anja Schulte

 

[1] https://fugitive-radio.net/
[2] https://openradio.in/
[3] https://burn.pixelache.ac/
[4] https://fr-bb.org/
[5] https://www.helsinkiopenwaves.com/
[6] https://lumbungradio.org/
[7] https://p-node.org/
[8] Dieser Begriff wurde von Amanda Sarroff vorgeschlagen, Schreibberaterin an der Jan van Eyck Academie.
[9] Beispiele: Learning from lumbung Public Forum on documenta fifteen, 23.–24. Januar 2023, Jubilee, Brüssel; Lumbung Practice, Temporary Masters Programme, Sandberg Instituut, De Appel und Gudskul.
[10] Gesellschaft für Anglophone Postkoloniale Studien – Postcolonial Justice, 29. Mai bis 1. Juni 2014, Potsdam und Berlin.
[11] Expertin: Humboldt-Forum verschweigt Ursprung seiner Sammlungen, in: Monopol, 21. Juli 2017.
[12] Noëlle BuAbbud, Nightmare at the Museum: An Interview with Coalition of Cultural Workers Against the Humboldt Forum, in: Berlin Art Link, 5. Februar 2021.
[13] https://strikegermany.org/
[14] https://learningpalestine.net/