Heft 1/2024 - ArtGPT
7. Juni 1968, 20 Uhr, Hörsaal 1, Neues Institutsgebäude der Wiener Universität – dorthin lud der Sozialistische Österreichische Studentenbund zur Veranstaltung Kunst und Revolution. Der als Vortrag angekündigte Abend eskalierte. Als Kunstveranstaltung war sie der radikalste Beitrag zum Revolutionsjahr 1968 in Österreich. Ihre gesellschaftspolitische Dimension wurde durch die Tatsache grotesk unterstrichen, dass man dieses und andere Ereignisse des Wiener Aktionismus nicht auf den Kulturseiten, sondern auf den Gerichtsseiten der Tagespresse fand. Der Angriff auf die postfaschistische österreichische Nachkriegsgesellschaft war erfolgreich. In der ersten umfassenden Dokumentation dieser Kunstrichtung, Wien. Ein Bildkompendium des Wiener Aktionismus und Film (hg. v. Peter Weibel/VALIE EXPORT), 1970, wird der Ablauf dieses letzten gemeinsamen Auftritts des Wiener Aktionismus beschrieben: „peter jirak begann mit einem kurzen einleitungsreferat. die stimmung erreichte einen ersten höhepunkt, als otto muehl seine beschimpfung robert kennedy’s und der kennedy-familie verlas. zu programmiertem, tumultösem geschrei kam es bei peter weibels aktionsvortrag über finanzminister universitätsprofessor dr. koren. […] in den letzten minuten hatte sich brus bereits ausgezogen und stand nackt auf dem pult, als weibel dieses verließ. als oswald wiener über ein drahtloses mikrophon seinen vortrag hielt, schiß brus auf den boden des hörsaals, verschmierte sich den scheißdreck am leib, stach mit seinen fingern den ösophagus hinab, würgte, erbrach, sang zum scheißen die bundeshymne, onanierte – ein unerhörtes klima, augenblicke der panik und vernichtung, wo das bewußtsein zu kollabieren drohte, weil das gehirn die verarbeitung der ihm zugetanen informationen verweigerte, minutenlang, bis zu dem moment, wo muehl unprogrammgemäß mit seinen mitarbeitern aufs podium kam und ebenfalls seine aktionen begann.“ Wir sind in der Stadt Sigmund Freuds, Egon Schieles und Oskar Kokoschkas – psychische Effekte sichtbar gemacht am menschlichen Körper. „Das beste Bild der Seele ist der menschliche Körper.“ (Wittgenstein) Erst in den 1970er- bzw. 1980er-Jahren sollte sich durch die „Soziologie des Körpers“ (Gugutzer) ein wissenschaftliches Segment mit der sozialen, politischen und kulturellen Frage nach dem Körper intensiv beschäftigen. Was immer wir mit unserem Körper tun, wie wir mit ihm umgehen, wie wir ihn einsetzen, welche Einstellung wir zu ihm haben, wie wir ihn bewerten, empfinden und welche Bedeutung wir dem Körper zuschreiben, all das ist geprägt von der Gesellschaft und der Kultur, in der wir leben. Auch die aktuellen Fragen nach Identität und Diversität sowie nach der Anzahl der Geschlechter machen den Körper zum zentralen Schauplatz – „body turn“.
Am 10. Februar dieses Jahres verstarb Günter Brus in Graz, dem Ort, an dem er seit Ende der 1970er-Jahre, zurückgekehrt aus seinem Exil in Berlin, bis zu seinem Tod lebte und arbeitete. Mit der Flucht ins Ausland hatte er sich weiland der Strafverfolgung aufgrund der Ereignisse auf der Wiener Universität entzogen. In Graz, wo Brus nach seiner aktiven Zeit als Aktionskünstler sein zeichnerisches Werk zu einem monumentalen Œuvre weiterentwickelte, wurde dem Aktionisten, Maler, Zeichner, Dichter – dem Polyartisten – ein eigenes Museum eingerichtet. An die Neue Galerie Graz angeschlossen agiert das BRUSEUM seit seiner Gründung 2008 als Kompetenzzentrum und Ausstellungsplattform. Waren die Reaktionen nach der „Uniferkelei“ landesweit heftig und hatte man den Wiener Aktionismus kriminalisiert sowie seine Protagonisten außer Landes getrieben, muss man deren Stellenwert heute als den bedeutendsten Beitrag der österreichischen Kunstgeschichte nach 1945 akzeptieren.
Mit Günter Brus verstarb zugleich der letzte Wiener Aktionist. Brus war der konsequenteste unter ihnen. Seine Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, bestand von Beginn an. Sein Zweifel an den bestehenden Konventionen ließ ihn die Kunst als Ausdruck einer bürgerlich-konservativen Haltung innerhalb einer postfaschistischen Nachkriegsgesellschaft strikt ablehnen. In der „Selbstbemalung“, der Methode, mit der die Tendenzen des Informel vollendet wurden, bezog Brus erstmals den eigenen Körper ins Geschehen ein und bereitete damit den Weg zur Body Art. Er, der in der Folge fast ausschließlich und direkt mit seinem eigenen Körper arbeitete, wurde somit zum Begründer der Body Art. „SELBSTBEMALUNG = bewältigte SELBSTVERSTÜMMELUNG = unendlich ausgekostete SELBSTENTLEIBUNG“. (Brus) Für Brus war klar, dass sich die Malerei in der Konsequenz nicht mehr mit traditionellen Methoden realisieren lässt und dass der Ausstieg nur über den Körper des Künstlers zu bewerkstelligen ist. Während man andernorts noch Leinwände aufschlitzte, begriff Brus den eigenen Körper als Leinwand und schlitzte ihn auf. Das Blut zieht die Linie auf der Leinwandhaut. Der Stift – Brus ging stets von der Zeichnung aus – wurde ersetzt durch die Klinge und die Farbe durch die Körpersäfte. Die schwarze Linie, die er 1964 vom Tafelbild ausgehend über sich selbst zog, wird zur blutenden Linie im Fleisch – eine Bekundung der Linie als elementarer Teil der Zeichnung bzw. der Malerei. Für Brus war die Selbstzerstörung, die Konzentration auf den Körper und dessen Produkte gleichsam eine letzte Anstrengung des Lebens, letzte Versuche, trotz allem in der Todeszone zu überleben. Es war nur konsequent, dass er 1970 in seiner Aktion Zerreißprobe an ein Ende gelangte. In seiner radikalsten Performance unterwarf er den Körper einer physischen und psychischen Extremsituation, die nicht mehr steigerbar war, die sein Leben unausweichlich in reale Gefahr brachte.
In seinem Buch Irrwisch setzte Brus 1971 seine Überlegungen fort, nahm aber seinen Körper aus dem Geschehen heraus und entwickelte in der Folge ein unvergleichliches zeichnerisches Universum, das Wort und Bild in spezieller Weise verbindet. „Der Irrwisch ist nicht nur ein Resultat der extremen Spätaktionen, er ist zugleich auch eine Flucht gewesen, mich von den Aktionen wegzubewegen, weil ich dort keine Möglichkeit des Ausdrucks mehr gesehen habe. Mein Programm war so engstirnig und reduziert angelegt mit Selbstverletzungen, dass keine Kunst mehr zu machen war. Es hätte logischerweise zu fatalen Folgen geführt. Die Bild-Dichtungen waren also zugleich eine Möglichkeit, Abstand zu nehmen und meine Kunst zu erweitern.“ (Brus)
„Dass diese Welt mit ihren Wissenschaften, Heilanstalten und Drucksachen unsere Geisteskrankheit ist – weiß der Teufel, das macht die Kunst von Brus sichtbar“ (Wiener). Brus’ konsequente, auch in seinen Zeichnungen zum Ausdruck kommende Haltung gegenüber Kunst und Gesellschaft sind es auch, die ihn so aktuell machen und seine Radikalität herbeisehnen lassen.