Heft 1/2024 - Netzteil


Einzigartig generativ

Anmerkungen zu Lev Manovichs Entwurf einer KI-Ästhetik

Christian Höller


„Giant future 1965 modern airport in Siberia made from water and ice.“ Gibt man diese – zugegeben etwas widersprüchliche – Zeile in einen KI-Bildgenerator wie Midjourney ein, erhält man ein, man könnte sagen: klassisch retrofuturistisches Bild. Fügt man, wie es der Medientheoretiker und Künstler Lev Manovich gemacht hat, weitere Spezifika hinzu, etwa „painted on large wood panel by Hieronymus Bosch, [in] bright pastel colors with white highlights“, so entsteht das auf dieser Seite abgebildete „Capriccio“. So nennt Manovich eine von zahlreichen Bildserien, die er, seit diese Art von KI-Modellen vor etwa zwei Jahren auf die kreative Menschheit losgelassen wurde, in immer neuen Anläufen produziert. Es sind dies gleichsam Selbstversuche, die Manovich, der auch zuvor schon künstlerisch tätig war, im Zuge seines aktuellen Theorieprojekts gestartet hat: „AI Aesthetics“ oder auch „Artificial Aesthetics“1 – ein Ansatz, der die Grundzüge dessen erhellen soll, was die visuelle Kultur der Gegenwart in immer größerem Maße bestimmt. Es geht, kurz gesagt, um synthetische bzw. von neuronalen Netzwerken errechnete Bilder, oder, exemplarisch ausgedrückt, um „gigantische zukünftige sibirische Flughäfen aus dem Jahr 1965, gemalt von Hieronymus Bosch auf einer großen Holzplatte in hellen Pastellfarben mit weißen Akzenten“.
Die verquere Kombinatorik – futuristische Fantasien aus einer bestimmten Zeit im Stil eines weltbekannten Malers einer gänzlich anderen Epoche – deutet auf ein Grundelement der von Manovich entwickelten KI-Ästhetik hin: radikale Fragmentierung kultureller Versatzstücke, teils wild zusammengewürfelt oder besser: fusioniert, die jedoch, so sein Credo, zu „genuinely new cultural artifacts with previously unseen content, aesthetics, or styles“2 führen würden. Weit entfernt also von jedem kulturpessimistischen Anflug, wonach die Machwerke der KI-Bildgeneratoren nichts anderes seien als blindlings rekombinierter Kulturschrott, wird hier das genaue Gegenteil insinuiert: nämlich dass der Prozess der Rekombination, der heute zumeist von GANs (generative adversarial networks) aufgrund statistischer Regularitäten bewerkstelligt wird, tatsächlich auch neue Arten von künstlerischen Objekten hervorbringen würde. Dass, wie Manovich an anderer Stelle ausführt, die „ästhetische Diversität“ gegenwärtiger Kulturproduktion im Zuge von KI markant gesteigert würde3 – ungeachtet aller Unkenrufe, dass der ungezügelte Einsatz der betreffenden Tools und Modelle in nichts anderem als einem überquellenden, ja erstickenden Einheitsbrei resultieren würde. Wobei, um das meistgenannte Schreckensmoment hier ebenfalls anzuführen, zu allem Überfluss auch noch die menschlichen Produzent*innen obsolet würden.
Manovichs Augenmerk gilt indessen dem „genuin Neuen“ nicht in lebenspraktischer, sondern vorrangig ästhetischer Hinsicht. Hier, so viel an Relativierung gestattet sich der versierte Medientheoretiker und -historiker, sei die KI-Kunst zunächst in eine genealogische Reihe mit anderen Arten von „Datenbankkunst“ zu stellen. Die historischen Vorläufer reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück, Stichwort Collage- bzw. Montageästhetik, und ein wenig wirkt es, als wolle Manovich Walter Benjamins Allegoriebegriff – das konfrontative Zusammenführen fragmentarischer Bauteile, um einen geschichtlich-politischen Bruch zu markieren – in die digitale Gegenwart überführen. Generative, sprich mit KI-Tools operierende Medien seien im Unterschied zu Fotocollage, Net Art und postmoderner Kunst jedoch in der Lage, nicht bloß in einen Dialog mit der Vergangenheit zu treten, sondern diesen auch in Richtung zukünftiger Potenzialitäten zu „expandieren“. Gut trainierte KI-Modelle könnten nicht bloß die „DNA“ einer bestimmten künstlerischen Praxis extrahieren, sondern diese auch in kommende, bislang noch nicht realisierte Manifestationen einschleusen. Wie eben die Hieronymus-Bosch-DNA in architektonische Fantasien nicht-existenter sibirischer Weltraumflughäfen.
Dass „das Neue“ stets einer Reinterpretation bzw. modifizierenden Replikation von bereits Existierendem geschuldet ist, stellt Manovich ebenso wenig in Abrede, wie er umgekehrt das Distinktive von generativer KI-Kunst herausstreicht. Am Beispiel von Künstlern wie Refik Anadol und Lev Pereulkov (bzw. sich selbst) legt er dar, dass es mithilfe von KI möglich sei, immer „differentere“, letztlich alle Muster und statistischen Regelmäßigkeiten der zugrunde liegenden Datenbanksätze hinter sich lassende Neukreationen zu fabrizieren: „The trained net […] generates new images that share the same patterns but don’t look like any specific paintings. Throughout the course of the animation, we travel through the space of these patterns […], exploring various regions of the universe of contemporary art.“4 Die Muster, die ein GAN oder „konvolutionales“ Netzwerk erkennt, werden also nicht bloß stupide reproduziert, sondern lassen sich – sofern sie von hinreichend sensiblen Prompts gesteuert werden – auf produktive Weise durchkreuzen. Soll heißen: Die künstlerische Handschrift lässt sich in die Arbeit des neuronalen Netzes selber hineintransferieren, so dass „Vorurteile und Störgeräusche“ („biases and noise“), die vielfach beim Prozessieren der Trainingsdaten mitschwingen, überwunden bzw. minimiert werden können.
Was für ein Traum! Hatte Manovich an anderer Stelle noch die Wichtigkeit von „unsupervised machine learning“ hervorgehoben, um zu möglichst differenziellen, nicht von vorgegebenen „Typen“ bestimmten Ergebnissen zu kommen,5 so finden sich die neuen KI-Künstleringenieur*innen nunmehr selbst in der Rolle eines höheren „Supervisors“ wieder: jener Weichensteller*innen bzw. Feinabstimmer*innen, die dafür sorgen, dass die generierten Bilder über das statistisch Ermittelte bzw. (in einem nicht nur rechnerischen Sinn verstandene) Durchschnittliche hinausgehen. Denn darin sieht Manovich aktuell die größte Gefahr: „AI frequently generates new media artifacts that are more stereotypical or idealized than what we intended.“6. Um dem entgegenzuwirken, sprich dem Einzigartig-Distinktiven im kreativen Prozess seinen gebührenden Platz einzuräumen, braucht es nach wie vor eine starke, hinreichend sensitive wie eigensinnige künstlerische Hand. Dem würde auf „Ingenieursseite“ wohl eine modifizierte Art von neuronalem Netz entsprechen, die dem Singulären, Nicht-Frequenten und Nicht-Generischen eine ungleich tragendere Funktion zuerkennt, als dies in der Architektonik aktueller Modelle vorgesehen ist. Beide Stellgrößen – humane Akteur*innen und Netzwerkarchitektur – sind somit weiterhin und vielleicht stärker denn je kooperativ aufeinander angewiesen. Wahre Generativität lässt sich nur in einer Art Gleichschritt der beiden, wenngleich holprig und bisweilen disjunktiv, vorantreiben.
Bis es so weit ist, bis das „Distinkt-Generative“ künstlerische Form annimmt, braucht es noch viele Testläufe und damit einhergehend Theorieansätze wie jene von Manovich. Seine utopischen sibirischen Flughäfen und monumentalen Brachen „nach einem langen Krieg“ (siehe Bild links) mögen den Weg dorthin weisen.

 

 

[1] Lev Manovich, AI Aesthetics. Strelka Press 2019; http://manovich.net/index.php/projects/ai-aesthetics sowie Lev Manovich/Emanuele Arielli, Artificial Aesthetics. A Critical Guide to AI, Media and Design (2023); http://manovich.net/index.php/projects/artificial-aesthetics.
[2] Lev Manovich, Seven Arguments about AI Images and Generative Media, in: Manovich/Arielli, Artificial Aesthetics, Kapitel 5; http://manovich.net/content/04-projects/168-artificial-aesthetics/lev-manovich-ai-aesthetics-chapter-5.pdf, S. 6.
[3] Manovich, AI Aesthetics, Abschnitt „AI and Aesthetic Diversity“, o. S.
[4] Manovich, Seven Arguments, S. 10.
[5] Manovich, AI Aesthetics, Abschnitt „Seeing Differences“, o. S.
[6] Manovich, Seven Arguments, S. 20.