Heft 1/2024 - Netzteil
Jeder Krieg bedroht und zerstört auch Kulturgüter. Das zeigte sich etwa nach der ukrainischen Rückeroberung Chersons im November 2022: devastierte und vor allem leere Museen, Archive und Bibliotheken, auch durch den systematischen Raub von Kunstobjekten und anderen Artefakten durch die russische Besatzung.
Solch mögliches Los wollte der ukrainische Ingenieur Sergiy Lebedynskyy dem fotohistorischen Erbe seiner Geburtsstadt Charkiw ersparen. Die dortige informelle Schule der Fotografie zählt seit den 1960er-Jahren zu einer ebenso experimentierfreudigen wie subtil sowjetkritischen Spielart der Lichtbildnerei. Lebedynskyy, 2013 an der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus promoviert, lebt und arbeitet, gemeinsam mit seiner Frau, seit rund zehn Jahren in Wolfsburg. Er sei erst relativ spät zur Fotografie gekommen, sagt er, als er schon 28 Jahre alt war, versteht sich und seine fotografische Praxis als Teil einer jüngeren Generation der Charkiwer Schule. Seit gut fünf Jahren sieht er seine Aufgabe zudem in deren Erforschung sowie der Bewahrung ihrer Werke. Wäre alles planmäßig verlaufen, hätte Ende 2022 das von ihm initiierte Museum of Kharkiv School of Photography (MOKSOP) in der ostukrainischen Industrie-, Universitäts- und Kulturmetropole eröffnet, ein erstes Museum für Fotografie als moderne Kunst in diesem großen Land. Das Gebäude war hergerichtet, Beleuchtungssysteme aus Deutschland waren installiert, als Russland am 24. Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann.
So entschied sich Lebedynskyy wenige Wochen nach Kriegsbeginn, rund 5.000 Fotografien und über 70.000 Negative, zusammen fast 2.000 Kilogramm Material, aus Charkiw nach Wolfsburg und in Teilen nach Österreich zu evakuieren – als Rückfracht in den Transportern humanitärer Hilfe, mit finanzieller Unterstützung der niederländischen Prinz-Claus-Stiftung für Kultur und Entwicklung. Schnell erwies sich das häusliche Lager Lebedynskyys als unzureichend, das Kunstmuseum Wolfsburg bot im Herbst 2022 mit seinem professionellen Depot fachgerechte Abhilfe. Seitdem werden aus diesem Fundus immer wieder Ausstellungen organisiert, um die in Westeuropa noch unbekannte Fotografie und ihre Protagonist*innen im Kunstbetrieb zu verankern und in ihrer Eigenart vorzustellen. Der Berliner European Month of Photography im März 2023 stand am Beginn, im Sommer folgte ein Überblick in Nürnberg und vom Herbst bis in den Januar 2024 war im Kunstmuseum Wolfsburg mit Ukrainian Dreamers dann die erste institutionelle Ausstellung zur Charkiwer Schule in Deutschland zu sehen.
Die Fotoschule Charkiw umfasst mittlerweile mindestens vier Generationen und insgesamt etwa 40 Fotokünstler*innen. In zahlreichen, auch konkurrierenden Gruppen wurde sie zu einem lokalen, eigenständigen „Phänomen“, so Lebedynskyy – ein Kollektiv künstlerischen Denkens, keine Schule als ästhetische Doktrin oder offizielle Lehranstalt. Ihr Ursprung liegt in den Amateurfotoclubs der Sowjetzeit, in denen technisches Wissen und, ganz praktisch, rares Fotomaterial ausgetauscht wurde. Noch heute arbeiten viele Fotograf*innen gern auch mit veralteter analoger Technik, so wie Lebedynskyy in seiner 2010 gegründeten Gruppe Shilo: Gemeinsam mit Vladyslav Krasnoshchok schreibt er darin eine Tradition der „subjektiven Reportage“ der Fotoschule fort. Die beiden Bildautoren benutzen selbst hergestellten Entwickler und lang abgelaufenes sowjetisches Fotopapier. Das materielle Eigenleben soll so die vielen unkalkulierbaren Umbrüche der Ukraine widerspiegeln, die sie thematisch dokumentieren. 2013 war es die proeuropäische Maidan-Revolution, 2014 begann der von Russland entfesselte Krieg, und aktuell dominiert die weitere Eskalation von Gewalt und Zerstörung.
Die Bezeichnung „Charkiwer Schule der Fotografie“ wurde in den 1990er-Jahren von der Kunsthistorikerin Tetyana Pavlova geprägt. Ihr Ehemann Evgeniy Pavlov ist Gründungsmitglied der Gruppe Vremia (Die Zeit) und arbeitet seit den 1980er-Jahren mit der Montage heterogener Bildelemente, die er als kinematografische Erweiterung des linearen Mediums Fotografie ansieht. Jüngere Generationen wie der Zusammenschluss SOSka beziehen seit 2005 Video, Performance und Installation als moderne Ausdrucksmittel einer dynamischen Gesellschaft mit ein.
Es war nicht das plakative Aufbegehren und auch kein offensives Dissidententum, das die fotografische Bewegung als ihre Methode wählte, sondern die feine Verschiebung der Blickwinkel, der Sujets oder die Verfremdung fotografischer Techniken wie konventioneller Aufgaben. Bildergebnisse sind oft dunkel in der Stimmung und melancholisch im Ausdruck, reichen von der handwerklichen Collage – eine osteuropäische Traditionslinie, die von der surrealistischen Fotografie der 1930er-Jahre ausgeht – über die bewusste Falschbelichtung oder die Fehler geradezu provozierende Verwendung alten Materials bis zur nachträglichen Kolorierung der Positive. Und stets blitzt unübersehbar eine Prise Ironie durch, die wohl subtilste Waffe gegen jegliche Form staatlicher Regulierung.
Oft bildeten bezahlte Aufträge die Ausgangsbasis, wie die „Luriki“, umgangssprachlich die Bezeichnung für das Reproduzieren, Retuschieren und Nachkolorieren alter Fotografien gemäß Kundenwunsch. Daraus entwickelten sich eigene Bildfindungen. Gleich mehrere Fotograf*innen bedienen sich dieser Strategie, etwa Viktor und Sergiy Kochetov: Vater und Sohn dokumentierten in Schwarz-Weiß die ungeschönte Realität postsowjetischer Agrarlandschaften und griffen anschließend zum Farbpinsel, um einzig die typischen Kopftücher der Bäuerinnen in ein intensives Rot zu tauchen. Bald aber sahen sie keine Menschen mehr in ihrem Sucher, wie sie schrieben, sondern nur noch Luriki – lebende Luriki.
Meister dieser Bildfindung ist der mittlerweile 85-jährige, in Berlin lebende Boris Mikhailov, einer der wenigen der Charkiwer Schule, die international bekannt sind. 2011 würdigte ihn eine Einzelausstellung im Museum of Modern Art in New York, 2013 erhielt er den Spectrum-Preis für Fotografie im Sprengel Museum Hannover und 2015 den Goslarer Kaiserring, ohne dass er dabei explizit mit der Ukraine, geschweige denn der Charkiwer Schule der Fotografie in Verbindung gebracht worden wäre. Seine Sots Arts, stark kolorierte Aufnahmen aus den sowjetischen 1970ern etwa, kippen häufig ins Karikaturenhafte; und seine Projektionen von zwei übereinandergelegten Farbdias (Yesterday’s Sandwich) sind humorvolle Bildkommentare zu einer widerständigen Kulturtechnik, nämlich der, zwischen den Zeilen zu lesen.
Eine sehr freie Verwendung der Fotografie pflegen Daniil Revkovskiy und Andriy Rachinskiy. Ihre vierteilige Arbeit Tailings Dam. Engineer, etwa, erzählt eine fiktive Bildgeschichte rund um einen in Ungnade gefallenen Ingenieur während der großen Industrialisierungswelle der sowjetischen Zentralukraine um 1930. Das Duo montiert illustrierte Seiten aus historischen Ingenieurbüchern zu „Leinwänden“, ihrem Malgrund für spekulative konstruktivistische Industriekomplexe im Geiste eines Jakow Tschernichows. Mit flüssigem Kaffee verleihen sie ihnen ein braunrostiges Kolorit. Beide werden im Sommer mit drei weiteren Künstler*innen die Ukraine auf der 60. Venedig Biennale vertreten. Weaving the Nets, so das ukrainische Thema, bezieht sich auf das Knüpfen von Tarnnetzen, eine kollektive Aufgabe wie auch ein Element des zivilen Widerstands in der Ukraine. Zugleich ist dies auch eine Metapher für die überindividuelle Stärke eines gemeinsamen Bewusstseins und Handelns, die nicht nur die Charkiwer Schule der Fotografie prägt, sondern zur wichtigsten Bedingung für das Überleben des gesamten Landes geworden ist.
Ukrainian Dreamers. Charkiwer Schule der Fotografie, Kunstmuseum Wolfsburg, 13. Oktober 2023 bis 7. Januar 2024.